Vorworte

Aufsteiger auf Höllenfahrt

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
01.09.2022. Darf die das? Die eine Hand nach Dante recken, mit der anderen die Elite der eigenen, afroamerikanischen Community in dessen "Inferno" schubsen? O ja. Es gibt nur eine Frage, die sich beim Lesen von Gloria Naylors Roman "Linden Hills" wirklich aufdrängt: Warum wurde dieses prächtig eigensinnige Buch erst jetzt ins Deutsche gebracht?
In loser Folge stellt Angela Schader wichtige Neuerscheinungen vor - immer einige Zeit, bevor sie herauskommen." D.Red.

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Gloria Naylor, Foto: Tom Keller
Sie hat sich die Latte hoch gelegt, gleich von Anfang an. Schon während sie an ihrem ersten Roman arbeitete, fasste Gloria Naylor eine Tetralogie ins Auge; dabei war sie damals noch fern davon, sich Schriftstellerin zu nennen. Das erlaubte sie sich erst, nachdem der Erstling mit einem National Book Award ausgezeichnet worden und ihr zweites Werk - das übrigens auf keinen Geringeren als Dante zurückgreift - erschienen war. Dieses Buch, "Linden Hills", legt nun der Unionsverlag erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Die Wertschätzung für die Literatur hatte die afroamerikanische Schriftstellerin von ihrer Mutter geerbt. Diese wuchs in Mississippi in einer armen Pächterfamilie auf; weil Schwarzen in den segregierten Südstaaten der Zugang zu Bibliotheken verwehrt war, arbeitete sie als junge Frau auch am Samstag auf dem Feld, für einen Tageslohn von 50 Cent. Ende Monat reichte das Geld dann für die nächste Bestellung beim Buchclub. Die Mutter war es auch, die darauf bestand, vor der Geburt ihres ersten Kindes in den liberaleren Norden zu ziehen: Als älteste von drei Töchtern wurde Gloria im Januar 1950 in New York geboren.

Die Rassenschranken waren auch dort spürbar. Als die Familie von Harlem ins mittelständische Queens umzog, so erzählt Naylor 1988 im Interview mit Matteo Binelli*, "wurde mir erstmals klar, dass ich anders war und dass Anderssein etwas Negatives war". Aber das ließen die Eltern nicht so stehen. Sie dürften ihr Selbstwertgefühl nicht in der Welt ringsum suchen, schärften sie den drei Mädchen ein: "Ihr müsst nach innen schauen. Ihr könnt tun, was immer ihr wollt. Einzig ihr selbst setzt eure Grenzen." Worte, die um so wichtiger waren, weil von außen die klare Botschaft kam: "Als schwarze Frau bist du nichts."

Wie brüchig der Boden war, den sich die Afroamerikaner mittels der Bürgerrechtsbewegung erkämpft hatten, erfuhr die Heranwachsende mit achtzehn Jahren. Die Ermordung Martin Luther Kings erschütterte sie zutiefst - und stärkte zugleich ihren Widerstandsgeist. Wenn in Amerika sogar eine moderate, versöhnliche Stimme wie diejenige Kings blutig zum Schweigen gebracht wurde, dann musste ein neues System her, und zwar gleich das Reich Gottes. Sieben Jahre lang predigte und missionierte Gloria Naylor für die Zeugen Jehovas, bevor sie diese Hoffnung aufgab und sich der Literatur zuwandte. Nach einem Studium am Brooklyn College machte sie 1983 ihren Abschluss in African American Studies und Women's Studies an der Yale University.

Selber zu schreiben - das machte sie zunächst kopfscheu. Als ein Freund sie kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag fragte, ob sie ihn heiraten wolle, sagte sie ja. "Was habe ich denn bis jetzt mit meinem Leben angefangen? Besser gebe ich mir einen Schubs und heirate", habe sie sich gesagt, erzählt Naylor später ihrer Schriftstellerkollegin Toni Morrison. Aber eigentlich sei Angst der Grund für den Entscheid gewesen. Angst vor dem Lebenstraum, Schriftstellerin zu werden - weil der gerade damals ins Reich des Möglichen zu rücken schien. Kurz zuvor hatte sie eine Erzählung ans Frauenmagazin Essence geschickt, die Reaktion der Herausgeberin war knapp und klar gewesen: "Sister, wenn du irgendwas tun willst, dann das: weiterschreiben."

