Vorgeblättert

Vera Broido: Tochter der Revolution, Teil 3

17.08.2004.
Pawel, Bea und ich machten gerne lange Spaziergänge außerhalb der Stadt. Nur das Zentrum von Minussinsk, der Marktplatz und ein paar davon abgehende Straßen ließen den Ort wie eine Stadt aussehen. Jenseits davon war Minussinsk nicht mehr als ein Dorf, aus dem man im Nu hinaus gelaufen war und sich in der Steppe wiederfand. Dieses unendliche Grasland unter einem ebenso unendlichen Himmel war atemberaubend schön. Wir betrachteten das im Wind hin und her wogende, hohe Steppengras (kowyl), dessen Farbe dabei zwischen grau und silber changierte. Es war, als stünden wir am Meeresufer. Der Blick reichte bis zum Horizont und wurde nur hier und da von kleinen Grabhügeln (kurgany) unterbrochen. Manchmal, wenn wir still und fasziniert da standen, schoss ein Reiter auf einem kleinen, schnellen Pferd wie ein schwarzer Pfeil durch die Steppe.
In der Steppe lebten die Abakan-Tataren, Turk-Nomaden, die mit ihren Pferdeherden von den Winter- zu den Sommerweidegründen und wieder zurück zogen. Wenn sie sich im Abakan-Tal niederließen, lebten sie in nahe beieinander stehenden Jurten. Pawels Vater, der hin und wieder einen älteren Tataren medizinisch versorgen musste, sagte, dass es in den Jurten, deren Böden und Wände mit Teppichen versehen waren, sehr heimelig sei. Auf ringsum in halber Höhe angebrachten Regalen standen bauchige Töpfe für die Stutenmilch. Der Reichtum der Eigentümer wurde an der Zahl dieser Stutenmilchtöpfe gemessen. Wir sahen viele solche Töpfe und viele Goldornamente, als wir das Museum von Minussinsk besuchten, das ein Verbannter einer früheren Generation gegründet hatte. Lebensgroße Schamanenfiguren mit all ihren Utensilien waren ebenfalls zu bestaunen. Sie wirkten so lebendig!
Andere sibirische Nomadenstämme, wie etwa die Kirgisen, lebten ebenfalls in der Nähe von Minussinsk. An den Markttagen kamen ganze Kavalkaden dieser faszinierenden Menschen in die Stadt geritten, alle gekleidet in lange, schwarze Samtkaftane. Die Frauen trugen lange Ohrringe aus Goldmünzen, die oft bis zur Taille reichten, was ebenfalls ein Zeichen für Reichtum war. Ich mochte ihre flachen Gesichter, ihre Schlitzaugen und ihr pechschwarzes Haar. Sie waren reserviert und würdevoll, von ihren Körpern und Gesichtern ging eine konzentrierte Reglosigkeit aus. In der Stadt waren die Männer ein wenig argwöhnisch, ihre Bewegungen langsam, doch sie wurden sehr agil, sobald sie die Stadt verlassen hatten. Dann ließen sie ihre schwarzen Pferde durch die Steppe galoppieren, während die Frauen ihnen langsamer folgten und ihre Einkäufe umklammerten. 
Ich habe die Markttage in Minussinsk ausgiebig genossen und bin seitdem süchtig nach Märkten. Mutter nahm mich mit, damit ich ihr beim Aussuchen und Tragen der Lebensmittel half. Es gab Stände für Fleisch, Geflügel und Milchprodukte, während Gemüse und Früchte, vor allem Melonen und Wassermelonen auf dem Boden aufgetürmt waren. Die Mengen, in denen alles verkauft wurde, kamen uns riesig vor. Als Mutter den Metzger nach einem drei bis vier Pfund schweren Stück Rindfleisch zum Braten fragte, schaute er sie ein paar Sekunden lang schweigend und mitleidig an und erklärte ihr dann, kein Braten, der unter zehn bis fünfzehn Pfund schwer sei, entwickele seinen vollen Geschmack. Das wisse sie doch sicher. Wir einigten uns auf sechs Pfund und der Braten, ob heiß oder kalt, war köstlich.
