Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Dzevad Karahasan: Der nächtliche Rat. Teil 1

06.02.2006.
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Die Welt ist wie eine Pflaume


"Die Welt ist wie eine Pflaume, wie eine schöne reife Pflaume", sprach Simon Mihailovic laut aus, als er den Berg Tabija hinunterging, auf die Stadt zu, die vor ihm im Tal lag. Im Grunde äußerte sich seine Freude ganz von selbst, ohne seine Absicht und seinen Willen sprach sich das Gefühl aus, daß die Welt bis in ihr letztes Teilchen gut und erfüllt sei, fruchtbar und vollendet, saftig und gerundet, fast vollkommen rund und sich an ihrer Rundheit freuend. Dieses Gefühl mußte sich schon am Morgen, als er mit dem Rundgang durch sein Geburtshaus begann, das er fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen hatte, in ihm geregt haben, wenn auch noch unbemerkt, so daß ihn erst jetzt eine anbrandende Welle der Freude zum Stehen brachte und ihm den Atem benahm. Absichtslos hatte er ausgesprochen, daß die Welt wie eine Pflaume sei, "Leben! Leben!" rief alles in ihm, und mit diesem Jauchzer gab er seiner unbändigen, ihn bis ins letzte Äderchen erfüllenden Lebensgier eine Form. Als riefe auch sein Herz mit jedem Schlag "Leben! Leben!", überflutete ihn der Glaube, daß es sich lohnte zu leben, daß er eine Zukunft hatte, eine Zukunft, die gut und schön sein würde, ja sein müsse. Wie eine Pflaume reif, voll und rund.
     Im Tal zu seinen Füßen lag Foca. An die beiden Flüsse geschmiegt, die Mündung der Cehotina in die Drina umfangend wie eine Pflaume ihren Stein, lagert sich die Stadt in wachsenden Ringen um die Mündung, ihren geometrischen Mittelpunkt, bis sie den ganzen Talkessel ausfüllt und mit ihren Randgebieten auch die umliegenden Berge einnimmt. Wie fast alle bosnischen Städte wurde Foca in einem Talkessel erbaut, der, von runden sanften Bergen umgeben, wie ein Nest aussieht. Wahrscheinlich wegen dieser Talkessel, deren Beschaffenheit sie sich anpassen, haben die bosnischen Städte entweder die Form einer schmalen, länglichen Ellipse oder die eines Kreises, je nachdem, ob sich das Tal, in dem sie erbaut wurden, einen Fluß entlangzieht und sich an ihn schmiegt oder ob der Kessel breiter ist als der enge Gürtel am Fluß. Der Talkessel von Foca ist ein großes Becken, ein fast gleichmäßig runder Kreis, sein Mittelpunkt die Mündung der Cehotina in die Drina, die die Bewohner Sastavci nannten. Das ganze Leben der Stadt, wie Simon es in Erinnerung hatte, war mit den Sastavci verbunden oder auf sie ausgerichtet: Auf der rechten Seite erstreckte sich Pijesak, die Badeanstalt und der Zirkusplatz, ein Ort, wo es jedes Jahr einen Lunapark gab mit Buden und Karussells, wo man statt des mitgebrachten Proviants Cevapcici essen durfte, zum erstenmal Frauen beobachtete, ausländisch aussehende, mit gefärbtem Haar, ein Ort, an dem man faulenzen und träumen oder sich vergnügen konnte; auf der linken Seite der Sastavci lag Medurijecje mit seinen Schulen und Geschäftshäusern, der Stadtteil also, in dem die Ordnung und die Gesetze des Alltags aufgestellt und befestigt wurden, ein von nüchterner Arbeit und Pflichten geprägter Ort. Und um Medurijecje, Sastavci und Pijesak reihen sich in immer weiteren Kreisen die folgenden Viertel: Centar, Sukovac, Budimlje und Musluk, dann Prijeka Carsija, Donje Polje, Stovici und Gradac, dann Cerezluk, Livade, Gornje Polje und Tabaci, dann... Den äußersten Kreis bilden die Viertel am Stadtrand, die bereits an den Hängen der umliegenden Berge, wie der Celovina, der Gradacka stijena, des Dub und der Tabija, des Berges, auf dem Simons Viertel liegt, erbaut wurden.
