Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hasan Ali Toptas: Die Schattenlosen. Teil 1

13.07.2006.
1

Der Frisör hob einen Augenblick lang die Scherenspitze hoch in die Luft wie ein Glas, als ob er mir zuprosten wolle, und rief: "Einen schönen guten Morgen!"
     Vielleicht sagte das auch sein Lehrling, bloß hörte man bei dem nichts, sondern sah nur seinen Mund auf- und zuklappen. Der Junge tänzelte um den Frisörstuhl herum und ließ sich keine einzige Bewegung seines Meisters entgehen. Der schien mit seiner klappernden Schere irgendeine fremde Melodie zu spielen, und nach der tanzte der Lehrling unentwegt. Nur ab und zu sah er sich nach den stumm in der Ecke wartenden Männern um. Das mochten die Zuschauer sein, deren Blicke den Tanzschritten des Lehrlings folgten und deren Ohren und Herzen dem Klappern der Schere lauschten.
     Da verstummte das Geklapper mit einem Mal. Der frisch frisierte Mann erhob sich wie ein Häuflein Elend, das der Tanz übel zugerichtet hatte, aus dem Frisörstuhl und zog seine Jacke an. Er drückte dem Lehrling ein Trinkgeld in die Hand und sagte zum Frisör: "Bin ganz verzagt. Hat wieder nichts geholfen ..."
     Als der Mann zur Tür hinausging, sah der Frisör ihm noch eine Weile wortlos nach. Dann drehte er sich zu den Kunden um. Ein Mann mit einer pechschwarzen Gebetskette in der Hand ließ zum Zeichen, dass nun wohl er an der Reihe sei, einen Ruck durch seinen Körper gehen. Dies aber nahm der Frisör nicht wahr, und falls doch, so ignorierte er es, und als wollte er noch einmal unterstreichen, wer hier der Tanzmeister sei, sagte er zu dem Mann mit dem Ziegenbart neben mir: "Bitte schön."
     "Auf zum nächsten Tanz", dachte ich mir. Der Kunde erhob sich schweigend und ging auf den Frisörstuhl zu, wo der Lehrling schon mit einem Handtuch bereitstand. Der Frisör suchte ein Rasiermesser auf dem Ladentisch aus und schielte dabei in den Spiegel, in dem er den Ziegenbärtigen kommen sah. In seinem Blick blitzte es wie aus Henkersäuglein auf.
     "Diesmal scheint es ein blutiger Tanz zu werden", durchfuhr es mich. Nun klapperte die pechschwarze Gebetskette, deren Perlen, vom Zorn eines übergangenen Mannes gerührt, zitternd aneinander prallten. Jetzt wurde mit einem neuen Instrument aufgespielt, und die Heftigkeit, mit der hier geklappert wurde, passte zu einem blutigen Tanz auch viel besser. Alles war bereit: Der Ziegenbärtige hatte wie ein stummes Opfer auf dem Stuhl Platz genommen, der Frisör eine Klinge ausgewählt und der Lehrling dem Kunden ein weißes Tuch umgebunden und ihm dessen Enden bis über die Knie gezogen, vielleicht wegen des bald herumspritzenden Blutes?
     Es folgte eine tiefe Stille.
     "Warum sagen Sie denn gar nichts?", fragte der Frisör. Hastig suchte ich nach seinen Augen: Sie blickten aus dem Spiegel keinen anderen als mich an.
     "Was soll ich denn sagen?", fragte ich unruhig wie jemand, der sich auf einen blutigen Tanz gefasst macht.
     "Na irgendetwas", sagte er. "Hauptsache, Sie erzählen uns was." Das war eine Art Vorverhör; schon bevor man auf dem Frisörstuhl saß, wollte er das eine oder andere aus einem herauskitzeln. Ich sah, wie es in seinem Blick immer wieder wie aus Henkersaugen aufblitzte.
     "Ob Sie wieder einen Roman schreiben, zum Beispiel."
     "Ja", antwortete ich wortkarg. Gleich darauf schweiften meine Augen zu dem Bild, das der Frisör gemalt und über dem Spiegel aufgehängt hatte. Es war eine Kohlezeichnung, eine riesige Taube. Vom vielen Zigarettenrauch war die Zeichnung schon ganz vergilbt, und die Ränder hatten sich gebogen.
     "Und wie heißt er?"
     Unsere Blicke trafen sich im Spiegel.
     "Der Roman?", fragte ich geistesabwesend zurück. "Das weiß ich noch nicht."
     Die pechschwarze Gebetskette verstummte plötzlich. Der Frisör ließ den Rasierpinsel herabsinken und sah mit großen Henkersaugen auf die Straße hinaus. Es war, als erhebe sich sein Blick über sämtliche Straßen der Stadt und ginge ganz weit in die Ferne, hinter die Berge, an irgendeinen Ort. Vielleicht war das der Teil des Frisörs, der nicht mehr in ihn hineinpasste, und er saß nun in irgendeinem Dorf, in seiner Frisörskluft, in genauso einem Laden, wandte hin und wieder den Kopf und schaute zu uns herüber.