Der Kauf einer Wassermelone glich einem Ritual. Zunächst schlenderte man zwischen den Stapeln hindurch und prüfte das allgemeine Aussehen der Wassermelonen, von denen erstaunlich viele Sorten existierten - oval oder rund, klein oder groß, rundum dunkelgrün, gestreift oder in zwei Grüntönen gefleckt. Nachdem man sich für eine Sorte entschieden hatte, bat man den Verkäufer, ein Stückchen probieren zu dürfen, und er schnitt ein großes Dreieck der gewünschten Sorte für einen heraus, dessen Geschmack mit Bedacht und sorgfältig geprüft wurde. Mochte man diese Sorte nicht oder fand man sie nicht süß genug, wurden andere Stücke zur Probe gereicht, damit die endgültige Entscheidung getroffen werden konnte. Die meisten Einheimischen kauften mehrere Melonen und Wassermelonen auf einmal. Während wir unsere Einkäufe nach Hause trugen, sprach Mutter oft von dem Unterschied zwischen diesem Überfluss und dem Hunger, der in der Kriegszeit in Russland grassierte.
Bevor sie die Stände und den Markt besuchten, machten sich die Fallensteller, Jäger und Goldwäscher zu Fuß oder zu Pferde zunächst zur städtischen Bank und den dortigen großen Lagerhäusern auf, um ihre Häute, Felle und ihre Beutel mit dem in den Bergflüssen gewaschenen Goldstaub oder ihre Goldnuggets zu verkaufen. Dann kauften sie in den Läden rund um den Marktplatz Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände. Manchmal kam ein ganzer Trupp in die Stadt geritten, Tataren oder Jäger aus den Sajan-Bergen. Im Herbst brachten Bauern auf ihren Karren Zedernnüsse zum Markt - eine begehrte sibirische Delikatesse. Im Winter wurde die Milch auf dem Markt in großen, flachen gefrorenen Scheiben verkauft, die wir nach Hause trugen, um sie dort in Stücke zu brechen und zu schmelzen. Es machte natürlich auch sehr viel Spaß, an einem Stück gefrorener sibirischer Milch zu lecken, die so gut wie Eiscreme schmeckte.
Im Winter bestand der Markt nur aus wenigen Ständen, die Straßen waren mit Schnee bedeckt, und die Tataren kamen nicht mehr auf den Marktplatz geritten. Von bis zu drei Pferden gezogene Schlitten ersetzten im Winter die sommerlichen Kutschen. Schneestürme suchten die Stadt heim und wehten den Schnee in den Straßen zu wüsten Haufen auf. Der Fluss fror zu und bildete nun die einzige Verbindung mit Krasnojarsk. Und in den Häusern wurden die "holländischen" Öfen in Betrieb genommen.
Diese Öfen waren gefährlich. Glühte die Kohle ordentlich, konnte das Kohlenmonoxid durch die kleinste Öffnung entweichen und eine Vergiftung verursachen, wenn der Ofen nicht hermetisch verschlossen war. Mutter und ich fanden bald heraus, was passieren konnte. Marfa hatte den Ofen in der Badestube für uns angeheizt, und als wir nach Hause kamen, war es schön warm, und im großen Bottich dampfte das Wasser. Wir setzten uns auf die Bank, die an der Wand entlang lief, und begannen uns einzuseifen und abzureiben. Nach einer Weile fühlte ich mich benommen, und Mutter ebenso. Es wäre so einfach gewesen, sich zurückzulehnen, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen! Mutter wurde aber plötzlich bewusst, was los war. Sie packte mich an der Hand, und wir taumelten durch die Tür, dann durch die Außentür und fielen nackt in den hohen Schnee und rollten uns darin, bis die Schläfrigkeit vorüber war. Danach fühlte ich mich sehr krank. 

Wie ihre Mutter war auch meine Mutter eine ausgezeichnete Köchin, und ihre Abendessen boten eine willkommene Abwechslung in dem eintönigen Leben der Verbannten in Minussinsk. Ich war an den Vorbereitungen für diese Abendessen und an den Essen selbst lebhaft interessiert. Mit Marfas Hilfe stellte Mutter unzählige kalte und heiße Vorspeisen (sakuski) sowie Hauptgerichte zusammen, während ich am großen Küchentisch saß und zusah, manchmal jedoch auch beim Schneiden oder Rühren half. Am Abend durfte ich in dem Zimmer schlafen, das neben demjenigen lag, in dem das Abendessen stattfinden würde. Wenn die Gäste eintrafen, etwa zehn bis zwölf Mann (ich erinnere mich an keine Frau), schlich ich auf Zehenspitzen durch mein dunkles Zimmer. Wenn sich die Tür hinter dem letzten von ihnen schloss, tat ich nicht mehr so, als schliefe ich bereits, und machte es mir in meinen Kissen bequem, um zu erlauschen und zu erraten, was hinter der verschlossenen Tür vor sich ging.
