Vorworte

"Es ist nicht wichtig, ob ich zornig bin"

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
07.06.2021. Die Mutter ein Reptil von eigenen Gnaden, der Vater ein karibischer "hollow man" - Jamaica Kincaid geht bei der literarischen Inszenierung ihrer Familiengeschichte eigene Wege. Aber sie kann auch das Politische: Das beweist das schmale, ihrer Heimat Antigua gewidmete Buch "Nur eine kleine Insel". Wir stellen die Schriftstellerin vor und bringen eine Leseprobe aus dem Buch, das am 17. Juni erscheint. (Jamaica Kincaid, Gotheborg 2019, Foto von Sofie Sigrinn, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Badeurlaub unter Palmen ist derzeit noch nicht angesagt. Auch wenn die Sandstrände auf Antigua mit samtiger Weiße locken, das Meer in einer Sinfonie klarer Blautöne leuchtet. 2021 wäre also ein ideales Jahr, um sich stattdessen von Jamaica Kincaid dorthin entführen zu lassen. Denn die 1949 auf der Karibikinsel geborene Schriftstellerin kennt sich bestens aus - und nimmt den neugierigen Touristen auf eine Art bei der Hand, die er so wohl nicht erwartet hat.

"Nur eine kleine Insel" heißt das im Original 1988 erschienene Buch, das demnächst beim Kampa Verlag neu aufgelegt wird. Kincaid empfängt darin den Neuankömmling gleich am Flughafen, gönnt ihm den wohlfeilen kleinen Sieg über den einheimischen Taxifahrer, der sich nicht an die geltende Tarifordnung halten wollte - und macht den Gast anschließend genauso systematisch und grimmig lächelnd zu Kleinholz wie die exotische Idylle, die er zu betreten wähnt.

Denn Kincaid sieht den Tourismus wie auch die politischen und sozialen Missstände auf der Insel vorab als Verlängerungen der Kolonialherrschaft. Ach, könnte man abwehren, das alte blame game, die bewährte Strategie der an der Unabhängigkeit Gescheiterten, sich um Eigenverantwortung zu drücken und alle Schuld den einstigen Unterdrückern anzulasten. Ja, es gibt im Text einzelne Stellen, wo diese Kritik stechen mag. Aber sie werden überstrahlt vom Witz und der argumentativen Schärfe der Autorin, von Beobachtungen und Gedanken, die auf überraschende und hintersinnige Art ins Herz der Sache zielen; dank diesen Qualitäten lohnt sich die Lektüre auch gut dreißig Jahre nach der Erstpublikation des Buches.

Trotzdem zeitigte es seinerzeit ungehaltene Reaktionen. Die Rezension in der New York Times etwa habe sich weitgehend auf die Klage "Oh, es ist so zornig" beschränkt, erinnert sich Kincaid 2013 im Interview mit dem Magazin Guernica, und das Etikett "zornig" sei an ihr haften geblieben. "Ich hätte nichts dagegen, dass man mich als 'zornig' bezeichnet", kommentiert die Schriftstellerin, "wenn das Wort nicht - einmal mehr - als Verunglimpfung und Herabsetzung verwendet worden wäre."

Bleibenden Schaden scheint es allerdings nicht angerichtet zu haben. Wäre sonst im vergangenen Herbst Jamaica Kincaid unter den Spitzenkandidatinnen für den Nobelpreis genannt worden - obwohl ihr Œuvre eher schmal ist und schwerlich unter der Rubrik des politisch Korrekten und Opportunen abgeheftet werden kann?

Den Kampa Verlag dürfte das Augenmerk auf die Autorin gefreut haben, denn zu jener Zeit bereitete er eine eigentliche Kincaid-Offensive vor. Drei ihrer Werke - der Roman "Mister Potter", die Erzählsammlung "Am Grunde des Flusses" sowie  "Mein Garten(Buch)" - sind inzwischen erschienen; auf "Nur eine kleine Insel" soll mit "Annie John" ein weiterer Roman folgen. Mehrheitlich kann der Verlag dabei auf bereits bestehende Übersetzungen zurückgreifen, "Mister Potter" jedoch liegt nun erstmals in deutscher Sprache vor.

