Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Teil 3

14.08.2006.
Zweites Kapitel

"Liz?"

Niklas Kalf schmiegte sich von hinten an Liz und streichelte ihr langsam über die Schultern und den Nacken. Den Kopf in die andere Hand gestützt, sah er dabei hinaus in die Nacht. Das Excelsior, ein altes Emigrantenhotel mit engen, verwinkelten Gängen, in deren tiefen Teppichen jeder Laut versickert, liegt fast am Central Park, und ihr Zimmer im neunten Stock ging nach hinten, zur 82. Straße West. Vom Bett aus sahen sie über mehrere Blocks niedriger Town Houses hinweg, deren Dächer zumeist zu Terrassen umgebaut waren, mit Pflanzenkübeln und niedrigen Holzpalisaden, Tischen und Stühlen. Dahinter ragten hölzerne Wasserspeicher in den Himmel. In der Klimaanlage unter dem Fenster drehte sich mit einem blechernen, schabenden Geräusch langsam der Rotor. Es schien, als lasse nun die Anspannung endlich nach, die den ganzen Tag über der Stadt gelegen hatte.
     Liz hatte, bevor sie den Flug buchten, lange gezögert, ob sie an diesem Tag wirklich in New York sein wollte. Das ist ein magisches Datum, hatte sie gesagt, egal was geschehen wird. Es gibt keine magischen Daten, hatte er geantwortet, auch wenn das, wie er wußte, falsch war. Am Morgen beschlossen sie dann, den Tag im Bett zu verbringen, kaum, daß er einmal aufstand und im Deli um die Ecke Pastrami-Sandwiches holte und Bier. Er war verrückt nach Liz, seit sie schwanger war, und immer wieder taten sie an diesem Tag so, als machten sie ein Kind.
     Liz drehte sich nach ihm um und strich ihm mit der Hand durchs kurze Haar. Einen Moment lang schien sie ihn sehr genau zu mustern, bevor ein Lachen sich in ihrem Gesicht ausbreitete.
     "Es ist nichts passiert", sagte sie grinsend.
     "Ich glaube nicht." Er grinste zurück.
     "Küß mich, Nico!"
     Sie schloß die Augen. Ihr Mund war eher klein und auch nach all der Zeit noch schüchtern. Seit vierzehn Jahren waren sie zusammen, und Niklas Kalf hatte dabei zugesehen, wie das Netz kleiner Falten sich in den Jahren rund um ihre Augen ausgebreitet hatte. Ihre Zunge tastete vorsichtig nach seiner.
     Außer jenem Abendessen mit Snowe hatten sie die vier Tage, die sie jetzt in New York waren, allein verbracht, waren einfach herumgelaufen, einmal den ganzen Broadway hinab und die Park Avenue wieder hinauf, waren über die Brooklyn Bridge spaziert und durch Chinatown und mit der Fähre nach Staten Island hinübergefahren. An die vibrierende Hitze der Stadt hatten sie sich bald gewöhnt und, verschwitzt und müde, kaum eine Pause auf ihren Streifzügen gemacht.
     Im Kino liefen My Big Fat Greek Wedding und Bloodwork, und Liz hatte sich zu One Hour Photo überreden lassen. In der New York Times hatte Niklas Kalf den Nachruf auf Kim Hunter gelesen, die mit neunundsiebzig hier in der Stadt gestorben war. Das Bild neben dem Text zeigte sie als Stella in Endstation Sehnsucht mit Marlon Brando, für die sie ihren Oscar bekam. Aldwin, Astronaut von Apollo 11 und zweiter Mann auf dem Mond, war in Los Angeles beim Verlassen des Beverly Hills Hotel angegriffen worden. Ein Filmemacher, der seit Jahren zu beweisen versuchte, daß die Mondlandungen nie stattgefunden hatten, habe Aldwin aufgefordert, eben dies auf eine Bibel zu schwören, mit der er den Astronauten attackierte.
     Überall sah man die Vorbereitungen, gleichermaßen wohl für die Gedenkfeiern wie für eine mögliche Bedrohung. Viel Polizei war auf den Straßen, während die U-Bahnen immer leerer wurden. Es schien, als verlasse, wer konnte, vor dem elften September die Stadt. So etwas wie der Geruch der Stille zog in Manhattan ein, und als sich dann vor Sonnenaufgang Dudelsackpfeifer aus allen fünf Boroughs auf ihren stundenlangen Weg nach Ground Zero machten, konnte man ihre Musik überall in der Stadt hören. Sie drang auch in ihre Träume, denn das Excelsior liegt nicht allzuweit vom Broadway entfernt, den die Dudelsackpfeifer hinabgingen, doch erst die Gedenkminute um acht Uhr sechsundvierzig, als ein Jahr zuvor das erste Flugzeug die Twin Towers getroffen hatte, jene plötzliche, unheimliche Unterbrechung des Lebens, als SILENCE SETTLED OVER LOWER MANHATTAN, weckte sie auf. Für einen Moment dachten beide, die Stadt vor dem Fenster wäre verschwunden.