2

Dann sah er zum Bürgermeister hinüber, der gerade über den Dorfplatz ging. Die beiden winkten sich aus der Ferne zu.
     "Du gehörst jetzt auch zu diesem Dorf", dachte der Bürgermeister und lächelte dabei vor sich hin. Bei diesem Lächeln wurde ihm auf dem Heimweg leicht ums Herz, und es ließ ihn all die Mühen vergessen, die der Wahlkampf ihn gekostet hatte. Als er durch die Flügeltür in den Hof seines Hauses trat, war seine Frau gerade dabei, Kopfsalat mit Olivenöl zu beträufeln.
     "Und, hast du gewonnen?", fragte sie und vergaß dabei ganz die Hand über dem Salat. Der Bürgermeister riss sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn zur Tür.
     "Und ob!", rief er. "Sie haben mich wiedergewählt!"
     Dann stieg er die Leiter hinauf, die zum Flachdach führte, und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben den Kamin. Auf einem Tablett vor ihm streckte ein gebratenes Hühnchen in Tomatensauce die Beinchen in die Luft, daneben warteten eingelegte Paprikaschoten, ein Salzstreuer, extradünnes Fladenbrot und Rakµ. Alle vier Jahre ließ er sich dieses Mahl zusammenstellen, setzte sich dann alleine hin und feierte seinen Sieg. Er schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das im Schatten der Felsen liegende Dorf, und so lange, bis die Dunkelheit die Lehmdächer ganz und gar verschlungen hatte, tauchte er seinen Schnurrbart in den Rakµ. Das half aber nichts: Statt zu grünen und zu blühen, wurde der Schnurrbart von Jahr zu Jahr grauer.
     Es gibt doch wahrhaftig kein so schmählich von Gott und dem Staat verlassenes Dorf wie dieses, dachte der Bürgermeister; und jedes Mal wenn er zum Trinken ansetzte, blieb sein Blick an den in Finsternis gehüllten Felsen hängen. Obgleich er wusste, dass er dort nichts sehen würde, wäre er am liebsten auf den höchsten Punkt hinaufgestiegen, um sich am Anblick der dahinter liegenden Wälder, Almen und Weiden zu ergötzen. Dann wandte er den Blick zur Ebene hin und sah lange zum fernen Horizont. Dabei kamen ihm so absurde Gedanken wie der, dass man diese Berge womöglich abtragen müsste, um Gott oder den Staat dazu zu bringen, diesem Dorf auch nur einen einzigen Blick zu schenken. Das dünkte ihn dann aber doch eine Gotteslästerung, sodass er zur Abbitte die Namen sämtlicher Propheten herunterleierte, die ihm gerade einfielen, vom Händler bis zum Schmied und vom Ringer bis zum Arzt. Vielleicht brauchte er ja gar nicht so viel zu saufen, denn über kurz oder lang würde der Staat ganz ungebeten seine Aufwartung machen und mitten in der Ebene seine ganze Kraft walten lassen. Dann würde der Staat sich sagen, da muss es doch irgendwo ein Dorf geben, wo ich meine Fahne wehen lassen und mich noch weiter entfalten kann, und er würde sich vor dem Bürgermeisterbüro aufpflanzen. Über dieses plötzliche Wunder würden vermutlich die weißbärtigen Alten am meisten staunen, denn die hatten schon in ihrer Kindheit gehört, dass der Bau von Bewässerungskanälen bevorstehe. Jahrelang erzählte man sich das. Es hieß sogar, am Vorabend irgendwelcher Wahlen seien einmal Parlamentsabgeordnete in die Ebene gekommen und hätten darüber beratschlagt, ob besagte Kanäle nun eher hier oder vielmehr da zu verlaufen hätten, und zur Bekräftigung seien dann sogar Pflöcke eingeschlagen und Schnüre gespannt worden. Aus dem Dorf hatte zwar niemand diese Männer gesehen, doch wäre das ohnehin nur schwer möglich gewesen, denn bis vom Dorf jemand zu Fuß bis dorthin gelangt wäre, hätten die Abgeordneten schon längst wieder ihre Autos bestiegen und wären zurück in die Hauptstadt gefahren.
     Schnell kippte er wieder ein Glas und strich sich dann den Schnurrbart. Er atmete nun schwer, und es fröstelte ihn. Erst knöpfte er seine Jacke zu und kauerte sich zusammen, dann machte er sie doch wieder auf und versuchte sich aufrecht hinzusetzen.
     Irgendwann fand er sich in den Armen seiner Frau und seines Sohnes wieder. Sie standen an der Leiter. Seine Frau sagte gar nichts, doch sein Sohn knurrte hin und wieder kopfschüttelnd etwas vor sich hin. Der Bürgermeister verstand nicht, was sein Sohn da murrte, und versuchte nur, sich immer wieder nach hinten zu beugen und ihm ins Gesicht zu sehen. Beim Hinabsteigen gelang ihm auch das nicht mehr, und atemlos ließ er seinen Kopf vornüberfallen. Bevor sie ihn ins Bett legten, kotzte er sich die Seele aus dem Leib. Er würgte Tomatenscheiben heraus, und aus den Mundwinkeln hingen ihm Fetzen von Salatblättern. Er stierte mit Kalbsaugen vor sich hin, hielt sich mit der einen Hand den Bauch und griff mit der anderen ins Leere. Als er endlich den Kopf auf sein Kissen bettete, atmete er tief durch. Ihm war, als hätte er die ganze Nacht über auf dem Dach Rakµ getrunken.
     Als Letztes sagte er noch: "Vor heute Abend braucht ihr mich gar nicht zu wecken."

Teil 2