Die "kleine Insel" darf man wörtlich nehmen. Nur gerade zwölf Meilen lang und neun Meilen breit ist Antigua, und das Terrain, das Jamaica Kincaid in ihren Werken bespielt, ist auf den ersten Blick ähnlich begrenzt: Ihre Lebens- und Familiengeschichte sind der Stoff, aus dem sie ihre Fiktionen fertigt. Allerdings schätzt die Autorin es nicht, auf dem Begriff des Autobiografischen festgenagelt zu werden, und das zu Recht. Denn einerseits zielt sie über das Persönliche, Private hinaus: "In meinen Werken beschreibe ich oft eine universelle Situation. Eine Situation, in der sich Menschen häufig dafür entscheiden, anderen Gewalt anzutun." Diese meist nur mittelbare, emotionale Gewalt rührt von menschlichen Grundkonstanten her, kann aber durch die Altlasten der Kolonialzeit mitbedingt sein; sie schlägt sich im Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß nieder, vor allem aber in familiären Beziehungen. Und bei deren Darstellung kommt der zweite Faktor ins Spiel, der Kincaids Schreiben übers Selbstbeschränkte hinaushebt: die immer neuen literarischen Strategien, mit denen sie ihr Material behandelt.

Das lässt sich etwa an den Wandlungen ablesen, die ein autobiografisches Kernthema in ihrem Schaffen durchläuft - die als existenzieller Verrat erlebte Entfremdung zwischen der Schriftstellerin und ihrer Mutter. Diese widmete dem Mädchen bis zum neunten Lebensjahr ihre volle Aufmerksamkeit; dann wurden in rascher Folge drei Söhne geboren, die fortan die Eltern ganz in Beschlag nahmen. Und es kam noch schlimmer: Kincaids Stiefvater - vom leiblichen Vater hatte sich die Mutter früh getrennt, und er kümmerte sich nie um das Kind - erkrankte, und die hochbegabte Sechzehnjährige wurde vorzeitig von der Schule genommen, um durch Brotarbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen.

Die breiteste und erschütterndste Darstellung des Zwists mit der Mutter findet sich im 1985 erschienenen Roman "Annie John", der im Januar 2022 bei Kampa neu aufgelegt wird. Aber es ist nicht Kincaids Geschichte, die hier erzählt wird: Die Titelheldin ist und bleibt Einzelkind, die Kluft, die sie von der Mutter trennen wird, öffnet sich erst in der Pubertät; und statt wie Kincaid als Au-pair-Mädchen in die USA verschickt zu werden, reist Annie am Schluss des Buches nach England, um sich dort zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Indem die Autorin den Konflikt aus den Sachzwängen löst, die ihn in der Realität bedingten, kann sie ihn gleichsam destilliert, als zugleich archaisches und unerhört facettenreiches Drama durchspielen.

Erstaunlich ist, dass Kincaid das Thema in ihrem Erstlingswerk auf einem noch höheren Abstraktionsniveau behandelt hatte. Im 1983 erschienenen Erzählband "Am Grunde des Flusses" finden sich neben einem "Meine Mutter" betitelten Text noch weitere, in denen die Beziehungskonstellation aufscheint - in der seltsam schwebenden Zwiesprache etwa, die "Zuletzt" intoniert, oder im Sperrfeuer der Ratschläge, Verbote, häuslichen Tipps und gezielten Boshaftigkeiten, die in "Mädchen" auf eine Heranwachsende niedergehen. Charakteristischer für den Band als dieser gepfefferte Duktus sind jedoch surreale Szenarien, wie sie in "Zuletzt" und "Meine Mutter" dominieren: Texte, die sich weitgehend in impressionistische Bild- und Gedankenfolgen auflösen oder in denen mit stärkerem Strich und intensiverer Farbgebung ausgeführte, traumhaft anmutende Episoden aneinandergereiht werden.