     Als er noch in Foca lebte, hielt Simon seine Stadt für ein einziges Durcheinander von Straßen und Häusern, hier und da ein paar leere Stellen, die nur ein liebender Blick als Plätze bezeichnen konnte, planlos, unordentlich, unklar, ohne ersichtlichen Grund für all die Entscheidungen, die irgendwann einmal das Aussehen der Stadt bestimmt hatten. Hätte er sich in all den Jahren einmal auf seine Stadt besonnen, wäre ihm aufgefallen, daß Foca an ein Netz von Falten erinnert, die das Gesicht eines Greises überziehen. Jetzt aber, da er die Stadt nach langer Abwesenheit, nach allem, was er inzwischen gelernt und erfahren hatte, betrachtete, würde er sagen, daß er einen Plan, nach dem sie erbaut und angeordnet worden sein muß, durchaus erkenne, zumindest erahne. Es ist kein menschlicher Plan, soviel sieht man auf den ersten Blick, der menschliche Beitrag beschränkt sich hier wie bei den anderen bosnischen Städten auf die Entscheidung, das Bauen dem Gelände anzupassen und seiner Logik unterzuordnen, so daß man zunächst denken könnte, die Stadt sei nicht von Menschen errichtet, vielmehr hätten die Berge, an denen sie sich festhält, sie ausgestoßen. Aber es gibt einen Plan, verborgen vielleicht wie jener, nach dem die Berge und das in sie eingeschnittene Flußbett angeordnet sind, einem tieferen Sinn gehorchend, aber doch versteckt genug, daß ihn das menschliche Auge nicht sieht, solange er sich ihm nicht selbst offenbart. Anscheinend hat dieser Plan beschlossen, sich heute, am 28. August, dem orthodoxen Feiertag Mariä Himmelfahrt des Jahres 1991, zu offenbaren, sich Simon zu offenbaren, der ihn zweifellos ahnt, erkennt und schon fast versteht, jetzt, in diesem Moment, da er die Stadt von oben betrachtet, keine zehn Schritte von seinem Haus entfernt.
     "Auch Foca ist ja wie eine Pflaume", rief Simon und lachte, ganz erfüllt von seiner Freude über die dunkelgrüne Farbe der Stadt und ihrer Berge, durch die hier und da die ebenso dunkle blaue Farbe reifer Pflaumen schimmerte. Und er setzte seinen Weg fort, zur Stadt hinunter, strahlend und voll guter Vorgefühle, mit der Welt verbunden wie lange nicht mehr, frei von jenem Gefühl der Einsamkeit, das er seit fast zwei Jahren nicht los wurde.
     Einsamkeit war es eigentlich nicht, eher etwas wie Entrücktheit, das Gefühl, nicht zu dieser Welt zu gehören und keinen wirklichen Kontakt zu ihr zu haben. Kurz nachdem ihr Sohn Sascha eine Arbeit gefunden hatte und bei ihnen ausgezogen war, machte es sich zum erstenmal bemerkbar. Das gewisse Übermaß an Zeit, Emotionen und Energie, das plötzlich herrschte, als sich die Familie auf seine Frau Barbara und ihn reduziert hatte, irritierte ihn. Er hatte gehofft, er werde diese Zeit Barbara widmen, ihr all das gleichsam zurückerstatten können, was er bis dahin auf Sascha konzentriert hatte und was längst wieder ihr hätte gehören sollen, weil doch sie in ihm die Gefühle entfesselt hatte. Er hatte gehofft, mit der Fülle von Gefühl und Zeit werde sich die Intensität und Vielschichtigkeit ihrer Bindung, deren sie sich seit langem nicht mehr bewußt zu sein schienen, erneuern und mit ihr vielleicht auch jene Leidenschaft, die sie durch die Jahre getragen und von allen Fragen befreit hatte.