Daran hatte auch Morrison ihren Anteil. Während ihres Studiums hatte Gloria Naylor zu spüren bekommen, dass die Werke afroamerikanischer Autoren kaum je als Literatur wahr- und ernstgenommen, sondern vielmehr als "race work" oder "protest work" rubriziert wurden. Und vor allem sei sie - "als junge schwarze Frau, die darum rang, ein Spiegelbild ihres Wertes innerhalb dieser Gesellschaft zu finden" - nie einem Buch begegnet, das ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle reflektierte. Bis sie Toni Morrisons "The Bluest Eye" in die Hände bekam. Über das Inhaltliche hinaus zeigte ihr der Roman, dass es möglich war, eine eigene Sprache zu entwickeln, "so durchgeformt und ausdrucksstark, dass sie zum Lied wurde".

Naylors Ehe soll dann gerade zehn Tage gedauert haben; der Rest ihres Lebens gehörte der Literatur. Die Tetralogie, deren Bände durch einzelne Figuren lose verbunden sind, nahm Gestalt an: Auf das 1982 erschienene Erstlingswerk "The Women of Brewster Place" folgte nach drei Jahren "Linden Hills", nochmals drei Jahre später "Mama Day" und 1992 "Bailey's Café". Die beiden letztgenannten Romane sind unter denselben Titeln auf Deutsch bei Hanser erschienen, aber mittlerweile vergriffen.

Die konzentrische Anlage, die der Autorin für die vier Bücher vorgeschwebt hatte, lässt sich noch ungefähr ausmachen. Brewster Place ist eine heruntergekommene Sackgasse, Linden Hills ein von arrivierten Afroamerikanern besiedeltes Quartier in derselben, namenlos bleibenden Stadt. "Mama Day" misst größere Distanzen aus, spielt teils in New York und teils auf der fiktiven, zwischen South Carolina und Georgia vor Amerikas Ostküste gelegenen Insel Willow Springs. Wo die beiden ersten Romane vor allem auf gesellschaftliche Milieus fokussierten, bettet die Schriftstellerin die tragische Liebesgeschichte im Zentrum dieses dritten Werks in eine farbenreiche Auseinandersetzung mit dem Magischen und Übernatürlichen. Solche Praktiken, oft mit traditioneller Heilkunst verbunden, hatten ihre Eltern im Süden noch miterlebt; Naylor recherchierte sie aufwendig, bevor sie sich ans Schreiben machte, war jedoch darauf bedacht, ihre Darstellung im Gleichgewicht zu halten: Der im Übersinnlichen ebenso wie im robusten ländlichen Alltag verwurzelten Titelfigur setzt sie mit dem willensstarken jungen Ingenieur George Andrews einen adäquaten rationalistischen Widerpart entgegen. "Bailey's Café" schließlich steht mit seiner Reihe eindringlicher, mehrheitlich Frauen gewidmeter Porträts in direkter Nachfolge der "Women of Brewster Place", ist aber aus jeder lokalen Verankerung gerissen. Das Café ist ein schwebender, von Jazz und Blues durchwehter Ort, überall und nirgends zu finden; seine Tür öffnet sich allein jenen, die sich - wo auch immer - mit letzter Mühe "am Rand der Welt" festklammern.

1999 ergänzte Naylor die Werkgruppe mit "The Men of Brewster Place", das als direktes Gegenstück zum Erstling eine Klammer um das Œuvre setzte. Weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit blieb glücklicherweise die 2005 publizierte, durch paranoide Züge und antisemitische Untertöne irritierende Autofiktion "1996" - eine befremdliche Coda, mit der die Autorin wissentlich ihren Ruf aufs Spiel setzte.

Ihre übrigen Werke aber lohnen die Lektüre, und erfreulicherweise hat der Unionsverlag neben "Linden Hills" auch die 1996 von Sibylle Koch-Grünberg besorgte Übersetzung von Gloria Naylors gefeiertem Debütroman ins Programm genommen. "Die Frauen von Brewster Place" erweist sich als ungleich mehr denn das "Spiegelbild", nach dem Naylor bei ihren Lektüren so lange umsonst gesucht hatte; es ist ein weit gestecktes gesellschaftliches Panoptikum, dessen emotionales Register von Witz und Intimität bis zu schwer erträglicher Brutalität reicht. Dabei ist der örtliche Rahmen eng gesteckt: Brewster Place, einst als gutbürgerliche Wohnstraße erbaut, wird später durch eine Backsteinmauer von den Verkehrs- und Lebensadern der Stadt abgetrennt. Damit beginnt der soziale Niedergang. Auf die ursprünglich dort ansässigen Iren folgen italienische Immigranten, dann arme, aus den Südstaaten zugewanderte Schwarze, die keine Aussicht haben, die verlotternden Mehrfamilienhäuser irgendwann gegen etwas Besseres einzutauschen. Die Perspektiven in Brewster Place buchstabiert das Englische noch deutlicher aus: eine Sackgasse heißt dort dead-end street.

