Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Margit Schreiner: Haus, Friedens, Bruch. Teil 1

02.07.2007.
Kinder werden als Schriftsteller geboren. Sobald sie Geheimnisse horten, sind sie keine mehr. Später dann ist es schwer, in den Stand der Unschuld zurückzukehren mit all dem Wissen. Bruno glaubt ja, ich schreibe einen Krimi. Alle glauben das. Auch mein Verleger, Julias Klassenvorstand, meine Schriftstellerkollegen, das Literaturhaus. Sie alle erwarten von mir, dass ich einen unkonventionellen, aber spannenden Krimi schreibe. Alle Welt schreibt einen Krimi. Autoren, die vor zehn Jahren niemals einen Krimi geschrieben hätten, schreiben plötzlich einen Krimi, und in den Feuilletons werden praktisch nur noch Krimis besprochen. Sogenannte literarische Krimis, versteht sich.

Aber ich werde keinen Krimi schreiben. Ich habe nun wirklich andere Probleme. Zum Beispiel Julia. Oder das Alter. Oder die Rückenschmerzen. Oder die neue Wohnung. Oder die Zeit. Oder Himmel und Erde. Die sind für mich immer eins gewesen, früher. Wenn ich den Himmel gesehen habe, habe ich das Meer gesehen und umgekehrt. Eine kleine Drehung und eines kippte ins andere. Wenn ich irgendwo gesessen bin, an meinem Schreibtisch, an meinem Küchentisch, auf meinem Sofa, und es war ein stiller Sonntag mit diesem Licht und den gedämpften Geräuschen, eigentlich fast immer nur vormittags, und ich habe, so wie jetzt, aus dem Fenster geschaut und den blauen Himmel gesehen mit ein paar Wolken, die vorüberzogen, dann war viel Zeit und es war ganz gleichgültig, wo ich mich gerade befand: unter einem weiten Himmel oder auf einem weiten Meer, in meinem oder in einem fernen Land, irgendwo, irgendwann.

Und plötzlich ist mir der Überfluss an Zeit abhandengekommen. Und auf einmal war es gar nicht mehrgleichgültig, wo ich mich gerade befand. Ich war, wo ich gerade war, und nirgends sonst. Himmel und Meer waren nicht mehr eins. Ich erinnerte mich nur noch an die Zeit, als sie eins waren. Mit dem Tag und mit der Nacht war es ähnlich.
Seit ich allein verantwortlich bin für Julias und meinen Lebensunterhalt und die Zeit immer schneller dahinrast, hat der Tag aufgehört, in die Nacht und die Nacht in den Tag zu kippen. Dunkle Tage gehen nicht mehr über in strahlende Nächte. Sie sind voneinander getrennt, fein säuberlich. Auf einmal ist nachts die Zeit für die Angst und Zeit für den Schrecken und Zeit für die Gespenster. Aber jetzt ist bald Schluss damit. Jetzt wird alles anders.



I

An einem Mittwoch ist er geliefert worden. Bruno war wieder einmal nicht zu Hause. Schröder II und Haslinger haben ihn gebracht. Er muss sehr schwer gewesen sein. Die Kerle, die ihn brachten, sind ja kräftig. Und es dauert bis in den letzten Stock. Aber selbst Schröder II und Haslinger waren verschwitzt, als sie im vierten Stock bei mir angekommen waren. Ich schätze, er wiegt hundertfünfzig Kilo. Mindestens! Und wir haben keinen Lift. (Schröder II ist eigentlich ein Spitzname, den ihm der Haslinger gegeben hat. Weil der angeblich dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler so ähnlich sieht. Er heißt eigentlich Maximilian Schuster, und ich finde, er sieht viel besser aus als der ehemalige Bundeskanzler.)

Ich kochte für alle Kaffee. Kuchen hatte ich noch vom Vortag. Schröder II trank drei Tassen von meinem starken italienischen Espresso. Hasi (so nennt Schröder II den Haslinger aus Rache für seinen Spitznamen) trank keinen Kaffee, wegen seines Bluthochdrucks. Stattdessen aß er den ganzen Kuchen auf. Obwohl er garantiert nicht nur einen zu hohen Blutdruck, sondern auch einen zu hohen Cholesterinspiegel hat. Sie erzählten mir dann, dass sie vor Jahren nach einer Wette einen ihrer Freunde, einen Schwergewichtsboxer, von der Boxhalle in Ebelsberg bis nach Kleinmünchen getragen hätten. Im Triumph. Aber der Boxer sei immer noch leichter gewesen als mein Cumulus.