     Alles, was sich zwischen ihnen abspielte, war eigenartig und voller Wunder gewesen, zumindest am Anfang. Simon war erst ein gutes Jahr in Berlin, er hatte gerade die Formalitäten hinter sich gebracht, um sich für das Medizinstudium immatrikulieren zu können, und schloß sich einer Gruppe von Kommilitonen an, die demonstrieren ging, obwohl er nicht wußte, wofür sie eigentlich demonstrierten. Es war gut, sich als Student zu fühlen, es war gut, für etwas zu kämpfen oder wenigstens zu glauben, daß man für etwas kämpft; nach der großen Einsamkeit, die ihn seit seinem Weggang von zu Hause bedrückt hatte, war es ein angenehmes Gefühl, endlich irgendwohin zu gehören, und zwar zu denen, mit denen man auf die Straße geht und brüllt. Er ging auf die Straße, ohne zu wissen, warum, und hob zeitweise den Arm, ohne zu wissen, wofür er ihn hob, überzeugt, daß er dazugehöre und alles richtig sei, was er tue. Und dann registrierte er plötzlich eine Gegenwart, der er sich nicht verschließen konnte, spürte jemanden, der ihn wortlos ansprach, mit seiner bloßen Existenz, jemanden, den er, so schien es, unausweichlich hatte treffen müssen. Sein Körper spürte die Nähe des Körpers, der für ihn bestimmt war. Er drehte sich um, und seine Augen sahen Barbara und erkannten sie. Buchstäblich. Sein Hinterkopf, seine Nieren, Schultern, Kniekehlen, sein ganzer Körper nahm Barbaras Gegenwart zur Kenntnis. Er drehte sich zu ihr um, und die Augen und der Geist erkannten sie als diejenige, die für ihn bestimmt war. Er hatte gar nicht bemerkt, wann und wie er die paar Schritte gemacht hatte, die ihn noch von ihr trennten, er hatte sich einfach an ihrer Seite, drei Reihen hinter jener, in der er bis dahin gegangen war, wiedergefunden.
     "Bist du verheiratet?" fragte er Barbara, als er seinen Schritt dem ihren angeglichen hatte.
     "Keine Ahnung", lachte Barbara, die zu dieser Zeit eine feste Beziehung hatte und stolz darauf war, daß sie gar nicht daran dachte zu heiraten.
     "Glücklich?" fragte Simon weiter. "Ich denke schon", antwortete sie. "Warum fragst du?"
     "Weil mich deine Nähe wie ein Blitzschlag getroffen hat."
     Sie sahen sich an, und es war klar, was er nicht aussprechen konnte, daß nämlich das, was Barbaras Nähe in ihm ausgelöst hatte, keinen Aufschub duldete, nicht erlaubte, ihr den Hof zu machen, daß es blitzte und donnerte, daß es brannte und ihn versengen würde, lange bevor es ihm gelänge zu erfahren, welche Blumen die begehrte Frau mochte und wie er sie ihr schenken mußte.
     So hatte es begonnen, und so war es jahrelang weitergegangen. Ihre Berührungen vertieften und verstärkten sein Bedürfnis nach ihrem Körper nur noch mehr und beseitigten zugleich jeden Zweifel, daß seine Anwesenheit auf der Welt nicht begründet und gerechtfertigt sein könnte - jedenfalls solange er in ihrer Nähe war. Dutzende von Dingen, die er nur ihr sagen konnte und mußte, das wunderbare Gefühl, das ihn in diesen Jahren ständig begleitete, jenes Gefühl, daß die Sätze, die sie einander sagten, anderswo nicht möglich waren, weder zwischen anderen Menschen noch sonst irgendwo außerhalb ihrer Liebe. Der rasende Hunger auf ihren Körper und ihre Berührungen, der seinem Körper, d. h. seinem ganzen Wesen, die vollkommen sichere Erkenntnis der Unwiederholbarkeit aller Dinge unter dem Himmel gab - wenn er sie jetzt nicht umarmte, in diesem Moment, in dem er es so sehr wollte, hatte er etwas Wundervolles und Unersetzliches verloren, weil er sie nie wieder, bis ans Ende aller Zeiten, bis in alle Ewigkeit, und auch wenn sie in allen Leben, die ihnen auf dieser und auf jener Welt noch bevorstünden, füreinander bestimmt wären - weil er sie gewiß nie wieder genauso begehren und berühren würde, ihr Körper sicher nie wieder genauso sein würde wie jetzt und auf seine Berührungen nicht genauso reagieren würde, wie er das jetzt tat ... Morgen wäre ihr Verlangen nach ihm ein wenig stärker oder ein wenig schwächer als heute, gestern war er ein wenig zärtlicher und ein wenig verliebter als heute, übermorgen wäre sie ein wenig müder oder ein wenig schläfriger... Er wußte natürlich, daß sie einander nicht verlieren konnten, sein Arm wußte, daß sie sich auch morgen umarmen würden, aber er wußte auch, daß es eine Umarmung wäre, die nur morgen möglich wäre, wie dies eine Umarmung war, die nur jetzt möglich war, sein Arm wußte, nein, alles an ihm wußte, daß diese beiden Umarmungen nicht austauschbar und ersetzbar waren, er wußte, daß er seine Barbara umarmen mußte, wenn er das wünschte, weil er sonst etwas Wundervolles und Unersetzliches verlieren würde, er wußte, daß es schmerzhaft war und gut, daß es so war.

Teil 2