Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Jagoda Marinic: Die Namenlose. Teil 2

16.07.2007.
Daher trage ich den Zweitschlüssel des Fahrrads noch am Schlüsselbund. Manchmal male ich mir aus, auf ein Inserat zu antworten und auf diesem Weg wieder auf mein Fahrrad zu stoßen. Dabei war nichts Außergewöhnliches an diesem Rad, nur den Einkaufskorb und die runde Lampe am Lenkrad mochte ich, manchmal auch das grelle Läuten der Klingel, ja, eigentlich vermisse ich vor allem den nächtlichen Lichtkegel und wie er vom Lenkrad aus auf den Asphalt fiel. Mein Klapprad ist jedenfalls diebstahlgesichert. Ebenfalls silbern, kein Licht. Ich trete aus dem Hauseingang auf die Straße. Die Luft ist klar. Ich werfe einen Blick durch die Bäume in den gegenüberliegenden Park und sehe einen Hund, wie er über die Wiese rennt.

Zur Arbeit. Meine Arbeit ist Arbeit, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Mit meiner Arbeit habe ich großes Glück, mehr Glück als die meisten, die sich in einer Arbeit verwirklichen wollen. In meiner Arbeit suche ich keine Selbstverwirklichung. Ordnung ist das einzige,was ich suche.


Als Vater nicht mehr Vater war, nahm Mutter, als sie noch Mutter war, mich in den Schulferien mit in die Apotheke, in der sie arbeitete. Über der Eingangstür thront ein großes A in Leuchtrot; hinter der Eingangstür Menschen in weißen Mänteln, die verkaufen, aber keine Verkäufer sind. Mutter rührt in einem Raum voller Golddosen Medikamente an. Der weiße Kittel über ihren schmalen Schultern, ihr Kleid darunter, die Spitzen des Unterrocks lugen hervor, die feinen dunklen Schuhe. Sie steht vor der Goldwaage, wählt dann und wann aus den vielen Golddosen eine, die sie aus dem Regal zieht und deren Inhalt sie mit einem silberfarbenen Meßlöffel auf die Goldwaage legt. Anfangs trägt sie die Haare offen, erst wenn sie ihr wiederholt die Sicht auf die Meßwerte verstellen, bindet sie sie zu einem dunklen Zopf. Wenn sie mich mitnimmt, bedient sie keine Kunden, sondern steht im oberen Stockwerk in diesem Goldwaagenzimmer. Wenn ich ihr nicht gebannt zusehe, dann drehe ich hinter ihrem Rücken die durchsichtigen Knallplastikfolien voller kleiner runder Blasen zu einem Dauerkrach zusammen. Knallplastiktüten. Drehplastiktüten. Bis heute weiß ich nicht, wie sie heißen. Manchmal lächelt sie zu mir herüber, wenn das Knallen besonders laut wird, und formt ihren Mund zu einem ovalen "Pssst».

Manchmal, wenn nicht viel zu tun ist, darf ich zu ihren Kolleginnen in den Verkauf. Ich sitze auf Kletterhilfen, kleinen grauen Rundhockern, die als Ersatzleitern dienen, wenn die Kolleginnen nicht ganz so hoch hinaufsteigen müssen. Dann muß ich für ein paar Sekunden aufstehen und freue mich an den hohen Schränken. Von hier unten wirken sie wie endlos nach oben wachsende Kletterwände. Es gibt auch richtige Leitern, auf die die Kolleginnen klettern, um an Medikamente zu gelangen. Der Chef und die Kolleginnen in Weiß wissen immer ganz genau, wo was steht, und denken nicht an das, was sie tun.*
      * "- weil sie es immer tun." Dieser Gedanke wurde von ihr gestrichen. Beinahe hätte sie diesen Gedanken gedacht, doch dann: postwendend an mich zurück, er hätte ja ihr Leben in Frage stellen können. Ich muß alle Sätze zurücknehmen, von denen sie meint, sie nicht ertragen zu können. Immer wieder muß ich Sätze zurücknehmen.

     Routiniert schieben sie die Leiter an die Stelle, an der sie sie brauchen. Nie ärgert sich ein Kunde. Ich freu mich an der Ordnung und daran, daß alles immer so glimpflich abläuft.


Nach mehreren Tagen in der Apotheke sortiere ich zu Hause alles, was mir unter die Finger kommt: Tassen und Teller, Gemüsedosen und Nudelsorten. Ich denke mir für alles ein System aus, um die Dinge sofort und auf Anhieb finden zu können. Sobald sie jemanden kennenlernt, kaufe ich Mutter ein neues Adreßbuch, um alle alten Adressen nach einem wieder neuen Ordnungsmuster übertragen zu dürfen, sei das nun nach Namen, Wohnvierteln, nach der Dauer der Bekanntschaft oder den Haarfarben. Für jedes neue Rezept, das ihr gefällt, bastle ich ihr ein neues Rezeptbuch. Von Bücherwänden weiß ich noch nichts, Bücher sollte ich erst später kennen- und sortierenlernen.