Aber Gloria Naylor plante mitnichten, eine Parade von Klageweibern vor dem vermauerten Horizont aufmarschieren zu lassen. Sie betrachte ihre Protagonistinnen nicht als Opfer, sagt sie 1993 im Gespräch mit Virginia Fowler, vielmehr habe sie in jedem dieser Leben einen - wenn auch winzigen - Sieg gesehen. "Für mich ist ein Opfer jemand, auf dem man herumtrampelt, immer wieder herumtrampelt, und der oder die glaubt, dass das so auch richtig ist. Opfer wehren sich nicht. Sie leisten keinen Widerstand. Aber so, wie ich meine Figuren sehe (…), leisten sie immer irgendwie Widerstand, noch wenn er lediglich darin besteht, sich in den Wahnsinn zu flüchten."

Mit Etta Mae Johnson jedoch beherbergt Brewster Place sogar eine eigentliche Diva der Resilienz. Stilecht schon ihre Ankunft: Im Cadillac, den sie ihrem letzten, schnöden Lover abserviert hat, rauscht Etta Mae an, lüpft als erstes einen Stapel Billie-Holiday-Platten aus dem Wagen - sie hat früh gelernt, das Lebensleid an die Musik zu delegieren. Aber wie kommt diese Frau, die den Wettlauf mit den fortschreitenden Jahren in knapp und kess geschnittenen Kleidern wagt, überhaupt in die Sackgasse? Und was führt sie dort zu Mattie, ihrer Jugendfreundin, die wesentlich mehr verloren hat als nur eine Reihe von Liebhabern? Die Geschichten dieser beiden Frauen, die an der Schwelle zum Alter wieder zusammenfinden, eröffnen den Band, und Naylor nimmt sie, so feinfühlig wie formbewusst, in der letzten Story nochmals auf.

Deren Protagonistinnen, Theresa und Lorraine, gehören einer jüngeren Generation an, wollen eine Beziehung, die mehr als nur freundschaftlich ist; doch dafür ist die Zeit nicht reif. Die bloße Vorstellung dessen, was sich zwischen den beiden abspielt, mobilisiert die bösen Zungen im Quartier. Nur Mattie und Etta ergreifen Partei für die Neuzuzüglerinnen - und wunderbar ist der plötzlich leise genierte Blick, den die beiden alten Freundinnen in einer dieser Szenen wechseln. Theresa, dunkel und sexy, schreitet derweil trotzig erhobenen Hauptes durch Brewster Place, schüttelt die Männerblicke ab, die an ihr kleben bleiben. Aber nicht sie ist es, sondern die unscheinbare, um Anpassung bemühte Lorraine, die dann von einer Bande junger Tunichtgute mit letzter Rohheit vergewaltigt wird.

Dass zahlreiche Leserinnen sie auf das negative Männerbild im Roman ansprachen, hat Gloria Naylor irritiert. "Wenn immer wieder Frauen aufstehen und mich fragen: 'Wo sind die Männer in diesem Buch?', dann mache ich mir schon Gedanken darüber, wie Frauen eigentlich sozialisiert werden." Allerdings revidierte die Schriftstellerin mit der Zeit ihre prononciert feministische Position, gestand sich schließlich ein, dass Frauen nicht a priori bessere Menschen sind; und ein Saatkorn dafür ist schon im Erstling angelegt. Mattie, ausgerechnet die stärkste und liebenswerteste der dort auftretenden Heldinnen, hat ihren Sohn Basil derart verwöhnt und verzogen, dass er später ihr Leben ruiniert. Er wird dann - wie Eugene, an dessen unerklärlicher Sprunghaftigkeit eine Ehe fatal zerbricht, wie Lorraines Vergewaltiger oder der aalglatte Prediger Moreland T. Woods, wie Ben, der nachdenkliche, daueralkoholisierte Hauswart der Wohnstraße - im noch nicht auf Deutsch übersetzten Komplementärband "The Men of Brewster Place" ausführlicher zu Wort kommen.

