Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Martin Caparros: Valfierno. Teil 2

20.07.2006.
Ich wußte nicht, woher wir kamen, aber ich wußte, daß ich nicht dort geboren worden war, in jener Stadt am Fluß, die Rosario genannt wurde. Anfangs wußte ich das natürlich nicht; später dachte ich, wenn ich schon irgendwo geboren worden war, dann in dem großen Haus, dem Haus der Herrschaft, in unserem Zimmer - dem Zimmer, das ich mit meiner Mama teilte - unterm Dach. Schließlich wurde mir klar, daß wir woandersher kamen, weil meine Mutter, die so gut war und sich um uns alle kümmerte und der die Kinder gehorchten, etwas seltsam sprach. Es war nicht schwer für mich, das herauszufinden. Es war das erste, was mir auffiel, wie ich mich jetzt erinnere: Meine Mutter sprach seltsam. Vielleicht gehorchen sie ihr ja, weil sie so spricht, dachte ich damals.
Manchmal fragte ich meine Mutter nach meinem Vater. Oder, genauer gesagt, irgendwann fing ich an, meine Mutter nach meinem Vater zu fragen. Davor, nehme ich an, als wir in dem großen Haus wohnten und glücklich waren, kam es mir nicht in den Sinn; Diego und Mariana, die hatten einen Vater, denn sie hatten all die schönen Dinge, und ich hatte nur ein paar wenige, und sie hatten auch eine Mutter, die so schön war und blonder als meine, und deshalb kam mir die Frage nicht in den Sinn. Später jedoch, in der Schule, sprachen die Kinder immer von ihren Vätern, und dann mußte ich den Mund halten. Eines Tages entschloß ich mich, meine Mutter zu fragen, wo mein Vater war. Ich fragte sie nicht, warum habe ich keinen Vater, Mama, oder was denkt sich dieser Mann, der mich ohne Vater zurückgelassen hat, oder vielleicht, was denken Sie sich, oder was ist geschehen? Ich fragte sie, wo ist mein Vater, und sie dachte einen Moment lang nach, bevor sie antwortete. Jetzt, da ich mich daran erinnere, kommt es mir merkwürdig vor, daß sie darüber nachdenken mußte. Meine Mutter hatte sich die Antwort doch bestimmt schon oft zurechtgelegt, noch bevor ich die Frage gestellt hatte, die sie vorausgeahnt haben mußte; aber sie dachte einen Moment lang nach, und dann sagte sie zu mir, mein Vater sei nicht da, weil er ich weiß nicht mehr wohin habe gehen müssen, um zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Ich fragte sie, wann er mit dem Geld zurückkommen werde, und darauf fragte mich meine Mutter, ob mir irgendwann irgend etwas gefehlt habe. Ich sagte nicht, ja, Mama, ein Vater; ich glaube, ich habe sie angelogen und es nicht gesagt.

     Solch ein Kunstdiebstahl, sagten die Zeitungen, müsse das Werk eines kranken Hirns oder eines verkannten Genies sein. Merken Sie was, Journalist? Denen ist überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß es ganz einfach das Werk eines Künstlers sein könnte.

Ich bin Valfierno. Ich war ein sehr glückliches Kind. Meine Mutter nannte mich Bollino, und ich glaubte, daß das mein Name sei: Bollino, ich bin Bollino. Ich war ein so glückliches Kind, aber mein Vater war nicht da. Oder sollte ich sagen, ich war ein so glückliches Kind, weil mein Vater nicht da war? Mein Vater war nicht da, weil er ich weiß nicht wohin gegangen war, um Geld zu verdienen. Weil man ihn nicht mit uns in unsere neue Stadt hatte gehen lassen, und nun versuchte er, nachzukommen. Weil er sich um unser anderes Haus kümmern mußte. Weil seine Mama ihn nicht so weit weg gehen ließ. Weil er in irgendeinem Krieg gefallen war. Weil, wer konnte einen Jungen wie mich liebhaben, der so ungezogen war. Weil er sich an etwas sehr Wichtiges erinnert hatte und es nun holen mußte, aber irgendwann würde er es finden und zurückkommen.
Einmal fragte ich sie, wie mein Vater hieß, und meine Mutter wollte mir darauf keine Antwort geben. Was sind das für Fragen, fragte sie mich, als hätte sie das nicht gewußt.


