Vorgeblättert

Ralph Dutli: Mandelstam, Teil 4

21.07.2003.
Die ebenfalls 1925/1926 erschienenen Kinderbücher Der Primuskocher, mit Illustrationen von Mstislaw Dobuschinskij, und Die Küche (illustriert von W. Isenberg) zeigen Gegenstände des Alltagslebens und lassen Mandelstams Träume von einem behaglichen Raum ahnen, der Wärme, Eßbares, Gekochtes verspricht. Die Küche war sein Lieblingsraum in den Wohnungen. Aber auch hier finden sich Andeutungen von Einsamkeit, Angst und Gewalt. Das klingelnde Telephon, das keinen erreichen kann: "Plötzlich wird es stumm und still: / Weil es keiner nehmen will" (BT, 13). Der Zuckerhut, der bereits sein Ende ahnt: "Der Zuckerhut, der Zuckerkopf/ Ist weiß vor Angst, will schrein: / Die haben frischen Tee gekocht, / Da muß doch Zucker rein!" (BT, 11). Das Bügeleisen leidet: "Doch wenn ihr wüßtet, wie weh / Es tut, wenn ich auf dem Feuer steh!" (BT, 7).
Selbst noch das 1926 im Staatsverlag erschienene, scheinbar harmlose Kinderbuch Luftballons enthielt versteckten politischen Zündstoff. "Ich Grüner krieg Kummer (...) Vom schrecklichen Roten" (BT, 37), heißt es da. Konnte eine Farbgebung Mitte der zwanziger Jahre noch unschuldig sein? Seit dem russischen Bürgerkrieg zwischen bolschewistischen "Roten" und zaristischen "Weißen" wurden politische Kämpfe anhand von Farben ausgedrückt. Die Farbe Rot war in der Sowjetunion früh sakralisiert. Mandelstams Sympathie gehört auch im Kinderbuch nicht dem "Roten" ("dem Großkopf, dem Lauten"), sondern dem "Grünen", dem unsicheren "Findling" und "Pflegekind". Grün war in den verflossenen politischen Auseinandersetzungen die Farbe der Anarchisten! Auch das Thema der Freiheit blitzt plötzlich auf. Ein Junge schenkt dem kleinen Grünen die Freiheit ("Was sollst du, du Dummling, / Hier kriechen als Schnecke? / So flieg schon hinauf / Samt Schnürchen am Bauch!" BT, 45), während der "schreckliche rote Großkopf" in Unfreiheit weiter am Schnürchen zappeln muß.
Die Mandelstams hatten selber keine Kinder. Laut Nadeschda war es eine bewußte Wahl, in jener grausamen Epoche keine Kinder aufzuziehen. Mandelstam verstand sich aber ausgezeichnet mit Kindern. Und Kinderbücher waren eine Gelegenheit, zu ihnen zu sprechen. Eine kritische Leserin seiner Kinderbücher war die kleine, altkluge Tatka, die Tochter seines Bruders Jewgenij. Kinderverse waren für Mandelstam Mitte der zwanziger Jahre zwar kein wirklicher Ausweg aus der Sackgasse, aber ein bescheidener kleiner Poesie-Ersatz. Doch selbst die Kinderliteratur bot sehr bald keinen Freiraum mehr. Im Jahr 1927 war es die sakrosankte Krupskaja, Lenins Witwe, die eine Propagandakampagne gegen "ideologisch unzuverlässige" und "schädliche" Märchen und Kinderbücher anzettelte. Hauptopfer waren die herrlichen Kinderbücher Kornej Tschukowskijs, dessen Abenteuer von Krokodil Krokodilowitsch 1928 verboten wurden. Allenthalben wurde nach gefährlichen politischen Anspielungen in "schädlichen" Kinderbüchern gefahndet. Deren Autoren wurden im Zuge erhöhter "ideologischer Wachsamkeit" und eines intensivierten "Klassenkampfes" rigoros "entlarvt". Mandelstam war wohl mit seinen vier kleinen Büchelchen ein zu marginaler Kinderbuchautor, um als Opfer dieser Kampagne großen Schaden zu nehmen. Für den eigenen Gebrauch aber schrieb er 1927 einen kurzen satirischen Text über Kinderliteratur, in dem er sich gegen klassenkämpferische Vereinnahmung und politische Instrumentalisierung des Kindes verwahrte (GD, 35f.; BT, 165f.). 
Während seiner "Schweigeperiode" von 1925 bis 1930 schrieb Mandelstam also zumindest Kinderverse und Prosa. Unter den publizistischen Arbeiten dieser Zeit gibt es zwei Texte, die aufschlußreich sind für die Entwicklung seiner Beziehung zum eigenen Judentum. In der Prosaskizze Kiew (1926), dem Porträt der "zählebigsten Stadt", interessiert er sich für die jüdischen Händler und Handwerker in der Unterstadt, im Podol.