Ich wusste, dass sie sich zunächst die sakuski schmecken lassen würden, die auf dem runden Tisch neben der Tür standen. Die Teller klapperten, die Gabeln klirrten, und ich hörte, wie sie riefen: "Ausgezeichneter Fisch!" Oder: "Was für eine Pastete!" Ein anderer rief: "Ah, eine zapekanka, meine Lieblingsspeise!" Dann schabten die Stuhlbeine über den Fußboden, und die Stimmen entfernten sich ein wenig, während alle an dem langen Esstisch Platz nahmen, der in die Mitte des Raumes gezogen worden war. Ich kannte sie alle. Die meisten waren Menschewiki-Genossen meiner Mutter, doch Pawels Vater, der Bolschewist, war gewöhnlich auch da.
Während die Gläser gefüllt wurden, verstummten die Gespräche. Dann hörte ich die Stimme meiner Mutter: "Freunde, seht nur meine eigenen naliwki - sie sind gut gereift." Sie hatte sie selbst angesetzt, indem sie Zitronenschale oder verschiedene andere Früchte in Flaschen gab, sie mit Alkohol füllte und zum Reifen zwischen die Scheiben der Doppelfenster stellte. In unserem Haus gab es viele, viele Fenster, und in jedem standen zwei oder gar vier Flaschen. Die Farbe veränderte sich, während die naliwka reifte, und in der Sonne ähnelten die Farben denen von Edelsteinen. Nun standen diese Flaschen auf dem Tisch, und die Gäste verkosteten die verschiedenen Liköre, hielten sie gegen das Licht und leckten sich die Lippen. Ich hatte das Bild vor Augen.
Zwischen den sakuski und den warmen Gerichten, die Marfa hereintrug, schlief ich manchmal ein. Die Unterhaltung verlangsamte sich, wurde bedächtiger und drehte sich gewöhnlich um Politik, was mich bald langweilte. Etwas später jedoch wachte ich von den lauten Geräuschen auf: Es wurde gelacht und gesungen, auf einer Gitarre geklimpert und mit den Füßen gestampft. Sie mussten das Essen beendet haben, nicht jedoch das Trinken - ich hörte immer noch die Gläser klirren. Ich konnte mir ausmalen, dass der Gitarrist ein wenig vom Tisch entfernt saß. Es war Jermolajew, ein freundlich aussehender Mann mit einem Lockenkopf, der stets ein leises Lächeln auf den Lippen hatte. Der Sänger war Ikow, der im Gegensatz zu Jermolajew unruhig und nervös war, seine Züge sehr ausgeprägt, seine Bewegungen ruckartig, während er ununterbrochen um den Tisch herum und im Zimmer umher lief. Er hatte eine herzerweichende Stimme, und ich konnte ihm stundenlang zuhören. All meine sibirischen Lieder habe ich von Ikow gelernt. Meine beiden Lieblingslieder handelten von entflohenen Sträflingen. Einer überquerte auf einem umgedrehten Fischfass mit einem zerrissenen Hemd als Segel den Baikalsee, der andere Sträfling sang während seiner Überquerung ein trauriges Lied aus seiner Heimat. Bei diesen Liedern verstummte die ganze Abendgesellschaft für eine lange Zeit, während ich ergriffen in meine Kissen weinte.
