Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Francisco Ayala: Wie Hunde sterben. Teil 3

06.03.2006.
Darauf folgt das Sich-Weiden an schauerlichen Einzelheiten, das Erstaunen über vermeintliche Musterfälle, die sogar Bewunderung auslösen. Chino Lopez wurde in der Schlucht San Jose Bendito an den Füßen an einem Baum aufgehängt gefunden, den Mund mit den faulen Zähnen hatte man ihm mit seinen eigenen Genitalien gestopft - wem kämen da nicht seine abgeschmackten Witze als sachkundiger Kastrierer in den Sinn, mit denen er immer hausieren ging, und wer brächte nicht den Namen des verstorbenen Senador Rosales ins Spiel, seines angesehensten «Kunden»? Oder wie sollte man nicht mutmaßen, daß den Halunken Jose Lino Ruiz (Gott hab' ihn selig) nichts anderes den Kopf kostete - was sonst hätte es denn sein sollen! - als die Aufschneiderei mit seinen endlosen Karambolagen im "Gran Cafe y Billares de la Aurora", wie den Galicier Rodriguez die scharfzüngigen Zweideutigkeiten in seiner Kolumne der Tageszeitung "El Comercio"(4)?

Zwei spanische Journalisten arbeiteten in der Redaktion dieser bedeutenden Lokalzeitung, und beide kamen um - Opfer, so hat es den Anschein, ihrer eigenen Verwegenheit. Den zweiten, Camarasa, sahen manche auch schon auf der Liste, seit er vor einem oder zwei Jahren den berühmt-berüchtigten unbedachten Artikel "Wie man eine Nation erschafft" schrieb, der so viel Staub aufwirbelte und ihm angesichts der gegenwärtigen Umstände zum Verhängnis werden sollte. Es ist doch die Höhe, ums Leben zu kommen, nur weil man besonders witzig sein will. Aber wenn dieser Scherz auch eine politische Spitze hatte, und bei genauem Hinsehen sogar eine ziemlich scharfe, niemand hätte es als Vorwand anführen mögen, weder im Falle der schulmeisterlichen Geißelungen des Galiciers Rodriguez noch im Falle der harmlosen Karambolagen des armen Jose Lino. Auf alle Fälle war der Autor, als er sich einen Spaß daraus machte, diese Hanswurstiade aufs Papier zu klecksen, weit davon entfernt zu ahnen, was für einen Preis er in Bälde dafür zahlen sollte. Camarasa war ein heißblütiger Andalusier und mit seiner spöttischen Ader unfähig, Zunge oder Feder im Zaum zu halten; aber im Grunde war er kein schlechter Mensch.

Sicher ist auch, daß im Roulette so stürmischer Zeiten wie der jetzigen ganz unverhüllt und ungeschminkt offenbar wird, wie jener rätselhafte Anteil am Menschenleben, den wir Schicksal nennen, eigentlich auf uns einwirkt: Glück oder Unglück eines jeden erweist sich dann im überraschenden Zusammenspiel all dessen, was man Zufall nennt. Aber es gibt auch Vorgänge, da wäre ein wahres Wunder vonnöten gewesen, um das so klar vorhersagbare Schicksal abzuwenden, wie beispielsweise das unserer glücklosen Primera Dama(5) der Republik, der unvergleichlichen Doña Concha(6), über die sich wohl Hunderte von Freiwilligen hermachten (um es mit einem Augenzwinkern zu sagen), dort in den Gefängniszellen der "Inmaculada"(7), bevor ein sadistischer Trottel dem allgemeinen Zeitvertreib ein Ende setzte und ihr den Schädel einschlug. Die illustre Matrone hatte sich mit ihrem eigenen Benehmen solch ein klägliches Ende eingehandelt, und es gab nicht wenige, die es als verdiente Strafe betrachteten. Nicht ungestraft - führten sie an - trägt man seinen Busen jahrelang zur Schau, auf Fotos, im Kino, in den Zeitungen, im Fernsehen. Auch die Öffentlichkeit kann zu einem zweischneidigen Schwert werden ... Aber es gibt da etwas, was noch niemand weiß, und es ist eines der Geheimnisse, das ich der Welt offenbaren will: nämlich, daß die gute Señora ihr entsetzliches Ende tatsächlich verdient hatte, nicht wegen der läßlichen, immerhin fortwährend erneuerten Schuld, die Reize ihrer hochgewölbten Brüste urbi et orbi (8) zur Schau gestellt zu haben, sondern aufgrund ihrer kriminellen Machenschaften, verführt durch wer weiß was für unselige Anwandlungen shakespearischer Heldinnen(9). Dies geht eindeutig aus Tadeo Requenas Memoiren hervor, und so wird es ausführlich zu belegen sein, wenn in den vorliegenden Aufzeichnungen der Zeitpunkt gekommen ist.


