Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Dzevad Karahasan: Der nächtliche Rat. Teil 3

06.02.2006.
Simon setzte seine Reise ohne Komplikationen fort. In der Nähe von Sid mußte er anhalten, um eine Kolonne von Armeelastern und Panzerwagen vorbeizulassen, aber er fuhr auch von sich aus langsamer, je mehr er sich seinem Ziel näherte. Wahrscheinlich wollte er bei seinem Wiedersehen mit der Stadt und dem Haus jegliche Zeugen meiden. Es war schon nach Mitternacht, als er in Foca ankam. Ohne zu halten, ohne irgend etwas wahrzunehmen, fuhr er die gewundene Straße zum Tabija-Viertel hinauf, im Oleandertopf neben Ibrahims Haustür fand er den Schlüssel, in einen Lappen gewickelt, und ohne das Licht anzumachen, brachte er das Gepäck ins Haus, und daß er sich in der Dunkelheit mühelos zurechtfand, nahm er als ein gutes Vorzeichen. Er wollte weder auspacken noch sich waschen, er wußte, er würde sich gut vorbereiten müssen auf die Begegnung mit der alten Welt, die ihn vor mehr als einem Jahr aufgespürt hatte und ihn nicht mehr losließ, und eine bessere Vorbereitung als erst einmal Ausruhen fiel ihm nicht ein. Als er ins Bett sank, dachte er, es sei bestimmt schon nach eins, verzichtete aber darauf, sich zu vergewissern.
     Schneller, als er zu hoffen gewagt hatte, überwältigte ihn der Schlaf, doch noch auf der Grenze zwischen Wachen und Einschlafen hörte er das Geheul eines großen Rudels von Hunden. Etwas äußerst Merkwürdiges, Unbekanntes und Unerhörtes, als heulte ein gut eingeübter riesiger Hundechor, der sich auf ein verabredetes Zeichen hin durch einen langen Schrei kundtat. "Seltsam, dabei scheint doch überhaupt kein Mond", dachte Simon und sank in Schlaf wie seine Stadt nach jenem Schrei in die Stille.
     Er wurde früh wach und machte sich gleich an die Hausbesichtigung, als hätten ihn ein paar Stunden Schlaf hinlänglich für die Prüfung gestärkt, vor der er sich seit dem Tag fürchtete, an dem er sich entschieden hatte herzukommen. Er trat auf den gepflasterten Hof mit den Kletterrosen links vom Tor und dem Beet an der rechten Hofmauer, wo die Mutter Samtblumen, türkische Nelken und Trichterwinden gesetzt hatte. Der Eingang zur Veranda lag dem Hoftor direkt gegenüber, und zwei, drei Schritte weiter rechts war die Tür zum ebenerdigen Teil des Hauses, wo sie die Sommer über gewohnt hatten, das Magazin, wie sie es nannten, vermutlich wegen der Vorräte, die sie dort kühl lagern konnten. Der Schlüssel zum Magazin hing immer noch an einem kleinen Nagel im Türrahmen der Veranda, durch die man das Wohnhaus betrat. Die Sommerküche, das einzige große Zimmer im ebenerdigen Teil des Hauses, mit einer Secija, der Sitzbank an der Fensterwand, voller Kissen und alter Kelims, und einer schönen Aussicht den Berg Tabija hinab auf die Stadt; links davon ein kleiner gekachelter Raum mit Dusche, das sogenannte Kämmerlein, in dem sie sich gewaschen hatten, bevor sie ein modernes Badezimmer einbauten alles genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Simon schloß das Magazin ab, hängte den Schlüssel an seinen Platz zurück und ging ins Haus. Links von der Verandatür führte eine