Jetzt ist aus dieser Erinnerung mein Beruf geworden. Es ist ein Beruf, indemdas Eigenleben der Einzelteile nicht interessiert. Das, was ich einordne, könnte ebensogut eine Martha, Hilde oder Roswitha einordnen. Auch Martha, Hilde oder Roswitha würden neugierigen Kunden freundlich antworten, daß es ihnen gutgehe, ganz gleich, wie es ihnen ginge. Nur im Gegensatz zu Martha, Hilde oder Roswitha würde man es mir glauben. Ich sehe nämlich immer viel besser aus, als es mir tatsächlich geht. Es ist geradezu unerträglich, wieviel besser ich aussehe, als es mir geht. Diese Ausstrahlung hat mir Mutter vererbt, Mutter, als sie noch Mutter war.


Jetzt rempelt mich auf dem Bürgersteig ein fetter älterer Mann an. Ja, hab ich mich jetzt klappradklein gemacht, damit du Fettwanst mich anrempelst? denke ich, sage gar nichts, er sagt ja auch gar nichts. Ich wünsche ihn verletzt zu haben, aber dann hätte ich ihn kennenlernen müssen, und das hätte dann auch nicht sein müssen, so. Auf dem Weg zur Arbeit schon wieder soviel mitmachen müssen, daß ich kaum noch etwas erleben möchte am heutigen Tag. Eine Kleinstadtkindheit ist nicht auszulöschen, schon gar nicht von einer Großstadt.


Früher dachte ich, man zieht in eine Großstadt, um seine Ruhe zu haben. Doch keine Ruhe weit und breit. In der Großstadt muß man ständig einen Ausweis mit seinem Erlebniskatalog vor sich hertragen. Jeder möchte jeden glauben machen, daß er viel erlebt habe und daß es ihm gutgehe dabei. In einer Kleinstadt hat man, zumindest was das Gutgehen anbelangt, seine Ruhe. Da will jeder jedem nur aufzeigen, wovon er sich belästigt fühlt; daß es ihm gutgeht, das zeigt ja schon das Auto. Das Auto der Großstadt: Theater, Kinos und Konzertsäle. Ich habe weder ein Auto, noch besuche ich Theater, Kinos und Konzerte. Ich lebe asketisch, ganz ohne Buddhismus und so bedürfnislos, daß ich nicht einmal zu meditieren brauche. Ich mußte all das Bedürfen, Bedürftigsein und Bedürfnissehaben abschaffen. Wer soll bei soviel Bedürf- noch klar denken? Und ich muß klar denken. Ich kann nicht, wie so viele, tun, wozu ich keinen Nerv habe, und dabei betonen, es gehe da um die lineare Verwirklichung meines tieferen Selbst. Überall Informationsquellen für mein tieferes Selbst:

Hochglanzbilder, Sprechapparate, Kostümbälle, Plakatrausch, Neonröhren, Werbebanner, Bildschirme in Straßenbahnen für die unnötigsten Bedürfnisse. Deswegen meide ich Fernsehen, Zeitschriften, Ausgehen und inzwischen auch die Bücher, die ich einordne. Auch sie schüren Bedürfnisse. Nichts als Hochglanzworte für die Seele.


Jenseits meiner netten kleinen Vierzimmerwohnung, die ich mir mit diesen beiden seltsamen, nicht altersgerechten Großstädtern (geboren in Wien, aufgewachsen in München, verliebt in New York - das soll einer aushalten) teile, gibt es hier wenig. Schaufenster und Konsumquadrate. Schon nach wenigen Minuten Stadtlauf weiß ich nicht weiter. Nicht mal einen Aufzug kann ich betreten, ohne mit mir selbst konfrontiert zu werden. Auf Schritt und Tritt Spiegel und Glasfenster. Wie war das Leben ohne Glasscheiben und Quecksilberspiegel? Dank ihrer Hilfe braucht man keine Spitzel. Der Spitzel sitzt bereits im Hirn. Und von da aus sieht er alles. Wirklich alles. An jedem Spiegel, an dem ich vorbeigehe, prüfe ich streng, ob ich bin, wie ich sein soll. Und wenn ich bin, wie ich sein soll, denke ich, daß ich mir gefalle. All das hab ich durchschaut, seit ich in der Großstadt bin. Doch es bringt mir nichts. Denn schon beim nächsten Spiegel höre ich mich denken: Aha, ich gehe aufrecht. Sehr gut! Aufrechtgehen ist grundlegend, zweifellos erstrebenswert und beweist Rückgrat, zeigt erstens, daß ich weiß, wo ich hinwill, und zweitens, daß mich von meinem Weg keiner abbringen kann. Die Nase halte ich beim Aufrechtgehen ein wenig zu hoch. Liegt das am steifen Nacken? Brauche ich ein Qualitätskissen? Ferner ist meine Gesichtshaut nicht rosig. Eher rot. Doch leider an den falschen Stellen. Ich werde Mittel und Wege finden, werde in die nächstbeste Apotheke eilen, mich beraten lassen und Geld ausgeben, werde die Packungsbeilage beachten und meiner Haut wochenlang dabei zusehen, wie sich nichts ändert. So wie sich auch an den Haaren nichts ändert: Immer brauche ich ein neues Haarmittel. Mal eins gegen mangelnde Standkraft bei miesem Wetter, dann eins gegen zu wenige Haare bei sich häufender beschissener Laune ? Vor allem, wenn man im Schatten von einer geht, die es geschafft hat: Ihre Haare fallen fernsehreif, ihr Deckhaar wirkt schwarz poliert. Wie macht sie das? Irgendwie macht sie das doch! Welche dieser Polituren mir wohl am besten stünde? Mein Kopf rauscht. Ich brauche ein Eis, eine Ablenkung, ein Kompliment.