     Später hörten sie die Glocken, die an den Einschlag des zweiten Flugzeuges erinnerten, dann die Nebelhörner der Schiffe auf dem Hudson, als um zehn Uhr neunundzwanzig der zweite Turm kollabiert war. Den ganzen Tag lauschten sie auf die schreienden und jammernden und sich räuspernden Sirenen, die ständig irgendwo in den Straßen unter ihnen auftauchten und wieder verschwanden. Und auch, als Liz längst schlief, starrte Kalf noch über sie hinweg in den rosaschwarzen Himmel hinein, gegen den sich die alten Wasserspeicher abzeichneten, hölzerne Fässer auf Eisenkonstruktionen mit jeweils drei Beinen, hoch auf den Dächern ehemaliger Fabrikgebäude verankert.
     Daphne Abdela, wiederholte er den Namen der jungen Mörderin, von der Albert Snowe erzählt hatte. Auf eine merkwürdige Weise verband ihn ihre Geschichte nun mit New York, und er malte sich aus, wie er das, was er über diese junge Frau wußte, in wenigen Tagen mit nach Deutschland nehmen würde. Und er mußte daran denken, wie Liz ihn, als sie das Manuskript seines ersten Buches gelesen hatte, angesehen und dann einen Satz gesagt hatte, der ihn traf, als habe sie ihm die unabweisbare Zukunft aus der Hand gelesen. Du bist Biograph, Nico! Sie hatte recht damit gehabt, auch wenn er zunächst nichts entgegnet und sie nur blinzelnd gemustert hatte, als müsse er diesen Gedanken erst noch anprobieren. Doch als Gegenstand seines zweiten Buches ergab sich wiederum ein fremdes Leben. Nun, mit vierzig, war die Promotion längst vergessen, und er schrieb an seiner dritten Biographie. Daphne Abdela, dachte er schon im Halbschlaf, ging ins Bad, legte sich wieder zu der tief und gleichmäßig atmenden Liz und schlief, weit nach Mitternacht, endlich ein.
     Einmal, als es schon dämmerte und das Hotelzimmer voll kühlem Grau stand, spürte er ihren Arm auf seinem Bauch, doch als er am Morgen aufwachte, sehr spät und trotzdem noch immer müde, lag Liz nicht mehr neben ihm. Der Radiowecker neben dem Bett zeigte zehn Uhr neununddreißig, und der Fernseher lief leise, obwohl er sich ganz sicher war, ihn nicht eingeschaltet zu haben. Und während er sich schläfrig und ohne Argwohn nach Liz umsah, registrierte er auf dem Bildschirm den amerikanischen Präsidenten, der die Stufen zu einem Podium hinaufstieg, hinter sich eine hohe Wand aus schwarzem Porphyr. Im Scheinwerferlicht über Bush leuchteten die weißen Haare Kofi Annans, der die Hände faltete, ohne den Blick vom Präsidenten zu nehmen.
     "Mr. Secretary General, Mr. President, distinguished delegates, and ladies and gentlemen: We meet one year and one day after a terrorist attack brought grief to my country, and brought grief to many citizens of our world."
     Das ist hier! schoß es ihm durch den Kopf. Das ist die UN. Das geschieht exakt jetzt. Und während er Bush zuhörte, wartete er zugleich darauf, daß Liz aus dem Bad kommen würde. Doch sie kam nicht.
     Nach ein paar Minuten stellte er den Ton ab und ging nachsehen. Dann stand er ratlos in der Mitte des Zimmers und schaute sich gründlich nach einer Nachricht von ihr um, musterte Taschen und Kleider daraufhin, ob sich etwas verändert hatte, doch alles war an seinem Platz. Nur Liz war nicht da.
     Obwohl er sich sagte, daß sie sicherlich gleich mit Milchkaffee und Muffins an die Tür klopfen würde, überlegte er doch, an der Rezeption nachzufragen, ob sie weggegangen war. Oder sollte er selbst sofort hinab und hinaus auf die Straße, um sie zu suchen? Er beschloß, noch eine Weile abzuwarten, und stellte den Ton des Fernsehers wieder an. "In cells and camps, terrorists are plotting further destruction, and building new bases for their war against civiliza­tion."
     Der Redetext wurde über zwei Teleprompter beidseits des Pults eingespielt. Keinen Moment ließ Bush die Delegierten aus den Augen, sein Blick schweifte wie der eines wachsamen Tieres von links nach rechts und wieder zurück. Wie die gelben Augen eines Wolfes, dachte Kalf und bemerkte zum ersten Mal dieses winzige, hechelnd-bleckende Lächeln bei allem, was Bush sagte. Wie er sich gefiel. "And our greatest fear is that terrorists will find a shortcut to their mad ambitions when an outlaw regime supplies them with the technologies to kill on a massive scale."
     Bei diesem Satz begann das Telephon zu klingeln. Er war sich sicher, daß es nicht Liz sein konnte, und zögerte noch ein weiteres Klingelintervall, wie man sich in einem Traum bewegt, dann erst nahm er den Hörer auf, und eine sanfte Stimme fragte: "Nick?"

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch

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