Vorgeblättert

Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, Teil 4

14.03.2002.
Python und Löwe

Was überhaupt bindet die Jünger an Voldemort? Vermutlich das gleiche, was die Christen an Gott bindet, die Aussicht auf ewiges Leben. Schon der nicht zu nennende Name spielt mit dem Doppelsinn des "vol": Luziferischer Sturz oder Todesflug hinab aus dem Reich des Göttlichen, aber auch der Raub, "vol", des Todes, den Voldemort seinen Anhängern in Aussicht stellt. Bei der Vollversammlung auf dem Friedhof sagt er ihnen ausdrücklich, daß er auf dem Weg, der zur Unsterblichkeit führe, weiter als alle anderen gegangen sei. Schließlich hätte er sterben müssen, als der Fluch, mit dem er den Säugling Harry vernichten wollte, durch die Magie des mütterlichen Opfertods abprallte und sich gegen ihn selbst richtete. Aber er hat, wenn auch unter finsteren Umständen, überlebt. Damit fühlt sich Voldemort in seiner Ambition bestärkt: "Ihr kennt mein Ziel - den Tod zu besiegen." (IV, 682) Kunststück, daß sich seine Jünger erhoffen, der Meister werde sie an diesem Sieg teilhaben lassen und nicht nur abgehackte Hände durch silberne ersetzen, sondern ihrem Leben überhaupt die Dauer von Erz verleihen.

Beide Motiv-Bewegungen - Harrys Eltern rücken näher, Voldemort will den Tod besiegen - könnten auf dem Kulminationspunkt verschmelzen. Was wäre die größte Versuchung, in die der Held geraten könnte? Voldemort könnte, in die Enge gedrängt, Harry anbieten, James und Lily ins Leben zurückzurufen. Selbst Zauberer vermögen es nicht, Tote zu erwecken, wir wissen es, aber Voldemort scheint sich dem Punkt zu nähern, an dem diese Unmöglichkeit kippt; vielleicht spiegelt er es auch nur vor. Unsterblichkeit wäre nicht göttliche Verheißung, sondern eine teuflische Offerte. Um des Geliebtesten willen müßte Harry dem Bösesten willfahren. Im Drehbuch des ersten Harry Potter-Films, das von der Autorin abgesegnet worden ist, geht der bedrängte Voldemort in der Schlußszene mit einem solchen Lock-Angebot schon vielsagend über die bislang vorliegenden Bände hinaus.

Wenn es so käme, würde Harry der Versuchung widerstehen. Man kann sich nur schwer ein anderes Ende für die sieben Bände denken: Harry Potter ist gereift, schickt sich ins Unabänderliche und nimmt den Tod der Eltern hin. Die Trauerzeit gelangt zu einem Abschluß. Die Python, die in Prousts Bild den zitternden Löwen verschlang, war das Vergessen, das die Liebe verschlingt. Im besten Fall, der traurig genug ist, hat auch der Abschiedsschmerz ein Ende. Anders als bei Tolkien muß das Trauma nicht verkapselt und dadurch neurotisch verewigt werden. Doch davor steht der Autorin und dem Leser noch ein Kelch, der bitterste, bevor.


Auszug aus Michael Maars Buch Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte mit freundlicher Unterstützung des Berlin Verlags.
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