steile Treppe an der Hauswand hinauf in den oberen Teil der Veranda, der ebenfalls mit einer Se ija und Kelims ausgestattet war. Von der Veranda ging man also in den ersten Stock, den sie immer "das Haus" nannten und offensichtlich als das eigentliche Haus betrachtet hatten. Zwei Schritte vom Fuß der Treppe befand sich die Tür zum Keller. Er wußte, daß hinter der Tür drei Stufen aus Stein nach unten führten in einen Keller voller Kisten und Gerümpel, mit seinem schweren, modrigen Geruch und dem grauen Licht, das die Dinge abrundet, indem es ihre Formen unscharf macht und die Konturen auflöst. Er versuchte die Kellertür zu öffnen, wahrscheinlich dachte er, ein Gang durch den Keller gehöre zu dem Ritual, durch das er in seine frühere Welt und in sein früheres Leben zurückkehren werde, wie ja ein Keller zu jedem anständigen und gepflegten Haus gehört. Erst als er die Klinke ergriff, bemerkte er, daß durch die massive Holztür eine beißende, trockene Kälte drang, wie er sie in ihrem Keller nie gespürt hatte, wie sie in einem Keller eigentlich gar nicht möglich war. Er wurde unsicher und hielt inne. War er hier nicht schon zweimal vorbeigegangen? Wie war es möglich, daß er eine derart durchdringende und ungewöhnliche Kälte nicht registriert hatte? Gestern abend mochte er zu müde und abgespannt gewesen sein, ein Zustand, in dem einem noch viel seltsamere und auffälligere Dinge entgingen. Aber war er nicht vor fünf Minuten hier vorbei- und in den Hof gegangen, ohne daß ihm die Tür, geschweige denn die Kälte, die herausdrang, aufgefallen wäre?
     Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, es sei durchaus möglich, daß diese Kälte immer schon dort unten geherrscht habe, er sich nur anders oder gar nicht mehr daran erinnere. Denkbar auch, daß eine starke Feuchtigkeit in den Keller des unbewohnten Hauses eingedrungen und irgendwann wieder verschwunden war und nur die Kälte zurückgelassen hatte, vielleicht war es auch etwas anderes, das würde sich gleich klären lassen. Man mußte nur in den Keller gehen und nachsehen. Aber er kam gar nicht hinein; die Tür ließ sich nicht öffnen, nicht einmal die Klinke konnte er bewegen. Irritiert ließ Simon von der Tür ab und überlegte. Sie konnte nicht verschlossen sein; falls man das uralte, riesige Schloß jemals hatte abschließen können, mußte das lange vor Simons Zeit gewesen sein, weil er nie einen Schlüssel gesehen und niemand etwas von einem Schlüssel gewußt hatte. Einen anderen Zugang zum Keller gab es nicht, also war es auch nicht möglich, daß jemand die Tür von innen mit einem Balken oder Ähnlichem verkeilt hatte. Wäre eine Wand oder etwas anderes eingestürzt, hätte man es dem Haus angesehen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß das, was hier geschah, schlechterdings nicht sein konnte, versuchte er es erneut, abermals vergebens. Nicht nur, daß sie nicht aufging, nicht nur, daß sich die Klinke nicht bewegen ließ, er konnte nicht einmal jenes vermutlich eingebildete Biegen, das leichte Nachgeben der Tür spüren, gegen die er sich mit seinem ganzen Körper stemmte. Buchstäblich nichts, als ob er gegen eine Betonwand rannte.