Die Autorin soll sich später von dem Buch distanziert und es als die Art Literatur bezeichnet haben, die Engländer von ihr erwarten würden. Dieses Urteil möchte man zwar nicht unterschreiben, aber tatsächlich zeitigt der erzählerische Ansatz nicht immer gleichermaßen befriedigende Resultate; die Titelgeschichte etwa wirkt inkonsistent und eher langfädig. Faszinierend aber ist, wie gut dieselbe literarische Strategie in "Meine Mutter" funktioniert, wo die Dringlichkeit des Themas die Erzähltemperatur hochtreibt. Unvergesslich die Szene, in der die Mutter sich zu einer Art riesigem Reptil ummodelt: "Ihre Zähne ordneten sich zu Reihen, die bis auf den Grund ihrer langen weißen Kehle reichten. Sie wickelte sich das Haar von ihrem Kopf ab und legte es ganz zur Seite. Und als sie den Kopf dann zwischen ihre gewaltigen Handflächen schob, drückte sie ihn so platt, dass ihre Augen, welche nun flatterten, allem vorangestellt waren und sich wie Bälle umherwirbeln ließen."

In "Lucy" (1990) greift Kincaid auf ihre Zeit als Au-pair in New York zurück; das ermöglicht es der Autorin, ihren kritischen Röntgenblick auf genau jene progressiven weißen Kreise zu richten, aus denen sich vermutlich ihre Leserschaft rekrutiert. Dabei verringert sich die Präsenz der Mutterfigur im Roman, nicht aber die Innenspannung, welche die Beziehung in der Tochter erzeugt. Lucy verdrängt die Mutter fast gewaltsam aus ihrem Leben, ignoriert ihre Briefe, reagiert eiskalt, als der Vater stirbt und die Familie mittellos zurücklässt. Zugleich aber muss sie erkennen: "Ich hatte so viel Zeit damit verbracht, zu sagen, dass ich nicht wie meine Mutter werden wollte, dass mir die Pointe der Geschichte entgangen war: Ich war nicht wie meine Mutter - ich war meine Mutter." Literarisch hat die Schriftstellerin diese Feststellung anschließend auf raffinierte Weise eingelöst: 1996 legte sie einen Roman mit dem Titel "Die Autobiografie meiner Mutter" vor.

Wo die Mutter noch als Abwesende übermächtig in ihrem Leben steht, umkreist Kincaid auf väterlicher Seite einen Unbekannten, der paradoxerweise zugleich in ihrem eigenen Fleisch und Blut fortexistiert. Roderick Nathaniel Potter hieß der Mann, der sie gezeugt und dann ignoriert hatte, und dessen die Schriftstellerin im 2002 erschienenen Roman "Mister Potter" habhaft zu werden versucht. Aber wie schreibt man einen Niemand herbei?

Die Autorin wählt hier einen bedächtigen, in sich kreisenden Stil, dessen Wiederholungen die Geduld der Lesenden manchmal auf die Probe stellen können. So soll sich die Einförmigkeit eines Lebens abbilden, das siebzig Jahre dauerte und am Ende wie ein einziger Tag erschien; ein Leben, im Keim erstickt durch früh erfahrene Lieblosigkeit und Missachtung. Dieses Leid stellt Kincaid packend und schmerzlich dar - denn Roderick Potters Kindheit ist in gewissem Sinn eine tragische Präfiguration ihrer eigenen. Auch er wurde von seinem Vater nicht anerkannt; die Mutter deponierte ihn, als er fünf Jahre zählte, bei einem nicht mit Herzenswärme oder Großzügigkeit gesegneten Ehepaar und nahm sich das Leben. Unter solcher Zucht wurde der Junge "stumpf, wie etwas Nützliches aus wertvollem Metall, das jedoch auf einem Regal vergessen wurde, er wurde stumpf und hässlich, so wie alles Vergessene".

Dem erwachsenen Mister Potter allerdings tritt Kincaid mit der Härte entgegen, die aus der eigenen, vonseiten des Vaters erfahrenen Zurückweisung resultierte. Potter wird zum hollow man, der sein Selbstgefühl aus adretter Kleidung und dem blanken Wagen zieht, den er als Chauffeur lenken darf. Er zeugt Kinder so, wie andere Männer an den Wegrand spucken; er sieht nichts, empfindet nichts, "kein Gedanke ging ihm durch den Kopf, und die Welt war leer, und die Welt blieb leer".