Als sollte die Traurigkeit abgeschüttelt werden, schlug einer ein Spiel vor, das Lieblingsspiel der nach Sibirien Verbannten - das Reisespiel. Stets wurde lange diskutiert, auf welchem Abschnitt der Eisenbahnstrecke sie reisen sollten. Die ihnen am besten bekannte Strecke führte von Tscheljabinsk nach Krasnojarsk, so dass sie sich gewöhnlich darauf einigten. Bevor das Spiel begann, hörte ich, wie Mutter die Teller und Schüsseln auf den Beistelltisch räumte und neue Flaschen holte. Dann rief einer der Männer mit dröhnender, 'offizieller' Stimme: "Bahnhof Tscheljabinsk. Der Zug fährt in drei Minuten ab. Meine Herren, füllen Sie Ihre Gläser!" Stühle wurden nach hinten gerückt, und als die Getränke eingeschenkt wurden, war das Gluck-gluck zu hören, gefolgt von einem Stimmenchor: "Ding-dong, ding-dong, der erste Glockenschlag! Meine Herren, trinken Sie!" Ich erinnerte mich lebhaft an jeden Halt während unserer Fahrt nach Sibirien, an die Bahnhofsglocke, das Restaurant und den Tresen, wo man die Getränke bekam, und daran, wie die Reisenden nach dem dritten Glockenschlag in ihre Abteile zurückeilten. Ich hörte sie nebenan ihre Gläser leeren und rufen: "Meine Herren, füllen Sie wieder Ihre Gläser!" Und dann wieder: "Ding-dong, ding-dong, der zweite Glockenschlag! Meine Herren, trinken Sie!" Trinkgeräusche, und erneut: "Meine Herren, füllen Sie wieder Ihre Gläser!" Der Chor: "Ding-dong, ding-dong, der dritte Glockenschlag! Meine Herren, trinken Sie!" Und so weiter. Dann ertönte wieder die 'offizielle' Stimme: "Der Zug fährt jetzt aus Tscheljabinsk ab." Gelächter und dann der Chor "Tuff-tuff, tuff-tuff, tuff-tuff", der manchmal etwas undeutlich klang, weil die Männer pikante Häppchen mampften. Die Gesellschaft mäßigte sich etwas, wurde leiser, bis ein Streit darüber entbrannte, welcher Bahnhof nun folgen würde. Hatten sie sich geeinigt, wurde das Spiel der drei Glocken und des Trinkens fortgesetzt. Und so weiter und so fort. Ich erinnere mich nicht mehr, wie viele Male es wiederholt wurde, doch lange bevor sie die halbe Strecke bis nach Krasnojarsk zurückgelegt hatten, verlangsamte sich das Tempo, wurden die Stimmen heiser und undeutlich, es wurde geschnarcht, und der unverwechselbare Ikow schluchzte.
An diesem Punkt intervenierte Mutter meistens: "Es ist alles aufgegessen, die Flaschen sind leer getrunken, und es ist Zeit, nach Hause zu gehen." Sie war als einzige noch nüchtern. Es dauerte ewig, bis sich alle verabschiedet und bedankt hatten. Schließlich öffnete sich die Tür, und ich konnte sie durch mein Zimmer schwanken und torkeln sehen. Ich versteckte mich unter meiner Bettdecke und linste, wie Marfa und Mutter widerwilligen Armen und Beinen in Mantelärmel und Galoschen halfen, Köpfe mit Kopfbedeckungen krönten und die Besucher sanft nach draußen bugsierten. "Gute Nacht! Gute Nacht!" Ich hörte, wie Mutter zu später Stunde auf dem Weg ins Bett traurig seufzte. Sie sah mich argwöhnisch an, doch ich tat so, als schliefe ich fest. 

Es muss Anfang 1916 gewesen sein, als wir die Nachricht von der Krankheit meiner Halbschwester Galja erhielten. Mutter ersuchte sofort um Erlaubnis, zu ihr fahren zu dürfen. Sie bekam die Erlaubnis nicht, und Galja starb bald darauf an Meningitis. Ich habe Mutter nie so am Boden zerstört gesehen. Sie sprach nicht darüber, ließ mich an ihrer tiefen Trauer nicht teilhaben, ging wie immer ihrer Arbeit nach. Ich konnte ihre Gedanken und Gefühle nur erahnen. Hat sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie sich für ein Leben entschieden hatte, das sie oft von ihren Kindern trennte, selbst dann, wenn die sie am meisten gebraucht hätten? Ich denke ja, doch ich glaube auch, dass nichts sie von ihrem eingeschlagenen Pfad hätte abbringen können.