     Simon verzichtete also zunächst auf den Keller und stieg in einiger Verwirrung die Treppen in den oberen Teil des Hauses hinauf. Er versuchte sich damit zu beruhigen, daß sich das Mysterium der Kellertür bereits heute enthüllen lassen würde, Ibrahim Pleh hätte bestimmt eine Erklärung. Wahrscheinlich hatte er die Tür vernagelt oder ähnliches, um sie zu blockieren, und selbst wenn nicht - zu zweit würde es schon gelingen, sie aufzubrechen und beide Geheimnisse, die trockene Kälte und die Unnachgiebigkeit der Tür, zu lüften. Die Treppen führten zur Veranda hinauf, wo man vom späten Frühling bis tief in den Herbst sitzen konnte; rechts ging es in ein Vorzimmer, von dem lauter Türen abgingen: ganz links die Speisekammer, aus der man in das neue Bad kam, dann sein Zimmer, dann das Zimmer seiner Eltern und schließlich auf der rechten Seite die Küche. Alles, wie er es in Erinnerung hatte, alles, wie es damals gewesen war, nur ohne Gerüche. Aber sonst genauso, ganz vertraut und ganz seines. In der Küche auf dem Herd fand er eine kupferne Kaffeekanne mit Wasser vor, im Kühlschrank etwas zu essen, und im Bad war der Boiler geheizt. Das Haus hatte ihn wiedererkannt und aufgenommen, soviel war sicher. Es war klar, daß er das Kaffeekännchen, das Essen und das warme Wasser Ibrahim und seiner Familie zu verdanken hatte; aber all das wäre ihm nicht so selbstverständlich vorgekommen, wenn nicht das Haus das alte geblieben wäre, seines. Er duschte, frühstückte und trank Kaffee, erfüllt von einer schönen, stillen Freude. "Es ist gut", dachte er, "der Mensch ist wirklich und lebendig, solange sich ein paar Dinge und Leute an ihn erinnern können und ihn wiedererkennen, sagen wir, wenigstens ein Mensch und wenigstens ein Ort unter dem Himmel. Und das ist bei mir der Fall, jetzt kann ich sicher sein, daß das bei mir der Fall ist."
     Nach dem Kaffee brach er in die Stadt auf, unfähig zu ernsten Gesprächen und Arbeiten, die er nicht hätte vermeiden können, wenn er zuerst Ibrahim Pleh besucht hätte, andererseits ermutigt durch seine Wiederbegegnung mit dem Haus, die ihn überzeugt hatte, daß sich auch Foca an ihn erinnern und ihn aufnehmen würde. Schon der erste Blick auf die Stadt und die ersten Schritte auf sie zu versicherten ihn, daß es so sein würde. Der dünne Morgennebel hatte sich unter der frühen Sonne schon verzogen, aber unten im Tal hatte alles noch die sanften morgendlichen Rundungen, ohne scharfe und klare Konturen. Wie ein Ei und sein Inneres. Wie eine Pflaume. Voller Selbstvertrauen und Freude ging er den Berg Tabija hinab, in der Gewißheit, daß ihn die Stadt wiedererkennen und aufnehmen würde, denn es liegt in der Natur des Eis, alles aufzunehmen und zu umfangen. Das war der Augenblick, in dem er gelacht und ausgerufen hatte, daß auch Foca wie eine Pflaume sei.
     Nicht ganz hundert Schritte vom Haus entfernt begegnete er zwei Hunden, die, kaum daß sie an ihm vorbei waren, vom Weg abwichen und den Berg hinauf auf die Baumschule mit den jungen Bäumen zuliefen. Er erinnerte sich an jenes seltsame, allzu einträchtige Geheul, das er heute nacht gehört hatte. Was konnte das wohl gewesen sein? Normal war das gewiß nicht. Aber er hatte keine Lust, sich damit zu beschäftigen, überhaupt mit nichts, was seine Freude beeinträchtigen könnte.
