Vorgeblättert

Xu Xing: Und alles, was bleibt, ist für dich. Teil 2

22.03.2004.
Ein paar Tage später erhob sich vor uns ein Berg in saftigem Grün. Eine Straße führte im Zickzack hinauf. Wenn man aus dem nordischen Tiefland kommt, dann geht einem hier richtig das Herz auf. Zweihundert Meter, weiter reicht das Auge nicht. Jede Biegung birgt neue Überraschungen. Wir erreichten den Fuß des hohen Berges und folgten der Straße, die zwischen zwei riesigen Tälern hindurchführte. Ein Blick auf die Landkarte sagte uns, daß wir uns auf einem berühmten historischen Schlachtfeld befanden. Das Gelände war tückisch, unübersichtlich und sehr weitläufig. Hier waren Kriege geführt und Siege errungen worden. Die Ebene wurde von drei Pässen, die für Ruhe und Frieden sorgten, bewacht. Weise Gelehrte sahen hier auch den Grenzverlauf zwischen der Zivilisation Zentralchinas und der Chu Kultur. Xi Yong war in solchen Dingen wesentlich bewanderter als ich. Er jobbte als Laufbursche in irgendeinem wissenschaftlichen Institut, und dabei war auch etwas "Kultur" hängengeblieben. Der Zufall wollte es, daß sich dort jemand auf den Zusammenhang zwischen regionalen Gegebenheiten und kulturellen Ausprägungen spezialisiert hatte, also der Frage nachging, warum die Chinesen über hundert verschiedene Ahnen anrufen müssen, um sich ihrer Einzigartigkeit zu versichern. 