Ich fühlte mit ihr. Seit unserer Ankunft in Minussinsk hatte ich eine romantisierende Bewunderung für die Verbannten entwickelt, für ihren Heroismus, für ihr Leiden sowie für ihre Standfestigkeit. Ich fand es richtig, dass Mutter den besten von ihnen ebenbürtig sein sollte. Ich glaube, es war zu jener Zeit, dass ich der Revolution als eine Art Gottheit zu huldigen begann, der alle privaten Belange unterzuordnen waren. Gewiss habe ich meiner Mutter nicht die Schuld an Galjas Tod zugeschrieben. Doch meine Halbschwester Sanja tat es.
Als Sanja, und, etwas später, der Rest der Familie - Danja, Vater und Großmutter Sara - in Minussinsk eintrafen, empfand Sanja Mutter gegenüber nichts als Groll. Sie erklärte, dass sie alle Menschewiki hasse, und ging ihr aus dem Weg, um sich mit den Bolschewiki unter den Verbannten anzufreunden, besonders mit Jelena Stassowa, einem bekannten Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki. Sie verlobte sich gar mit dem Bolschewisten Anton Adassinski, einem ruhigen, liebenswürdigen Mann, der einige Jahre älter als sie und auf Lebenszeit verbannt war. Sanja war damals neunzehn Jahre alt und kehrte nach Petrograd zurück, um ihre Ausbildung fortzusetzen. Meine Eltern, davon überzeugt, dass sie lediglich aus Bosheit gegenüber meiner Mutter handelte, nahmen von ihren Heiratsplänen wenig Notiz. Sie sollten sich irren, denn Sanja heiratete Anton schließlich. Ihre Wahl erwies sich als sehr geglückt, und Sanja wurde eine überzeugte Bolschewistin. Niemand konnte vorhersehen, dass Anton in den 1930er Jahren während Stalins Säuberung der Kommunistischen Partei erschossen, und Sanja mit ihrer Tochter für viele Jahre in ein Arbeitslager geschickt werden würde. 
All das sollte die Zukunft bringen. Unterdessen versuchte Sanja ihre Bitterkeit zu überwinden, indem sie anstrengenden körperlichen Aktivitäten nachging. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war die Schlangenjagd. Mit einem langen, dicken Stock verließ sie die Stadt, stets allein. Unter den großen, flachen Steinplatten, Resten eines alten Steinbruchs, lebten viele Schlangen, vor allem eine dort heimische, hässliche, schwarze Schlange, die sehr giftig war. Sanja postierte sich auf einer Steinplatte, nachdem sie mehrere kleinere Steine gesammelt hatte, und wartete, bis eine Schlange hervorgekrochen käme. Mit einem schnell geworfenen Stein zertrümmerte sie den Kopf der Schlange und spießte das sich windende Tier mit ihrem Stock auf. Überraschenderweise wand sich die ›tote‹ Schlange fest um den Stock, und ließ lange nicht los. Einige Stunden später kehrte Sanja in die Stadt zurück, lief stets mitten auf der Straße und pfiff vergnügt vor sich hin, den dicken Stock geschultert, von dem um die fünf bis sieben Schlangen baumelten. Gewöhnlich wurde sie von ein paar einheimischen Jungen begleitet - eine stolze Heldin kehrte heim. Ich hatte immer Angst vor Schlangen und wurde hysterisch, wenn Sanja ihre Trophäen absichtlich im Wohnzimmer ausbreitete. Zum Glück forderte Mutter, die ungewöhnlich sanft und nachsichtig mit Sanja umging, sie auf, die Schlangen zu entfernen. Sanja hatte jedoch das letzte Wort. Sie warf die toten Schlangen in die Toilette. Wie durch Zufall verursachte sie bei mir eine akute Verstopfung!
Obwohl sie einen Groll gegen mich - "Mamas Liebling" - hegte, war sie großzügig. Einmal hat sie mir sogar das Leben gerettet. Wir waren mit dem Boot zur ›Insel‹ gefahren, einem beliebten Ausflugsziel - eine große Insel jenseits eines engen Kanals des Jenissej, direkt gegenüber von Minussinsk. Die Insel war grün und an einem Ende mit dichtem Wald bewachsen, während ansonsten hier und da Felder und Vieh zu sehen waren. Sanja, Danja, ich sowie ein junger Student setzten zur Insel über. Es war ein wunderschöner, heißer Tag, und wir suchten einen schattigen Platz und einen Baum, an dem wir das Boot festmachen konnten. Wir fanden einen hübschen Flecken, an dem das Ufer von Weiden gesäumt war, deren Äste über dem Wasser hingen. Das Boot wurde festgemacht, der Proviantkorb von Hand zu Hand gereicht und dann im Gras abgestellt. Wir standen alle im Boot und wollten an Land gehen. Das Boot schwankte, als zunächst der Student und Danja und danach Sanja herunter sprangen. Ich war wackelig auf den Beinen, verlor im nächsten Augenblick das Gleichgewicht und fiel über Bord.