Ich höre ein Gemurmel unter meinen Füßen. Ist es ein Cheder? Nein ... Ein Gebetshaus in einem Keller. Ein gutes Hundert ehrwürdiger Männer im gestreiften Talles haben sich wie Schüler auf die gelben, engen Bänke verteilt. Niemand schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Chagall müßte das sehen! (...) Und ein aufmerksamer Passant, der gegen Abend einen Blick durch ein beliebiges Fenster wirft, wird das kärgliche Abendmahl einer jüdischen Familie sehen - auf dem Tisch das Chala-Brot, Hering und Tee. (...)
Den ganzen Prunk der Oberstadt hat immer der Podol beglichen. Der Podol hat gebrannt. Der Podol ist im Wasser versunken. Der Podol ist von Pogromen verwüstet worden.
(RZ, 173/176)

Ende März 1926, als er die aus Jalta angereiste Nadeschda in Kiew traf, besuchte er mehrere Vorstellungen des "Jüdischen Staatstheaters" (GOSET), das 1919 von Alexej Granowskij als "Moskauer Jüdisches Kammertheater" gegründet worden war. In den Jahren 1919 bis 1922 hatte Marc Chagall Bühnenbild und Ausstattung geschaffen und den künstlerischen Nimbus des Theaters mitgeprägt, auf ihn folgte der Maler Natan Altman. Auf dem Spielplan standen jiddische Stücke von Scholem Alejchem, Jizchak Leib Perez, Abraham Goldfaden und anderen.
Mandelstam war in Kiew stark beeindruckt von dem jüdischen Schauspieler Solomon Michoëls (1890 bis 1948), über den er sofort ein Prosaporträt schrieb. Auf der Rückfahrt nach Moskau blieb der Zug auch noch in einem belorussischen Schtetl stehen. Lauter lebhafte Eindrücke für Mandelstam, der sich früh mit Hilfe seiner assimilierten Mutter vom Judentum gelöst hatte und ganz in der russischen Kultur aufzugehen schien. Durch das Waggonfenster sieht er einen Rebbe im langschößigen Gehrock "gleich einem schwarzen Käfer" durch den glucksenden Dreck sich vorarbeiten, und "in seinen Bewegungen lag eine solche Abgehobenheit von der ganzen Umgebung und gleichzeitig eine solche Kenntnis seines Weges", daß der assimilierte Städter Mandelstam verblüfft war. Der eilig dahinlaufende Rebbe ist ihm "so stark im Gedächtnis geblieben, weil ohne ihn diese bescheidene Landschaft ohne Rechtfertigung geblieben wäre" (GD, 30). Erinnerte er sich plötzlich an seine Vorfahren, die aus einem ebensolchen Schtetl namens Schagory stammten? Jedenfalls regte ihn Michoëls’ Schauspielkunst auch zu Gedanken über das Judentum an, wie er sie bisher kaum je unternommen hatte.

Die grundlegende Plastizität und Kraft des Judentums liegt darin, daß es ein Gefühl für Form und Bewegung herausgebildet und durch die Jahrhunderte hindurch weitergetragen hat, dem alle Züge einer unvergänglichen, tausendjährigen Mode anhaften ... Ich spreche nicht etwa vom Schnitt der Kleidung, der sich verändert und den man nicht allzu hoch einschätzen sollte, und es kommt mir auch nicht in den Sinn, das Ghetto oder den Schtetl-Stil ästhetisch zu rechtfertigen. Ich meine die innere Plastik des Ghettos, die gewaltige künstlerische Kraft, die seine Zerstörung überlebt und endgültig erst dann aufblühen wird, wenn das Ghetto abgeschafft ist.
(GD, 31)

"Die gewaltige künstlerische Kraft" ist es, die Mandelstam noch immer mit dem Judentum verbindet und immer stärker verbinden wird. Die Theaterkunst des Solomon Michoëls wird mit tiefer Sympathie gewürdigt und zu antiker Größe ("der jüdische Dionysos") erhoben:

Ein kleiner Wirbel an Ort, und dann ist der Rausch schon da (...). Der jüdische Dionysos verlangt nicht viel und schenkt sofortige Fröhlichkeit.
Im Verlauf des Tanzes bekommt Michoëls’ Gesicht den Ausdruck wissender Müdigkeit und traurigen Entzücktseins, als sei es die Maske des jüdischen Volkes, die sich der klassischen Antike annähert und fast nicht mehr von ihr zu trennen ist.
Nun gleicht der tanzende Jude dem Anführer des antiken Chores. Die ganze Kraft des Judentums, der ganze Rhythmus abstrakten tanzenden Denkens, der ganze Stolz eines Tanzes, dessen einziger Antrieb letztlich das Mitleiden mit der Erde ist - all das geht über in das Beben der Hände, in das Vibrieren denkender Finger, die durchgeistigt sind wie eine klar artikulierte Rede.
(GD, 32)