Die Welt freilich markiert zu Beginn des Romans für einmal Präsenz auf der "kleinen Insel": Mr. Potter wird zum Hafen geschickt, um einen Neuankömmling zu chauffieren, den tschechisch-jüdischen Mediziner Dr. Weizenger, der dem Holocaust entkommen ist und sich nach langer Flucht nun auf Antigua niederlassen will. Kincaid deutet hier wiederholt Parallelen in den Schicksalen der scheinbar so unterschiedlichen Männer, zwischen Holocaust und Sklaverei an: "Mr. Potter waren Aufruhr, Vertreibung, Mord und Terror nicht fremd", heißt es etwa. "Sein ganzes Dasein in der Welt, in der er lebte, verdankte er solchen Dingen, aber er hielt sich nicht damit auf und konnte sich ebenso wenig damit aufhalten wie mit dem Atmen."

Die gewollte Geschichtslosigkeit, in der Potter lebt, ist möglicherweise emblematisch: Das jedenfalls deutet sich an, wenn man die Passage in "Nur eine kleine Insel" liest, in der Kincaid die Gründe für die Paralyse der antiguanischen Gesellschaft analysiert. Die Unterteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, schreibt sie, ignoriere man dort, und mithin fehle der Sinn für historische Zusammenhänge. Würden sich sonst die Antiguaner dermaßen für die Idee begeistern, in der lokalen Hotelfachschule zu erbötigen Dienern der Weissen gemodelt zu werden? Ebenso leide die Fähigkeit, Ursache und Wirkung ins Verhältnis zu setzen: "Keine Handlung in der Gegenwart wird mit Blick auf ihre Auswirkung auf die Zukunft geplant. Wenn die Zukunft, die ihre eigenen Vorfälle in sich trägt, kommt, wird ihrer Ahnenreihe in einer tranceähnlichen Rückschau nachgespürt, an deren Ende die Menschen auf einer kleinen Insel sich, mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Mündern und großen Augen, als Kinder entpuppen, denen man gerade die Geheimnisse eines Zaubertricks vorführt."

Das ist nur eine der bemerkenswerten Überlegungen, die im Buch nicht mit geschwellter Brust vorgetragen, sondern in ein geschmeidiges, oft ironisch-witziges Parlando eingebunden werden. Trotz des leichtfüßigen Tons ist "Nur eine kleine Insel" jedoch fern von jeder Unverbindlichkeit; auf lediglich 112 Seiten deckt Kincaid ein beachtliches Terrain ab: Tourismus,  Kolonialherrschaft, die Korruption und Misswirtschaft der Regierung unter dem langjährigen Premierminister Vere Cornwall Bird. All diese Themen klingen in unserer Leseprobe - sie erscheint früh im Buch - bereits an; ebenso das Motiv der Zeit, die auf der Insel laufen darf, wie sie will, während der Norden sie stramm an die Leine nimmt.

Und bitte - seien Sie nicht gekränkt, wenn Jamaica Kincaid Ihnen, dem prospektiven Touristen, zwischendurch eins auf die Nase gibt, wenn sie beim Betrachten der Badegäste genussvoll die Fallhöhe zwischen gottgleichen und eher missratenen Körperformen ausreizt. Haben Sie stattdessen auch ein Auge auf den Höllensturz gegen Ende der Passage, wo der Text von den ins himmlisch blaue Meer entlassenen Abwässern und Exkrementen brüsk zu den zahllosen Sklaven springt, die der Ozean verschlungen hat. Ja, das ist zornig, bitterböse sogar. Aber geben wir nochmals der Schriftstellerin das Wort: "Es ist nicht wichtig, ob ich zornig bin. Wichtiger ist, ob es wahr ist."

Jamaica Kincaid: Nur eine kleine Insel. Aus dem Englischen von Ilona Lauscher. Kampa Verlag, Zürich 2021. 112 Seiten, gebunden, 18 Euro (Bestellen)

Erscheint am 17. Juni.

Hier geht's zur Leseprobe

Dsb.: Auf dem Grunde des Flusses. Erzählungen. Aus dem Englischen von Sarah und Moritz Kirsch. Kampa Verlag, Zürich 2021. 144 Seiten, 18 Euro. (Bestellen)

Dsb.: Mister Potter. Roman. Aus dem Englischen von Anna und Wolf Heinrich Leube. Kampa Verlag, Zürich 2021. 224 Seiten, 22 Euro. (Bestellen)

Dsb.: Mein Garten(Buch). Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Kampa Verlag, Zürich 2021. 272 Seiten, 22 Euro. (Bestellen)