Da unser Quartier weiterhin von Mücken belagert wurde, beschlossen wir, die Nacht durchzufahren und am nächsten Tag an einem sonnengeschützten Platz am Fuße eines kleinen Berges eine ausgiebige Rast einzulegen. Seit Xi Yong dabei war, hatten wir noch keine anständige Pause gemacht, und er wollte wissen, warum wir dieses Affentempo vorlegten. Was sollte ich darauf antworten? Ich war mein Lebtag nur unterwegs gewesen. 
Die Nacht ließ uns nur mühsam vorankommen, und die rabenschwarze Dunkelheit der Berglandschaft tat ihr übriges. Wir hatten nur eine einzige Taschenlampe, die wir uns teilten. Der, der hinten fuhr, hielt mit der einen Hand die Taschenlampe und mit der anderen den Lenker. Wir mußten dicht hintereinander fahren, damit wir nicht im Straßengraben landeten. Von Zeit zu Zeit flatterte ein Vogel gefährlich nahe über unsere Köpfe hinweg. Bestimmt auch so ein loser Vagabund, der nicht mehr taugte als wir.
Als der Tag endlich anbrach, bot sich zu beiden Seiten unseres Weges ein wunderbares Naturschauspiel. Die Welt birgt so atemberaubende Landschaften, und die Menschheit darbt trotzdem. Irgendwie muß dem Herrgott hier ein Fehler unterlaufen sein. 
Bauern, Straßenhändler, Wasserbüffel, Kinder, Hunde, alle badeten in der goldenen Morgensonne. Die Straße wand sich als geschecktes Band zwischen den Bergen hindurch. Morgennebel stieg aus den Tälern empor. Ein Weg zog sich in Serpentinen entlang der grünbewaldeten Bergkämme. Die frische, kühle Morgenluft weckte unsere Lebensgeister, und ich fühlte mich frei und gelöst.
In Kürze erreichten wir den Fuß des Berges G., ließen unsere Räder und den ganzen anderen Kram zurück und begannen mit dem Aufstieg. Es gibt mehrere Varianten, einen Berg zu besteigen. Manche lassen sich in einer Sänfte, andere auf dem Rücken eines starken Mannes, wieder andere in einem Sessel aus Bambus hochtragen. Man kann auch mit dem Auto fahren oder mit dem Bus, das kostet aber mindestens ein Yuan pro Person. Für arme Leute wie uns hätte das geheißen: zwei Stunden warten. Und es hätte uns vor die Alternative gestellt, mit dem Bus zu fahren oder sechs Mahlzeiten kaufen zu können. Insofern fiel uns die Wahl des Transportmittels nicht schwer: auf Schusters Rappen den Berg hinauf! 
Nach anderthalb Stunden - wir hatten den Gipfel fast erreicht - riß vor uns plötzlich der Himmel auf, und ein nahezu unwirklicher Anblick bot sich unseren Augen: Mitten im Grünen prangten in allen Farben schillernde Villen, die verschiedene europäische Stilrichtungen und Epochen in sich vereinten. Eine Tafel am Aufstieg des Berges wies darauf hin, daß vor 1949 viele hochstehende Persönlichkeiten hier eine Privatvilla besessen hatten. Abgesehen von den ganzen Langnasen, war der Mächtigste unter ihnen "Präsident Jiang Kaishek" gewesen. Auch dies ein Beispiel dafür, daß die schönsten Orte dieser Welt immer schon von ranghohen Persönlichkeiten besetzt sind. Das war schon immer so und wird wohl auch so bleiben.
Xi Yongs Institutsausweis hatte uns im Ergattern von Essen und Trinken bislang unschätzbare Dienste geleistet. Er war unser "kaiserlicher Passierschein". Er hatte sich sehr bewährt, wenn wir - als "Abgesandte eines hohen Tieres" - Leute, die uns irgendwie krumm kamen, in ihre Schranken weisen mußten. Unser vordringlichstes Interesse galt zunächst der Suche nach einer Unterkunft. Auch dabei war unser "kaiserlicher Passierschein" unverzichtbar. Es gab so wunderbare Häuser hier, und die Landschaft war betörend schön. Und da sollten wir unter unsere kaputten Regenmäntel krabbeln und in unsere stinkigen Schlafsäcke, um unter dem Sternenhimmel die Mücken zu füttern? Und das alles in zugiger Bergluft und eiskaltem Morgennebel? Das war nun wirklich zuviel verlangt. Um einer glücklicheren Zukunft willen beschlossen wir, Rücksicht auf unsere Nieren zu nehmen. Wenngleich einige der Villen verdächtig streng bewacht zu sein schienen, konnte uns nichts davon abhalten, unter Einsatz unseres jungen Lebens das Risiko auf uns zu nehmen.
Der Beamte im Verwaltungsbüro war sehr freundlich zu uns. Xi Yong zückte seinen "kaiserlichen Passierschein" in der Hoffnung, schon damit ein paar Tage freie Unterkunft ergattern zu können. Der Beamte bedeutete uns, daß die kostenfreien Unterkünfte momentan alle belegt wären und nur noch eine kleine Villa für Touristen zur Verfügung stünde. Die kostete aber einen ganzen Batzen. Xi Yong wies noch einmal auf seinen "Passierschein" hin. Aber der Beamte brach in Riesengelächter aus, als er ihn genauer ansah, und ließ kein gutes Haar an Xi Yongs ach so bedeutendem Institut. So ein Pech. Also blieb uns nur noch, dezent die ganz besondere Beziehung, die uns mit Herrn XY verband, ins Spiel zu bringen und deutlich zu machen, daß wir in seinem Auftrag unterwegs waren. Ich hatte meine Ausführungen noch nicht beendet, da fing der Beamte schon wieder an zu lachen und teilte uns mit, daß niemand anderer als der Herr XY derzeit hier anzutreffen sei: "Soll ich Sie mit ihm zusammenbringen?" Wir machten uns vor Schreck beinahe in die Hosen, aber glücklicherweise verzichtete er auf eine Gegenüberstellung, und wir machten uns schleunigst aus dem Staub.
Damit hatten wir natürlich rechnen müssen. Es ist ja klar, daß auch die Großen dieser Welt Zugvögel sind und in einem heißen Sommer wie diesem im Dienste der Finanzverwaltung des Staates und zur Lebenserhaltung der Bevölkerung, angenehmere Orte aufsuchen. Auch wenn ich ihnen theoretisch gern gesagt hätte, "Ihr habt all das Schöne allein für euch, macht doch einfach ein bißchen Platz, damit für mich auch etwas abfällt!", fehlte mir praktisch doch der Mut dazu ? 
Blieb uns lediglich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und in einem heruntergekommenen Tempel Unterschlupf zu suchen. Wer hätte ahnen können, daß auch der Mönch dort Bares sehen wollte. Wozu braucht ein Mönch Geld? Man wird doch nicht vermuten, daß er auch gern mal gut essen geht oder daß ihm die Säfte in die Lenden steigen, wenn er ein hübsches Mädchen sieht. Wofür braucht er also die Knete? In seiner übergroßen Güte verlangte er lediglich zwei Yuan pro Person. Xi Yong konnte abends nicht einschlafen und ging raus aufs Klo. Als er zurückkam, berichtete er mir, daß er den Mönch in seiner Klause im Schneidersitz auf einer Schilfrohrmatte habe sitzen sehen. Im schwachen Schein der Öllampe habe er etwas gezählt - allerdings nicht die Kugeln seiner Gebetskette. Was dann? "Na was wohl: "Geld".