An der nächsten Ecke steht wie bestellt ein Italiener, der gerade sein Fähnchen mit Waffel und drei Kugeln Eis darauf an die Ladentür hängt. Hier bin ich goldrichtig. Der Italiener lächelt mich an, und mir sticht der Glanz seiner schmalen Lippen ins Auge. Von weitem schon gut erkennbar, wie seine Lippen, frisch beleckt, fast labelloisiert leuchten. Natürlich spricht er mich an, wie mich immer die Falschen ansprechen. Er geht hinter die Theke, ich starre auf die zahllosen Eissorten und wage nicht, den Blick vom Eis auf seinen Mund zu richten, weil ich fürchte, es könnte etwas vom Glanz seiner Lippen den Weg auf mein Eis gefunden haben. Natürlich möchte ich kein Eis von diesem sabbrigen Herrn, aber manchmal hat man keine Wahl, manchmal lähmt einen der Ekel bis zur Sprachlosigkeit. Ich kaufe also zwei Kugeln im Becher, damit das Ganze glaubwürdig wirkt. Der Becher soll halten bis zum nächsten Mülleimer. Natürlich habe ich aller Unnötigkeit zum Trotz ein schlechtes Gewissen, weil er mir das Eis auch noch schenken mußte: Für meine erste Kundin heute. Bitte schön. Strahlendes Lächeln mit benetzten Lippen. Besten Dank.

Beim nächsten Blick in das Schaufenster eines kleinen Kiosks sehe ich eine Broschüre, darauf ein junges, verbrauchtes Gesicht. Verbraucht wie jedes andere in dieser Gesichterflut, weil diese ganzen Gesichter heutzutage nichts als gesehen werden wollen, permanent und überall. Dabei war es früher sicher auch nicht besser. Ich glaube nicht, daß es je besser war als jetzt, was nicht heißen soll, daß es jetzt besser ist denn je. Auch in alten Zeiten gab es Leben, und wie soll Leben anders sein als Leben, ganz gleich, inwelcher Art von Scheiße man nun steckt.


Endlich bei der Arbeit. Hier passiert nicht viel, vielleicht ist es das: ein wenig Ruhe, weg von dieser lärmenden Straße, die ich jeden verdammten Morgen ablaufen muß. Der Tag vergeht schnell, meine Arbeit ist unspektakulär. Manchmal schäme ich mich dafür, aber nur vor anderen, die soviel tun. Vor mir selbst bin ich froh, daß ich Ruhe habe, daß ich nach Hause gehen kann, noch einmal diese verdammte Straße ablaufen muß, und das war?s. Keine großen Inhalte. Einfache Tage. Ich wollte keine Arbeit, die mehr von mir verlangt.*
      * Namenlose, was für Tage du lebst ? Wie soll ich das eine ganze Woche lang aushalten? Du Verletzte, angestrengt und anstrengend - dennoch verdienst du Aufmerksamkeit. Nicht dennoch: deswegen! Du bist so haßerfüllt, wutentbrannt, ungezügelt, versuchst dich in einer Verweigerung und findest keine passende Form. Genauer: keinen Gegner.Wem gilt deine Verweigerung? Gilt sie mir? Dem Rest der Welt? Dir selbst? Fürchtest du dich davor, durchdrungen und erkannt zu werden, und zeigst dich deshalb nicht? Die Scham über das Gläserne an dir brächte sogleich die nächste Verwundung.
Wie soll ich sie verstehen, wie soll ich sie in diesen Denkbahnen, die sie ihrem Alltag erklärt hat, erreichen? Sie hat Angst davor, verstanden zu werden - und zugleich keinen größeren Wunsch. Ihr Wunsch, durchdrungen zu werden, ist mein Wunsch nach Auflösung
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Teil 3