Jung und selbstbewusst wie Theresa ist auch Kiswana Brown, die als einzige der Frauen von Brewster Place nicht notgedrungen, sondern aus freien Stücken dort lebt. Sozial engagiert und im Stillen daran leidend, dass man ihr die afrikanische Abkunft nicht auf den ersten Blick ansieht, versucht sie, Gemeinsinn und Kampfgeist in den Unterprivilegierten zu wecken; sie selbst stammt aus Linden Hills, dem schwarzen Nobelquartier der Stadt, und schlägt damit eine Brücke zum Folgeroman.

Auch "Linden Hills" ist eine Art soziales Stationendrama, jedoch anders angelegt als die aus Einzelporträts komponierten Brewster-Romane. Als Modell für den ambitionierten Entwurf diente Dantes "Inferno", in Naylors Höllenkreisen begegnen wir denjenigen, die ihre dunkle Haut um des gesellschaftlichen Aufstiegs willen verkauft haben; eines Aufstiegs, der in der verkehrten Welt von Linden Hills zugleich Abstieg ist. Denn hier sind die Wohnlagen zuoberst am Hügel den Neureichen vorbehalten, während das wirklich schwere Geld talwärts wandert.

Höllenfürst und Spiritus Rector ist Luther Nedeed - der vierte seines Geschlechts, an Namen und wenig einnehmendem Aussehen seinen Vorvätern gleich. Der erste Luther, aus den Südstaaten eingewandert, hat 1820 das V-förmige, ungünstig am Hang gelegene Grundstück namens Linden Hills erworben, dessen Spitze unten in den Friedhof des umliegenden Wayne County mündet. In diesem unwirtlichen Zipfel nahm er Wohnsitz, eröffnete ein Bestattungsunternehmen und ließ derweil am oberen, breiten Saum des Terrains einfache Hütten errichten, die er an Schwarze vermietete. Sein Sohn überbaute dann das ganze Gelände und zog einen Wassergraben ums eigene Domizil, denn mit seinen Mietern wollte er nichts gemein haben außer der Hautfarbe. Die aber war von Bedeutung: Das schwarze Linden Hills sollte "ein Fleck auf dem gebleichten Laken" des weißen Amerika sein. Luther dem Dritten reichte das nicht mehr. In einer Nation, wo Erfolgssucht und Materialismus zunehmend das Zepter führten, "musste Linden Hills ein Schaukasten werden. Er musste es in ein Juwel verwandeln - ein Ebenholz-Juwel, das die Seele von Wayne County widerspiegelte, aber schwarz widerspiegelte." Tönt nobel, ist aber recht teuflisch erdacht - denn nach Luthers Absicht sollte dieser Glanz einer in Linden Hills residierenden schwarzen Aufsteigerklasse nicht mehr sein als "Licht von einem Hügel voller Marionetten", deren Fäden die Nedeed-Dynastie zieht. So lauern im Konzept bereits die Zerfallserscheinungen, deren Zeuge der vierte Luther, und mit ihm die Leser des Romans, werden.

Als Führer durch Naylors Inferno amten zwei junge Afroamerikaner, Lester und Willie, Schulfreunde und zudem durch ihre verschämte Liebe zur Lyrik verbunden. Willie, außerhalb von Linden Hills in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist der Dante des Paars, als Vergil fungiert Lester, dessen Familie an der obersten Straße von Linden Hills, dem First Crescent Drive, wohnt. Die quer durch das sich verjüngende Grundstück verlaufenden Straßen gruppiert Naylor entsprechend dem Dante'schen Modell: Vom First bis zum Fifth Crescent Drive erstrecken sich die ersten fünf Höllenkreise, dann symbolisieren zwei Backsteinsäulen die roten Türme der Stadt Dis, durch deren Tore man zu den übrigen Kreisen gelangt; im neunten und untersten sitzt der Höllenherrscher Luzifer im ewigen Eis gefangen.

