Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Ulrich Peltzer: Teil der Lösung. Teil 2

20.08.2007.
Schilder, Papptafeln, die in immer schnellerer Folge aus dem Koffer geholt und geschwenkt werden, große Eurozeichen sind darauf zu sehen, daneben noch Piktogramme, Kameras und Zielscheiben, in deren Mitte Armut steht, dann wieder nur Schrift, Danke für die Gnade, Ich will mein Bild, oder Schöner Filmen in einer Sprechblase über einem Kopf mit Uniformmütze, schließlich sinken die drei auf ihre Knie, falten wie zum Beten ihre Hände und verneigen sich mehrfach, bevor sie alle den rechten Arm ausstrecken und hoch deuten, direkt in den Monitor hinein.
"Warnruf", sagt Kremer tonlos.
"Ich mach das", sagt Fiedler und drückt eine Taste seines Telefons. "Ich bin schon weg."
Als die Tür ins Schloss fällt, schneidet sie seine Stimme ab, die Anweisungen gibt, umstellt, herbeizitiert, ein sich abspulendes Programm, das trainiert worden ist, Unwägbarkeiten und Psychologie. Männer, die sich am Brunnenrand waschen, selbst im Sommer mit Mänteln bekleidet, deren Taschen prall gefüllt sind, andere Habseligkeiten in Plastiktüten verstaut, Gruppen von Jugendlichen, die Passanten anrempeln, durch die Menge streifende Gestalten in schlechtsitzenden Sakkos, zu zweit, zu dritt auf der Suche nach unbewachten Dingen, sorglos deponierten Geräten, Einkäufen, Rucksäcken, ein in Europa zerstreutes Heer, mit dessen stammesartiger Verstohlenheit man zu rechnen hat, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Mit ausgreifenden Armbewegungen dirigiert der Melonenmann Zuschauer und Akteure aus dem Bild, dann verschwindet er selbst, um zuvorderst plötzlich auf Schirm 16 zu erscheinen, an der Spitze eines Zuges mit dem Clown, den Ballerinas, Erwachsenen und Kindern, die eine dichte Traube um sie bilden. Weitere Schilder werden aus dem Koffer gezogen: Hallo, wir sind hier und: Alles klar, Herr Kommissar?, überdies weitere Faxen und Pantomimen. Die Kollegen müssten schon in der Nähe sein, denkt Kremer, müssten sich durch die Leute ins Zentrum des Kreises zu drängen versuchen, um dem Auftritt ein Ende zu machen. Was geht, ist vorgeschrieben, erste Frage immer die nach einer Genehmigung, Antwort stets, man habe keine, fliegende Schmuckhändler und Sandwichverkäufer. Der mit Verweis auf die Hausordnung, manchmal mit etwas Handgreiflichkeit ausgesprochenen Bitte, das Gelände zu verlassen, kommen sie meist sofort nach, die wenigsten leisten Widerstand. Einer im März mit einem Messer, den eine Ladung Pfefferspray außer Gefecht setzte. Es gibt Befugnisse, es gibt Grenzen, es gibt Kooperation. Das nächste Revier ist das auf der Friedrichstraße.