2

Marques Eduardo de Valfierno faßt sich erneut an den Knoten seiner Fliege, mit einer Sorgfalt, die man als übertrieben bezeichnen könnte. Tatsächlich findet Valerie Larbin sie vollkommen übertrieben, doch wahrscheinlich betont der Marques seine gewohnte Akkuratesse, um sie zu reizen.
"Wollen Sie sich nicht ankleiden, meine Schöne?"
"Wozu? Gedenken Sie mich irgendwohin mitzunehmen?"
Keine Musik ist zu hören. Valerie liegt auf einem Samtdiwan, das rabenschwarze lange Haar fällt ihr in Locken über die weiße Brust, ihr schwarzseidener, mit roten chinesischen Zeichen bedruckter Morgenmantel ist leicht geöffnet, wie um zu zeigen, daß sie ganz Frau ist. Valerie Larbin raucht, die Perlmuttspitze zwischen Mittel- und Zeigefinger mit den lila lackierten Nägeln: der Vamp aus irgendeinem Film, den sie neulich gesehen hat. Der Marques sieht sie an und lächelt: Sie ist durch und durch eine nicht sehr gelungene Kopie aus schlechten Filmen. Wenn sie wüßte, denkt er, daß auch er sich vor langer Zeit so gegeben hat. Oder vielleicht vor gar nicht so langer Zeit. Wenn sie wüßte, denkt er, daß es etwas anderes ist, was ihm an ihr gefällt. Wenn er nur wüßte, was genau das ist.
"Warum, verlangen Sie jetzt von mir, daß ich Sie ausführe wie eine Ehefrau?"
"Nein, wie eine teure Geliebte."
"Was Sie nicht sind."
"Seien Sie froh, Marques. Wenn ich es wäre, könnten Sie es sich nicht leisten."
Valerie ist ein Ausbund an Vulgarität, mit ihren großen Brüsten und ihrem falschen vornehmen Getue, ihrem kühlen falschen vornehmen Getue. Valfierno erträgt es nicht, daß ihn eine solche Oberflächlichkeit anzieht.
"Ich kann mir alles leisten, was ich will."
"Mich nicht, Valfierno. Vielleicht können Sie die Mädchen im Bois de Boulogne mit ihrer Kleidung täuschen, aber mich nicht. Wie lange schon zahlen Sie die Miete für diese Suite nicht mehr? Wie lange noch wird der Hausverwalter das dulden?"
"Ich kann es mir sogar leisten, keinen Centime zu haben."
"Marques ?"
Valfierno haßt sie, wenn sie so redet wie die Damen in den Fortsetzungsromanen. Eigentlich haßt er sie fast immer, und doch geht er immer wieder zu ihr und kauft ihr billigen, falsch glitzernden Schmuck und ist verzweifelt, wenn sie, wie so häufig, plötzlich verschwindet. Er stellt sich vor, wie sie irgendeinen Dreckskerl anfaßt, einen, der noch älter ist als er und reicher, und ihm echte Juwelen abschmeichelt, und das erträgt er nicht, und er verachtet sie, und nichts regt ihn mehr auf, und dann geht er wieder zu ihr, schickt ihr seine Gladiolensträuße. Er glaubt, daß sie nicht weiß, wer er in Wirklichkeit ist, und daß sie ihn nicht so behandeln würde, wenn sie es wüßte; er denkt, daß niemand weiß, wer er ist, und wenn sie wüßten ?
"Sie verstehen nichts."
"Nein, ich verstehe nichts."
Kurz nach ein Uhr mittags, die feuchte Hitze, Paris, Spätsommer. Valerie und Valfierno halten sich seit drei oder vier Uhr nachts, als sie von einem Ball in der Opera Comique heimgekommen sind, in diesem Zimmer auf. Valfierno war zu müde und zu betrunken, um mit ihr das zu tun, was er gerne getan hätte, und er bat sie, ihn durch Liebkosungen zu wecken, dann werde er sich rehabilitieren. Doch auch am Morgen hat er nichts Großartiges zustande gebracht, und jetzt möchte er nur, daß die Frau so schnell wie möglich verschwindet. Da er nicht wagt, sie darum zu bitten, hat er damit begonnen, sich anzukleiden, unter dem Vorwand, er müsse zu einem höchst unwahrscheinlichen Diner. Übrigens weiß er, daß, sobald sie hinausgegangen ist, er sie sofort vermissen wird: sie, ihre Rache.
"Darf ich Sie etwas fragen, Marques?"