In der Encyclopaedia Iudaica (Jerusalem 1971) und noch im Neuen Lexikon des Judentums (Gütersloh 2000) wird das Klischee kolportiert, Mandelstam gelte als "Repräsentant des ›jüdischen Selbsthasses‹". Das vergröbernde Etikett konnte nur in Unkenntnis der Prosatexte Kiew und Michoëls entstehen. Im Brief vom 17.Februar 1926 schreibt Mandelstam an Nadeschda, nach einer Begegnung mit dem Orientalisten Schilejko: "Und ich sagte ihm, daß ich nur Dich liebe (...) und die Juden" (MR, 84). Die Wiederannäherung Mandelstams an die Welt der Väter ist 1926 noch längst nicht abgeschlossen. In seiner polemischen, anti-stalinistischen Vierten Prosa von 1929/1930 spricht er von dem "ehrenvollen Titel eines Juden, auf den ich stolz bin", von einem "Blut, schwergeworden vom Erbe der Schafzüchter, Patriarchen und Könige" (RZ, 265). Im Gedicht Kanzone von 1931 (MM, 75) wird der "verlorene Sohn" seine Rückkehr bekräftigen. Mandelstams Beziehung zum eigenen Judentum war komplex, eine tiefe persönliche Auseinandersetzung. Mit dem groben Etikett ist ihr nicht beizukommen.
Gewiß hatte er noch 1925 in Das Rauschen der Zeit, in den Kapiteln "Der Bücherschrank" und "Jüdisches Chaos", die jüdisch geprägte Welt seines Vaters als dem Kind fremd und bedrohlich erscheinende Sphäre beschrieben. Doch gerade ab 1926, zeitgleich mit den zitierten Prosatexten voller Sympathie für jüdische Charaktere, läßt sich in den Briefen an Emil Mandelstam eine Annäherung feststellen. Offenbar war der Vater befremdet gewesen von der Schilderung "seiner" Welt in der Prosa des Sohnes. In einem Brief Mandelstams aus Jalta von Ende April 1926 heißt es: "Was die ›Erinnerungen‹ an Dich betrifft, hast Du ganz und gar unrecht: ich habe sie bei weitem nicht ausgeschöpft, nicht ausgeschüttet. Du und ich sind stärker verbunden, als Du denkst!" (MR, 114). Wie anders gelagert sind Ossip Mandelstams "Briefe an den Vater" als Franz Kafkas Brief an den Vater! Von der Entfremdung zu erneuertem Verständnis: Das ist Mandelstams Weg in bezug auf seinen Vater wie auf sein Judentum. Er war mithin ein Dichter, der nach und nach das anfänglich verdrängte geistige Erbe seines Vaters in sein Werk integrierte, es damit bereicherte.
Nadeschda litt immer stärker unter dem Getrenntsein von ihrem Mann, unter ihrer Einsamkeit am Schwarzen Meer. Mandelstam am 1.Oktober 1926: "Mein liebstes Kindelchen, mein heller Nadik! Warum bloß habe ich Dich ans Meer verbannt wie irgendeinen Ovid? Du willst also nach Hause zu Njanja und zum Katerchen (...)?" (MR, 116). Am 3.Oktober: "Mein liebstes Ehefrauchen, ich kann nicht mehr ohne Dich, mein heller Nadik. Warum bloß habe ich Dich fortgelassen? Ich weiß, es war notwendig, aber ich bin so traurig, so traurig" (MR, 119). Für kurze Zeit mietet Nadeschda ein Zimmer in Koktebel, dem für Mandelstam geradezu mythischen Ort auf der Krim, wo er sich einst so wohlgefühlt hatte: "Ich kann es nicht glauben, daß Du ohne mich in Koktebel bist" (MR, 120). In weiteren Briefen an sein "armes helles Bettlermädchen" versucht er sie zu trösten und schwankt zwischen der Vernunftlösung, die Nadeschdas weiteren Aufenthalt auf der Krim fordert, und dem sehnsüchtigen Wunsch, sie endlich wieder jeden Tag bei sich zu haben.
Mandelstam bemüht sich neben den noch immer kräftezehrenden Brotarbeiten um eine Wohnung. Im Oktober 1926 zieht er nach einigen Wechselfällen in eine helle, geräumige Wohnung im Gebäude des Lyzeums von Detskoje Selo ein, wo die Wohnungen billiger waren als in Leningrad. Nadeschdas Uhr muß ins Pfandleihhaus gebracht werden, ein paar Dinge müssen verkauft werden, denn die Geldnot ist wie immer akut. Aber es ist eine deutliche Verbesserung der Wohnsituation, die Mandelstam in den Briefen an Nadeschda geradezu schwärmen läßt. "Alles sehr sauber, hell und gemütlich", schreibt er Anfang November (MR, 130). Es ist eine Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad, der größte und sehr relative "Luxus", den die Mandelstams je genießen werden. Wieder nur für kurze Zeit, für kaum zwei Jahre, die zudem von den für Nadeschda notwendigen Aufenthalten im Süden unterbrochen werden. Die Ärzte raten ihr dringend von der Rückkehr in das naßkalte Leningrad ab, doch das Paar hält die Situation nicht mehr aus. Im Dezember 1926 kehrt Nadeschda nach Detskoje zurück.

Mit freundlicher Genehmigung des Amman Verlages.

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