Aus der Luft erinnert alles an ein Modell, Häuser und Bäume aus Plexiglas und Kunststoff, aus Balsaholz und silbrig glänzender Folie. Mit einem Fesselballon kann man hochsteigen und sich einen Überblick verschaffen, in der Gondel erklären Touristenführer die Lage, Geschichte und Investitionen. Jahrzehnte war hier nichts als sandige Steppe, die eine im Zickzack verlaufende Mauer halbierte. Staubfahnen wehten im Sommer über das weite Terrain, bei Regen verwandelte es sich in eine sumpfige Brache. Seltene Kleinstlebewesen und Flechten, wie für die Ewigkeit, ein ausgeglühter Planet am Rand des Universums. Und dann dieser Riss, dieser Blitzschlag, vom Fernsehen millionenfach in die Welt gesendete Tränen. Eine kosmische Implosion, durch die hier Gegenwart wieder hereinbrach. Visionen von Zukunft, das Neue, ein Traum. Im Dunkeln festlich illuminierte Kräne, die über gewaltigen Baugruben wie Skulpturen in den Himmel ragten, umzingelt von Containerdörfern für die Arbeiter und windgeschützten Plattformen für die Zaungäste von überall her. Bagger und Planierraupen, Wassereinbrüche und Trockenlegungen in Schichten rund um die Uhr. Betongerippe wuchsen in die Höhe, enorme Strukturen einer Phantasie von Bedeutung und Größe. Solange sie noch nicht verkleidet waren, ohne gläserne Fronten und Rückseiten, ohne Backsteinsimulationen und Metallkanten, Ausbuchtungen wie Raumschiffe oder vorspringende Ecken wie in den Kulissen expressionistischer Filme, konnte man sie für bloße Monumente, für abstrakte Denkmäler halten, wie die Pyramiden durch eine bestimmte metaphysische Schönheit erhaben. Später änderte sich das, sah man nur noch ein prunkendes, in Rekordzeit aus dem Boden gestampftes Viertel im Herzen der Stadt, Shopping-Malls und Hotels neben sich türmenden Verwaltungszentralen. Parkdecks, aus denen zahlreiche Aufzüge lautlos nach oben zum Einkaufen gleiten. Wo Kunstobjekte und Wasserspiele sind, ein die Atmosphäre beständig durchdringendes Summen, das man aber nach ein paar Schritten schon nicht mehr hört.
Im Sommer sind viele der Wege und kleinen Straßen zwischen den hohen Häusern verschattet, so dass man erst auf der weiten Fläche des Potsdamer Platzes oder am anderen Ende, bei der Staatsbibliothek, wieder das Gefühl hat, unter freiem Himmel zu sein, im gleißenden Licht eines Junitages, das keine einzige Wolke trübt. Sich tausendfach spiegelnd in den Fenstern des halbrunden Turms, der dem Atrium mit seinem Zeltdach zur Seite steht, sticht es in den Augen, wenn der interessierte Blick über die Fassaden schweift. Über die Kühnheiten einer vom Computer errechneten Statik, elektronische Fleißarbeit auf Siliziumchips. Fortwährend strömen Besucher der Piazza zu, der Hauptattraktion, wie es in einer an Hotelrezeptionen ausliegenden Broschüre heißt, schlendern am unterkühlten Foyer der sanofi~synthelabo vorbei, einer Dunkin?-Donuts-Filiale und einem Easy Internetcafe, knipsen noch einmal schnell in die sich Richtung Fernsehturm öffnende Straßenflucht hinein. Ein Menschenknäuel erregt Aufmerksamkeit. Wortgefechte dringen verstümmelt nach außen, wo immer mehr Neugierige zusammenlaufen, deren Fragen mit einem Schulterzucken beantwortet werden. Ein Mädchen im Vorschulalter auf dem Arm seiner im Nacken tätowierten Mutter kräht über die Köpfe hinweg, es wolle zu dem Clown, da sei ein Clown, Mama, ein lustiger Clown.
"Lassen Sie mich bitte durch", sagt ein Mann in einer schwarzen, hüftlangen Nylonjacke, auf deren Rücken ein goldfarbenes Rechteck mit dem Schriftzug PROTECTAS ist, sich eine Gasse ins Innere der Menge bahnend, "jetzt lassen Sie mich doch durch."
Kinder an der Hand, drehen die Ballerinas Pirouetten, während ihre Begleiter mit Fiedler und einem anderen, der auch so eine Jacke trägt, Argumente austauschen. Wenigstens versuchen sie es. Einige der Umstehenden lesen die Flyer und schauen dann hoch, als gäbe es etwas Besonderes zu entdecken.
"Öffentlicher Raum", sagt der Clown. "Man hat Rechte."
"Hier ist kein öffentlicher Raum", sagt Fiedler und zeigt auf den Boden. "Hier ist Privatgelände."
"Und wo sind wir?"
"Hier, überall", sagt Fiedler kurz angebunden, "hören Sie mir nicht zu?"
"Wir sind in Berlin", sagt der junge Mann mit der Melone, seine Arme wie ein Prediger ausbreitend. "Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland."
"Zum letzten Mal, gehen Sie."

Teil 3