Zu Beginn placiert Naylor einen prominenten, aber eher schief geratenen Verweis auf Dantes "Inferno", indem über dem Tor der Highschool, die Lester und Willie besuchten, die ersten Terzinen des dritten Canto in einer ins Positive verdrehten Form zu lesen sind. Beim Gang durch die Höllenkreise werden die Bezüge dann wesentlich freier gehandhabt. So ist die "verbotene" - nämlich homosexuelle - Liebe, die der am Second Crescent Drive wohnhafte Winston Alcott um der gesellschaftlichen Konvention willen verrät, ein Echo auf das Schicksal von Paolo und Francesca, denen Dante und Vergil im zweiten Kreis der Hölle begegnen. Im dritten Kreis büßt bei Dante, wer sich der Völlerei hingab; Naylor umspielt die Obsession mit dem Essen auf vielfältige Weise, die von der Metaphorik bis zu den Charakterbildern der mit ihrem Übergewicht ringenden Roxanne und eines fanatisch mit der Reinheit seiner Nahrung und seiner Ausscheidungen befassten Karrieremanns reicht. Wo Dante im vierten Höllenkreis Geizige und Verschwender endlos gegeneinander anrennen lässt, zetert die schwarze Elite von Linden Hills am Fourth Crescent Drive über die in bedrohlicher Nähe geplante Sozialsiedlung - Herzensgeiz und stolze Üppigkeit wohnen in der gekonnt inszenierten Szene in derselben Brust. Auch den am sozialen Aufstieg bereits gescheiterten Geistlichen, der sich in der folgenden Episode ein letztes Mal gegen sein Versagen aufbäumt, könnte man allenfalls als Personalunion der Missmutigen und Zornigen sehen, die den stinkenden Sumpf im fünften Zirkel der Dante'schen Hölle bevölkern.

Bezüge zum ersten wie zum sechsten Höllenkreis sind bei Naylor kaum auszumachen. Dicht beim Originaltext ist dagegen das Gegenstück des siebten, wo Dante nebst anderen Leidensstätten auch den "Wald der Selbstmörder" schildert. In "Linden Hills" ist es die von den eigenen Erfolgsansprüchen gejagte Laurel, die auf schreckliche Art den Tod sucht; flankiert wird ihre Geschichte von weiteren Frauenfiguren, die sich physisch oder bildlich selbst auslöschen. Und souverän nimmt die Schriftstellerin die Hürde des achten Kreises. Dieser umfasst im "Inferno" gleich zehn Unterabteilungen, in denen sich Missetäter verschiedenster Art tummeln. Statt nun eine Schar von Sündern vorzuführen, setzt Naylor eine einzige, obendrein positive Figur ein - den Historiker Braithwaite, der seit Jahrzehnten die Geschichte von Linden Hills festhält. Schmeichler und Heuchler, korrupte Politiker und Diebe, Ehrgeizlinge, die persönliche Integrität und gesellschaftlichen Zusammenhalt untergraben - wer immer in Dantes zehn Malebolge büßt, kommt wohl auch in dieser Chronik vor.
 
Auch die religiöse Dimension der "Göttlichen Komödie" klingt im Roman an - freilich verzerrt und sich in schauerlicher Dissonanz auflösend. Die Handlung von "Linden Hills" überspannt die Tage vom 19. bis zum 24. Dezember, an Heiligabend sind wir zu Gast in Luther Nedeeds Haus; vom vereisten Wassergraben umfangen, ist es ein Nachbild des neunten, von Satan besetzten Höllenkreises. Darunter aber zieht die Autorin noch einen Kellerraum ein, in dem sich vollzieht, was man als kühne Variation aufs christliche Heilsgeschehen lesen könnte. Ein Kleinkind stirbt - Luthers Kind. Eine Frau aufersteht aus dem Felsengrab der Verzweiflung - Luthers Frau, vom Ehemann mitsamt ihrem Baby in das unterirdische Gelass verbannt, wo sie in einem schmerzhaften Prozess zu sich selber findet. Am Ende aber trägt der Ort den Sieg davon. Unglücklich wiedervereint und unlöslich ineinander verklammert, wird die heillose Familie zugrunde gehen - ein Abbild von Dantes dreigesichtigem Luzifer.

* Die Gesprächszitate und Selbstzeugnisse im Text stammen aus dem von Maxine Lavon Montgomery edierten und bei der University of Mississippi Press erschienenen Band "Conversations with Gloria Naylor".

Gloria Naylor: Die Frauen von Brewster Place.
Roman.
Aus dem Englischen von Sibylle Koch-Grünberg. Unionsverlag, Zürich 2022. 256 Seiten, Broschur, 14 Euro.

Erscheint am 12. September 2022

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Gloria Naylor: Linden Hills.
Roman.
Aus dem Englischen von Angelika Kaps. Unionsverlag, Zürich 2022. 394 Seiten, gebunden, 26 Euro.

Erscheint am 12. September 2022

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