III

Was für eine Wundertüte ist doch die Welt; und wie vieles davon enthalten die besagten Memoiren! Wer hätte das vermutet! Weniges entgeht meinem scharfen Blick in diesem unerforschten Urwald-Athen mitten in den amerikanischen Tropen. Wegen meiner Behinderung muß ich mich mit der Rolle des bloßen Zuschauers begnügen; von meinem Sitz aus sehe und erfasse ich, was von den anderen kaum jemand wahrnimmt. Das sind die Entschädigungen, die dem Gelähmten die Perspektive aus dem Rollstuhl bietet. Können Sie sich vorstellen, was ein kleines Mäuschen am Ausguck seines Mauselochs oder ein Kanarienvogel in seinem Käfig alles mitbekommt, was nämlich die Leute tun und sagen, sobald sie sich unbeobachtet fühlen? Still in meinem Winkel verharrend, während die andern kommen und gehen, oder auch abgestellt hinter den Billardspielern, die sich vornüberbeugen, um ihre Stöße sorgfältig vorauszuberechnen, und dabei ihren Hosenboden zeigen, habe ich mehr von der Welt gesehen und habe mehr erlebt als viele andere, die atemlos von Schauplatz zu Schauplatz eilen. Aber trotzdem muß ich gestehen: Der junge Sekretär Tadeo Requena hat mich fassungslos gemacht. Mäuschen hin, Kanarienvogel her - die Entdeckung der Memoiren war für mich ein Donnerschlag, von dem ich mich noch nicht wieder erholt habe. So war es also, dieses unscheinbare, graue, verschwiegene, zweifellos intelligente Subjekt, dieses rücksichtslose, kaltblütige, ganz und gar verabscheuungswürdige Reptil, dieser Ausbund von einem gewissenlosen Emporkömmling, Paradebeispiel eines schamlosen Mulatten, wie sie heutzutage landauf, landab ihr Unwesen treiben, im Innersten gleichwohl ein Herr mit durch und durch literarischen Ambitionen, ja obendrein auch noch ein unerbittlicher Kritiker der Gesellschaft in seinem Umfeld, ausgestattet mit der Gabe, seinen Groll in Hohn und Spott umzumünzen, einer schließlich von jener Sorte Mensch, die sich den Luxus gestattet, der eigentlich nur den Behinderten zusteht, ihre müßigen Stunden damit zu verbringen, Blatt um Blatt zuzukritzeln und vollzuschmieren aus dem alleinigen Vergnügen heraus, sich anzuprangern, sich zu verraten und feilzubieten; meine ich damit, daß er war wie ich, einer meines Zuschnitts, ein Geistesverwandter? Wäre mir dieses Bündel Papier nicht zufällig in die Hände gefallen, sondern statt dessen in den Müll geraten, wie es in Zeiten wie der unseren und bei der herrschenden Unordnung nur normal gewesen wäre, dann: Lebe wohl auf immer, Tadeo Requena! Zusammen mit seinem von Schüssen durchsiebten Leib wäre auch sein zweifelhafter Name zu Grabe getragen worden, und damit ein Teil unserer Zeitgeschichte, die zwar für den Rest der Welt unmaßgeblich ist, für uns aber immerhin denkwürdig und lehrreich und bis zu einem gewissen Grad beispielhaft bleibt. Denn Tatsache ist, daß diese Memoiren das Herzstück in der Reihe von Dokumenten darstellen, die ich hier zusammentrage, um später Auszüge davon als Grundlage für mein geplantes Buch zu übernehmen.

Mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlages

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