Auf dem Gipfel des Berges lag ein kleiner See, der einen schönen Namen trug. Um die Mittagszeit beschlossen wir, schwimmen zu gehen, obwohl wir beide nicht daran gedacht hatten, unsere Badehosen einzupacken. Xi Yong saß immer noch der Schreck in den Knochen, seit der Typ ihm beinahe das Ohr abgerissen hatte. Nichts und niemand in der Welt konnte ihn dazu bewegen, sich noch mal auszuziehen, um baden zu gehen. Ich suchte mir ein Gebüsch, entledigte mich meiner Klamotten, und sprang hinein ins kühle Naß. Ich hatte noch nicht einmal den ersten Zug gemacht, als am Ufer eine Gruppe junger Damen auftauchte. Sie fanden es wohl lustig, hier jemandem beim Schwimmen zuzusehen und blieben erstmal stehen. Ich achtete darauf, nur den Kopf über Wasser zu halten und dümpelte eine Ewigkeit vor mich hin. Jetzt ließen sich tatsächlich auch noch einige der Mädels nieder, um das Schauspiel besser genießen zu können. Aber ich war realistisch und ging davon aus, daß sie nicht darauf erpicht sein konnten, meinen klapperdürren Hintern zu bewundern. Folglich schwamm ich hinaus, und - wer hätte das gedacht - die Ansammlung löste sich in Wohlgefallen auf. Kaum war sie weg, war auch mein Ehrgeiz erlahmt. Ich kletterte ans Ufer und bestieg im Schlepptau von Xi Yong den Gipfel des Goldfasan. Der Goldfasan ist eine Bergspitze des G., die plötzlich wie aus dem Nichts aufragt und auf der nur etwa zehn, zwölf Leute gleichzeitig Platz finden. In der Ferne beflügeln unzählige Bergspitzen die Phantasie der Betrachter. Wir wurden ganz melancholisch, und das Gefühl tiefster Einsamkeit überwältigte uns. Unter uns dicht bewachsene Abhänge, schroffe und bedrohliche Felsen. Ein idealer Ort, wenn man sich umbringen wollte.
Wir blieben zwei Tage, dann beschlossen wir hinabzusteigen. Wir warteten fast bis Mittag an der Bushaltestelle, aber ein Bus war weit und breit nicht in Sicht. Hier gab es keine regulären Fahrzeiten, der Bus fuhr, wann er fahren wollte und hielt an, wann er anhalten wollte. Die Warterei machte uns unruhig und nervös. Ich sah, wie Xi Yong wortlos einen trockenen Zweig nahm und damit etwas auf den Boden kritzelte. Er schrieb in einem fort Scheiße, wischte es mit dem Fuß weg und begann wieder von neuem. Er war ganz und gar in seinem Element. Als wir schon nicht mehr daran glaubten, näherte sich der Wagen eines Privatunternehmens. Man verlangte einen Yuan pro Fahrgast. Wir rechneten ein bißchen hin und her und bissen dann schweren Herzens in den sauren Apfel. Für umgerechnet sechs Schalen Nudeln ließen wir uns den Berg hinunterkutschieren. Als wir unten ankamen, war es schon früher Nachmittag und unser Vorhaben, heute noch die nächste Etappe zu erreichen, hatte sich zerschlagen. Also hingen wir noch einen weiteren Tag dran. Nach dem Mittagessen beschlossen wir, die Gegend auszukundschaften. Wir erreichten eine kleine von Bergen eingefaßte Ebene und bekamen gleich den Schreck unseres Lebens: Zwei japanische Soldaten der kaiserlichen Armee, das Gewehr geschultert, kamen uns lachend und scherzend entgegen. Nicht daß unsere Reise bisher arm an Überraschungen gewesen war, aber jetzt auch noch im Rückwärtsgang durch die Geschichte getrieben zu werden, das ging entschieden zu weit. Warum war ich bloß nicht in die Achte-Route-Armee eingetreten? Irgendwie hätte ich mich da schon durchgeschlagen, und dann wäre ich heute vielleicht auch einer dieser hohen Generäle. Gerade als Xi Yong auffiel, daß die beiden Chinesisch redeten, hatten uns die "Kaisersoldaten" entdeckt: "He, was treibt ihr denn da?"

Teil 3