     In der Nähe der Granovski-Gasse kam ihm eine Gruppe von Frauen entgegen, beladen mit Bündeln, Körben und Säcken. Sie waren verschwitzt und außer Atem von der Last, die sie den Berg hochschleppten, sie wirkten konfus, wenn nicht verängstigt. So gehen Frauen sonst nicht, so ohne nach rechts und links zu sehen, ohne zu reden und zu kommunizieren, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet, ohne Atempause bergauf hetzend, als triebe sie jemand oder etwas dazu an. Auch kehren die Frauen aus den Dörfern nicht so früh aus der Stadt zurück, bis zu dieser frühen Stunde können sie weder die Arbeit erledigt haben, derentwegen sie hinuntergegangen sind, noch können sie die andere, die städtische Welt und das Leben dort ausreichend genossen haben, um es in der eigenen bis zum nächsten Abstieg auszuhalten. Er grüßte sie, aber nicht eine erwiderte seinen Gruß, vielmehr gingen sie an ihm vorüber, als sähen sie ihn nicht, obwohl es unter bosnischen Dörflern üblich war, auch Unbekannte, denen man begegnete, zu grüßen. Simon schaute ihnen verwirrt nach, zuckte die Achseln und ging weiter die Granovski-Gasse hinunter, wo er fast mit einem dicken, kahlköpfigen Mann zusammengestoßen wäre, der sich mit der linken Hand den Schweiß von der Stirn wischte und mit der rechten eine Kuh an einem Strick hinter sich herzog.
     "Wohin so früh", warf ihm Simon freundschaftlich zu.
     "Komm, hör bloß auf", stöhnte der Dicke, ohne stehenzubleiben, dann rief er ihm nach: "Gott steh uns bei!"
     Oder kam es Simon nur so vor, daß er ihm hinterherrief? Immer mehr Leute mit Vieh, Wagen und verschiedenen Lasten kamen ihm entgegen, und in der Nähe der Prijeka Carsija geriet er in einen wahren Strom von Menschen, die offensichtlich auf der Flucht waren, völlig verängstigte Leute, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten.
     Simon ging auf einen riesigen Mann mit Haarkranz und Bart zu, der Zigarettenspitzen, Tschibuks, Vasen und Untersetzer, verzierte Teller und Kästchen aus dunklem, schön geschnitztem Holz in Kartons stopfte, die zur Hälfte mit ausländischen Zigaretten gefüllt waren.
     "Was ist denn passiert? Wohin gehen die alle?"
     "Laß mich bloß in Ruhe!" brüllte der Riese. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
     "Ich frage doch nur, was passiert ist", schrie Simon beleidigt zurück.
     "Ein Mord, Mensch, das ist passiert! Ein Mord und danach eine Schändung", erklärte der Bärtige und hantierte noch hastiger mit seinen Waren, als wollte er kaschieren oder rechtfertigen, daß er den Vorfall, von dem alle wußten und über den alle schwiegen, ausgeplaudert und vielleicht als erster beim Namen genannt hatte.
     Jemand klopfte Simon auf die Schulter.
     "Ihren Ausweis, bitte", sagte ein Polizist, den der Bärtige offensichtlich durch sein Geschrei angelockt hatte.
     imon reichte ihm den Paß.
     "Sind Sie von hier, oder sind Sie Deutscher?" fragte etwas konfus und ohne den Paß zu öffnen der Polizist, der gehört haben mußte, wie Simon mit dem Bärtigen gesprochen hatte.
     "Ja, bin ich", antwortete Simon entgegenkommend.
     "Was machen Sie hier, mit diesem Paß?"
     "Ich habe den Mann gefragt, was passiert ist."
     "Sind Sie dafür zuständig?"
     "Ja, Mann. Auch wenn es nicht meine Aufgabe wäre, meine Sache ist es allemal, es betrifft mich und hat sehr wohl mit mir zu tun", protestierte Simon, ohne es zu wollen, wahrscheinlich, um seine Zugehörigkeit zu dieser Stadt und diesen Menschen zu verteidigen.
     "Was machen Sie überhaupt in Foca? Wann sind Sie denn gekommen?"
     "Ich bin heimgekommen."
     "Wann?"
     "Spät in der Nacht, ich bin noch nicht dazu gekommen, mich bei der Polizei zu melden."
     Der Polizist öffnete schließlich den Paß.
     "Simon Mihailovic?" las er laut und sah seinen Gesprächspartner fragend an, der mit einem kurzen Nicken bestätigte. "Herzlich willkommen zu Hause, Bruder", klopfte ihm der Polizist auf die Schulter und gab ihm den Paß zurück.

Mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlages

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