3

Das Internat war gar nicht so schlecht. Die Priester sprachen fast in Versen und siezten mich und schlugen mich nur, wenn es nötig war. Doch es war nicht meine Welt. Sie war voller rauflustiger Jungen, die größer waren als ich und keine Rücksicht auf mich nahmen. Unter diesen Rüpeln war ich fehl am Platze. Später erfuhr ich, daß es die Söhne armer Land­arbeiter waren und man sie auf die Schule schickte, um sie vom Dreck der Schweine zu befreien, von den Frostbeulen an den Händen, von den Tagen, die vor Tagesanbruch beginnen. Nein, das war nicht meine Welt; aber als ich mich einmal beklagte, sagte meine Mutter zu mir, daß ich mich daran gewöhnen müsse und daß ich nicht wisse, welch ein Glück es sei, auf diese Schule gehen zu können, und wie gut der Señor zu uns sei und daß ich mich nie wieder beklagen dürfe.
Und ich beklagte mich nicht mehr, wartete aber auf die Samstage, an denen sie mich abholte und wir zusammen nach Hause fuhren. Vorher jedoch gingen wir im Stadtzentrum spazieren. Sie redete immer über die Schule und fragte mich aus und sagte, sie werde alles tun, damit ich ein gebildeter
und später dann ein wohlhabender Mann würde, sagte sie: immer "später". Ich glaube, schon damals, wenn meine Mutter von "später" sprach, dachte ich an einen anderen Ort als jenen.

Dann, als ich größer wurde, schämte ich mich, mit meiner Mutter durch die Straßen zu gehen.
Warum?
Ich würde sagen, sie wurde zu sehr angestarrt, ihre Schönheit war ein wenig schrill. Ihre Figur war schrill, ihre Aufmachung, alles an ihr war schrill.
Was wollen Sie damit sagen?
Also, wir sollten eines klarstellen, Journalist: Ich will nichts sagen. Wenn ich etwas sagen will, sage ich es.

In einer Stadt wie Rosario, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, erregt die Erscheinung jener Frau ­Aufsehen. Rosario hat soeben die Stadtrechte verliehen bekommen und ist in Wirklichkeit ein elendes Nest mit einem Hafen, das bemüht ist, eine Zukunft zu importieren. Der Hafen wird größer. Er wird dazu dienen, das Getreide zu verschiffen, das die Region lustlos, wie zufällig, in unglaublichen Mengen hervorbringt. Dazu, daß nach und nach aus europäischen - und vor allem italienischen - Häfen ganze Schiffsladungen mit begeisterungsfähigen und zu allem bereiten armen Teufeln eintreffen, die ihr Land verlassen haben, um sich hier durchzuschlagen, und die relative Harmlosigkeit dieses Kaffs dem bedrohlicheren, hochmütigen und abweisenden Charakter von Buenos Aires, dem wichtigsten Hafen, vorziehen.
Die Straßen der Stadt, das sind niedrige Häuschen mit
vergitterten Fenstern, vereinzelte Öllampen und nichts als schlammiger Lehm; einige wenige, rund um den zentralen Platz mit seiner halbfertigen Kirche und seinem Verwaltungsgebäude, sind gepflastert. An manchen Nachmittagen geht die Frau hier spazieren, so als wüßte sie nicht, daß ihre Erscheinung nicht zu dem Rest paßt: Sie stört das Gleichgewicht, stiftet Verwirrung. Im Zentrum einer Stadt wie Rosario in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - und noch einige Jahre länger, bis die Invasion dem ein Ende bereiten wird - sind alle Elemente nach Funktionen, nach strengen Vorbildern ausgerichtet. Der Herr Pfarrer hat seinen Platz, der Herr Vorsteher, seine Schreiberlinge und Schützlinge, die acht oder zehn in jüngster Zeit reich gewordenen Getreideaufkäufer und ihr halbes Dutzend Anwälte haben ihren Platz, die drei oder vier Ärzte, die wenigen Journalisten - sie alle Kandidaten dafür, früher oder später den Platz des Herrn Vorstehers oder einen ähnlichen einzunehmen -, der Friedensrichter, die alten Milizoffiziere, die, als sie sich vor zwanzig Jahren gegen einen fernen Diktator erhoben, den Startschuß für das Wachstum des Dorfes gaben, haben ihren Platz, und auch ihre Frauen, die Damen - was jene Herren so Damen nennen - haben ihren Platz auf den Straßen der Stadt. Den haben sogar die Frauen, die Milchbrötchen verkaufen und andere Leckereien, um den Hunger zwischendurch zu stillen, die Verkäufer von Kämmen und Zierkämmen und allem möglichen Tand, die Jungen, die sich anbieten, den Damen die Einkäufe nach Hause zu tragen oder ihnen beim Durchschreiten einer Pfütze behilflich zu sein, der Pferdeknecht, der Blinde und der Lahme vor der Kirche, die anderen Bettler, die ebenfalls eine Funktion in dem Ganzen erfüllen, die wenigen Polizisten, die all das bewachen - sie alle haben ihren Platz. Jene Frau jedoch hat keinen Platz auf den gepflasterten Straßen im Zentrum der Stadt, und dennoch geht sie an manchen Abenden dort spazieren.

Teil 3