Es ging alles sehr schnell, so dass ich gar keine Zeit hatte, mich zu ängstigen. Ich trieb langsam in trübe, grüne Gewässer, in eine Art Flüssigkeitskammer aus lichtdurchlässigen Kräuselungen und Blasen, mit goldenen Flecken an der Stelle, wo die Sonne darauf fiel. Es war alles sehr schön, ich war glücklich und zufrieden. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Wasser trieb, plötzlich jedoch spürte ich einen kräftigen Ruck und wurde brutal hochgehievt. Später erzählte man mir, dass Sanja, als sie bemerkt hatte, dass ich ins Wasser gefallen war, sofort losrannte, um schneller als die Strömung zu sein, auf einen der Weidenäste kletterte, bis zu dessen Ende kroch und sich ganz ausstreckte, wobei sie sich mit einer Hand am Ast festhielt, und die andere zum Wasser hinstreckte. Ich war bereits zweimal aufgetaucht, doch erst beim dritten Mal konnte sie mich an den Haaren packen und aus dem Wasser ziehen. Als wir beide keuchend im warmen Gras lagen, sahen wir, dass ein Arm von Sanja vom Handgelenk bis zur Achselhöhle aufgeschürft war und blutete. Doch sie ignorierte unsere Besorgnis und schickte sich an, mir wieder Leben einzuhauchen. Erst als sie mir meine nassen Kleider ausgezogen und mich in das Hemd des Studenten gehüllt hatte, durften wir ihr das Picknicktuch um den Arm wickeln. Dann wurde der Proviant ausgepackt, und wir stellten fest, dass wir einen Riesenhunger hatten. Wir unterhielten uns sehr kameradschaftlich und verstanden uns prächtig. 
Die letzte Erinnerung, die ich an Minussinsk habe, ist die an eine ganz besondere Situation, nachdem Vater, Danja und Sanja nach Petrograd zurückgekehrt waren. Es herrschte tiefster Winter, Land und Fluss waren dick mit Schnee und Eis bedeckt, als Mutter mich eines Abends zu einer Schlittenfahrt mitnahm. Das Dreigespann holte uns ab, als die Abenddämmerung hereinbrach. Der Schlitten war mit dicken Rentierfellen ausgelegt, und der Kutscher hatte warme Rentierfellmäntel mitgebracht, bei denen die Haut nach außen, das Fell nach innen gekehrt war. Mit Marfas Hilfe stülpte er diese Mäntel über die unsrigen und wickelte dann Meter um Meter Tuch um uns. Riesige Fellfäustlinge und -mützen komplettierten unsere Garderobe. Schließlich wurden wir in den Schlitten gehoben und in einen dicken Fellteppich gesteckt, so dass nur unsere Nasen unbedeckt waren.
Mittlerweile war es recht dunkel geworden. Der Schlitten glitt geräuschlos die schneebedeckte Straße entlang, überquerte den weißen, leeren Marktplatz und fuhr über Hang auf die gefrorene Wasseroberfläche hinunter. Der Kutscher hatte den Hang vorsichtig und sanft passiert, nun aber trieb er das Gespann an, und wir flogen durch die milchige Luft, wobei wir, wie es mir schien, kaum den Boden berührten. Der Schnee unter den Kufen war fest, zweifellos von den vielen Schlitten, die im Winter diese Strecke bereits befahren hatten. Auf beiden Seiten türmten sich hohe Schneebänke auf. Der Himmel hing niedrig, grau-weiß wie die Erde. Es war, als führen wir durch einen unbeleuchteten Tunnel. Dann aber ging der Mond auf, und die Wände des Tunnels schienen sich zurückzuziehen. Am Himmel wurde es heller, Sterne tauchten auf, und unten auf dem Schnee glitzerten und funkelten Myriaden kleiner Lichter, während wir zwischen Himmel und Erde dahinglitten. Es war unglaublich und überwältigend schön.

Mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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