Es kommt jetzt natürlich darauf an, dass ich ihn gut bei uns integriere. Ich meine, die Wohnung hat nur eine begrenzte Zimmeranzahl. Und ich will ihn nicht bei meiner Tochter oben unterbringen. Allein wegen des Lärms in der Nacht. Die Zimmerwände im ersten Stock sind alle dünn und dementsprechend lärmdurchlässig. Julia sagt, wenn sich im Gästezimmer jemand im Bett umdreht, wacht sie schon auf. Darum schlafe ich ein Stockwerk tiefer, in der Abstellkammer. Es hilft nichts, er muss bei mir unten bleiben.

In der Nacht kommt er in Wellen, die werden höher und höher, schließlich krallt er sich fest in meinem Magen, bis der sich umstülpt. Dieser Schmerz ist zum Erbrechen, zum Sich-Krümmen, zum Heulen. Ich habe schon begonnen, mit mir selbst zu reden. Ich habe zu mir gesagt: Hör auf zu heulen, davon wird es auch nicht besser. Pass lieber tagsüber auf, was du zu dir nimmst und was nicht, sage ich nachts zu mir. Du darfst keinesfalls nach fünf Uhr abends essen. Du darfst auch keine Süßigkeiten naschen, sage ich zu mir selbst, das verträgst du nicht. Wer so viele Süßigkeiten isst wie du, ist selber schuld. Du solltest auch keine Essigwürste essen oder Schmalzbrote. Und keinesfalls Fertigprodukte. Reiß dich zusammen, sage ich zu mir, denn du weißt, dass du den Schmerz hinnehmen musst, wenn er kommt. So wie alles andere im Leben auch, das du nicht ändern kannst. Die Wahlen in Österreich, den Absatz deiner Bücher, das Schicksal deiner Tochter, die Grippe. Du weißt, dass du nicht allmächtig bist und die Welt nicht so erschaffen kannst, wie es dir passt. Du weißt, dass es Dinge gibt, die du nicht beeinflussen kannst. Du bist nicht Gott, sage ich in jenen Nächten zu mir. Aber dann schnürt es mir weiter die Kehle und den Magen zu. Ich kann nichts dagegen tun. Wenn die Angst kommt, alles könnte mir entgleiten, oder mein Kind könnte unglücklich werden oder krank, oder ich könnte krank werden und der kranke Körper die Oberhand bekommen über mein Leben und mich aus der Bahn werfen, dann bin ich ein entmachteter Gott. Wenn ich krank bin, verdiene ich kein Geld. Allein bei dem Gedanken überfällt mich die Panik. Sie kommt in vielen Gestalten. Sie kommt als Schlaflosigkeit und sie kommt als Schweißausbruch. Manchmal kommt sie als Albtraum. Dann wieder als Hustenanfall, als Atemnot, als Zittern am ganzen Leib. Sie kommt als Blutleere und Blutfülle, als Brennen im Hals und manchmal am ganzen Körper. Sie kommt als Zucken in den Beinen, als Brechreiz, als Durchfall, als Starre. Ich sage zu mir: Der Schweißausbruch geht vorbei, du musst dich nur wieder beruhigen, der Albtraum ist nur ein Traum. Ich huste und sage mir, der Husten hört auf, du hast bloß einen Infekt, ich sage mir, die Atemnot ist nur Hysterie, du hast ja gar kein Asthma. Das Zucken in den Beinen kommt von der Schlaflosigkeit und der Brechreiz vom späten Essen. Auch die Albträume können daher kommen, sage ich zu mir, und der Durchfall. In die Starre verfällst du, sage ich mir, weil du dich hilflos fühlst, und du bist auch hilflos, weil du nicht mitten in der Nacht aufstehen und alles ändern kannst. Du wirst eben älter. So wie alle anderen auch. Du kannst die Zeit nicht aufhalten, sage ich mir. Das musst du aushalten. Aber ich halte es nicht aus. Manchmal springe ich aus dem Bett, schweißgebadet, und dusche. Danach ziehe ich mich um und lege mich wieder hin. Oder ich springe aus dem Bett und laufe schweißgebadet, wie ich bin, auf die Terrasse hinaus. Der kühle Nachtwind trocknet den Schweiß, und meine Haut wird kalt wie die einer Echse. Ich setze mich auf die Terrasse und rauche eine Zigarette. Oder ich trinke ein Glas Wasser, oder ich beginne mitten in der Nacht zu lesen. Das Problem ist nur, dass mich in diesem Zustand nichts interessiert. Ich verstehe die Sätze nicht. Sogar die einzelnen Wörter sind mir ganz fremd. Ich verstehe sie nicht: "Tisch", "Holz", "Bein" - alles entgleitet mir.

Teil 2

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