Vorgeblättert

Sven Lindquist: Wüstentaucher, Teil 2

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Ich lebe in einem Stall, zusammen mit einer alten nackten Frau mit knochigem Körper und langen Brüsten, die ihr bis unter die Taille hängen. Sie ist nett zu mir, nur ihr Pferd ist lästig. Sie hält es oben auf einem Heuboden ohne Geländer. Lediglich der eigene Selbsterhaltungstrieb hindert das Pferd am Hinunterfallen.
Als ich auf den Heuboden steige, beginnt das Pferd eifrig in meiner Hand und meinen Taschen nach dem Zucker zu suchen, den es zu bekommen gewohnt ist. Ich versuche, wieder nach unten zu gelangen, aber das Pferd versperrt mir den Weg, während es mit seinem Maul immer hartnäckiger und zudringlicher meine Kleidung und meinen Körper absucht. Erst, als die Frau hinaufkommt und dem Pferd ein paar Zuckerstücke gibt, darf ich gehen.
Als ich ihre Brüste sehe, durchfährt mich der Gedanke, daß sie vielleicht meine Mutter ist und daß es meine eigene Gier war und nicht die des Pferdes, die sie so lang werden ließ.

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Am nächsten Morgen ist der Himmel wieder klar. Der Sandpflug ist dabei, die Sandwehen wegzukehren. Jedes einzelne Grasbüschel ist wie eine Braut mit einer kleinen Sandschleppe in Windrichtung geschmückt.
Einige dutzend Kilometer außerhalb von El Aaiun haben ein paar saudische Falkner ihr Wohnwagenlager aufgeschlagen. Über große Entfernungen suchen sie mit Hilfe einer hochentwickelten Radarausrüstung nach Rebhühnern, verfolgen sie in Autos mit Vierradantrieb, heben dann die Haube von den spezialtrainierten Falken und erleben ein paar schwindelnde Momente lang ihre eigene Macht, während der Falke über der Beute kreist, schlägt, tötet und das Fleisch heimträgt.
- Das wird ein beachtlicher Kilopreis, sagen meine sahrawischen Mitfahrer trocken.
Es sind elegante junge Männer mit Bügelfalten und Aktenkoffern. Ich setze sie ein paar Kilometer weiter ab und begleite sie zu zwei milchduftenden Zelten am Straßenrand. Ein paar Frauen führen dort mit ihren Ziegen ein Viehzüchterleben.
Sie bespritzen uns mit Lavendelwasser aus einer Literflasche und rufen nach dem pensionierten Soldaten im Nebenzelt. Meine Mitfahrer und der Alte beginnen mit dem üblichen Ping-Pong-Spiel kurzer Höflichkeiten und gegenseitigem Austausch von Neuigkeiten. Die smarten Städter verwandeln sich in Hirtensöhne, die mit erstaunlicher Gewandtheit die Teezeremonie durchführen.
- Wärt ihr länger geblieben, hätte ich einer Ziege den Hals durchgeschnitten, sagt der Alte.
Er liegt auf einer geflochtenen Matte und knetet einen großen Polster auf seinem Bauch. Es ist kühl und frisch unter dem himmelblauen Zeltdach, das die Sonne abhält, dem Wind aber freien Spielraum läßt. Die glühende Holzkohle in der Feuerschale tickt metallisch, es riecht stark nach Minze und Ziegenmilch.
Nach den drei obligaten Tassen Tee fahre ich weiter Richtung Smara, durch eine gewaltige, öde, platte Landschaft, unterbrochen von vereinzelten Grasbüscheln und Gruppen heldenhafter Tamarisken.
Mitten in diesem trockenen Nichts treffe ich wieder auf einen großen Heuschreckenschwarm, der von Südosten kommt, nicht so sehr fliegend als vielmehr angeweht vom Wüstenwind, über den Boden rollend wie ein riesiges, schwankendes Rad aus Insekten. Einige sind jung mit rosa Flügeln, aber die meisten sind reife, prall gefüllte Lebewesen mit goldenen Flügeln, die mit einem knackenden Geräusch gegen das Auto klatschen und zermalmt werden.
Hotel Goldsand, das beste in Smara, ist vom Gouverneur in Beschlag genommen. Im Hotel Erraha auf der anderen Straßenseite bekomme ich das einzige Zimmer mit Fenster. Zwei Betten und ein Haken in der Wand. Das Waschbecken vor dem Plumpsklo am Ende des Korridors. Zehn Kronen (etwas mehr als ein Euro) pro Nacht.

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Ich gehe baden nach der staubigen Reise. Unterwegs sehe ich ein Schild: "Club Saquia el Hamra Musculation". Bodybuilding in der Sahara! Plötzlich spüre ich, wie meine Muskeln vor Verlangen nach Anstrengung schmerzen.
Der Club hat für heute gerade erst aufgemacht und ist noch ganz leer. Ich hänge meine Kleider an die Wand und beginne mit dem Aufwärmen. Als ich in der Beinpresse liege, kommt ein intellektuell ausschauender Marokkaner mit Brille und zeigt mir, wie ich einen größeren Spielraum bekomme, wenn ich einen Zapfen rausziehe. Er ist Buchhalter in der Zivilverwaltung, seit drei Jahren hier, die Familie in Casa, wie man hier zu Casablanca sagt. Fährt alle drei Monate heim auf Besuch.
Wir trainieren zusammen und machen abwechselnd drei Sätze zu fünfzehn Wiederholungen mit leichtem Gewicht. Es gibt, sagt er, auch im Winter, aber am meisten im Sommer, wenn Smara zu einer qualmenden Hölle wird - es gibt einen gähnenden Abgrund zwischen der offiziellen Rhetorik und der realen Kriegsmüdigkeit und dem Heimweh. Die Sahara ist zu "ihrem" Land ausgerufen worden, aber es ist beileibe nicht ihr Klima oder ihre Landschaft, wenn sie aus dem Norden Marokkos kommen?
Nach meinem langen Trainingsstop fühlt es sich herrlich an, endlich wieder zu spüren, wie die Muskeln arbeiten, zuerst etwas widerstrebend, dann immer vergnügter darüber, gebraucht zu werden. Die Selbstwahrnehmung steigt aus dem Kopf hinunter in die Glieder. Stück für Stück kommt der Körper zurück und wird wieder mein eigener. 
Nach dem Training gehen wir zum Badehaus. Im Innersten der dampfenden Räume mischen wir in unseren schwarzen Gummieimern heißes Wasser aus dem einen Hahn mit kaltem Wasser aus dem anderen Hahn und verbringen den restlichen Nachmittag damit, unsere wiedergefundenen Körper zu spülen, einzuseifen und abzuschrubben, während wir dem Wasser lauschen, das gegen die Fliesen klatscht und dem Stimmengewirr, das sich unter den Bögen sammelt.
Hier drinnen bläst kein Wind. Das Licht brennt nicht in den Augen. Die Nägel werden nicht rissig. Man bekommt keinen Sand in den Mund. Die Luft ist nicht beißend trocken in der Nase. Im Gegenteil: die Luft ist mit dampfender Feuchtigkeit gesättigt und fühlt sich in den Körpermulden weich und samtig an. Gutes Wasser in Strömen. In der Wüste ist das Paradies.

Mit freundlicher Genehmigung des Haymon Verlages

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