Vorgeblättert

Leseprobe zu Tom Bullough: Die Mechanik des Himmels. Teil 3

23.01.2012.
Als Kostja am Fuß des Turms wieder auftauchte, fühlte er sich, als bestünde sein Körper nur noch aus Haut. Die ande­ren Jungen hatten sich schon lange aus dem Staub gemacht. Nur Ignat ging mit ihm durch die baufällige Kirche zurück, zwischen den Gipsbrocken hindurch, durch die Pfützen, über die funkelnden Glassplitter - hinaus in eine Meute aus Frauen, Kindern und sogar einem Mitglied des Geheimrats in weißen, schlammverdreckten Hosen. Den Blick auf die im Matschboden versinkenden Birkenblätter gerichtet, fühlte Kostja, wie er gepackt, herumgestoßen, gerüttelt wurde. Erst als er die Stimme seiner Mutter hörte, sah er auf und erkannte mit beiläufigem Interesse eine große, unförmige Kerbe in der Kirchenmauer, zwei Löcher im Dach der Turms auf der Höhe des ersten Stockwerks und ein großes Stück Mauerwerk, das aus dem strähnigen Gras des Kirchhofs ragte.
     Er leistete keinen Widerstand, als sie ihn die Vladi­mirskaja-Straße wieder hochschleppte, zwischen den plum­pen, gelangweilten Häusern hindurch, den vom Wind gerupf­ten Linden, den Kindern, die weiter um sie herumgaloppier­ten. Auf der Preobraschenskaja-Straße versuchte eine Gruppe Kutscher, ihren schweren Karren durch den klebrigen Matsch zu ziehen. Sie peitschten auf ihre Ochsen ein, zerrten an den Speichen der eingesunkenen Räder, doch alle hielten inne, um diesen tanzenden Haufen zu mustern, diese schmäch­tige, keuchende Frau, die ihren Sohn durch das Tor bei der Nummer neunzehn zerrte, zwischen den beschmutzten Rei­hen aus Winterkohl hindurch.
     "Und?" Maria Iwanowna knöpfte sich Kostja vor. "Alle sagen mir, dass du den Turm hochgeklettert bist und Ziegel­steine von der Spitze hinuntergeworfen hast. Leugnest du das?"
     Kostja sah vom Küchenboden auf und erblickte Lichter in seinem Geist und Lichter in der Wohnung im Parterre. Er sah, wie seine Mutter an Anna, Fekla, Mascha und Jekate­rina vorbeistolperte, die über ihrem Brei zu Tisch saßen, sah, wie sie am Nachttopf in der Ecke niederkniete, ihre Hände auf den Dielen, mit zitternden Schultern. Er sah, wie sie mit einem weißen Streifen auf ihrem alten, grauen Kleid zurückkehrte. Er hörte ihre Stimme so klar, wie sie immer gewesen war, aber aus irgendeinem Grund bemerkte er nur die Faltenbündel um ihre Augen, die winzigen Daunen ihres Schnurrbarts, die feinen neuen Risse, die sich wie kleine Strahlen um ihre Lippen gebildet hatten.
     "Konstantin, was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht? Um Gottes willen! Du hättest jemanden umbringen können!"
     Kostja blickte seine Mutter schweigsam an. Es beunru­higte ihn, sie so verstört zu sehen, aber er fühlte sich noch immer wie unbeteiligt an der ganzen Szene - als ob er ihr über eine weite, unüberbrückbare Kluft hinweg zusehen würde. Sein Blick schweifte im Zimmer umher, und er sah, wie sich sein Bruder Stanislaw an der Wand neben dem Ofen im Versuch abstützte, an ein Bündel Kräuter heranzukom­men. Er sah Ignat elendig in der Tür stehen, seine dünnen Arme vor der Brust verknotet. Durch den Schmerz in seinen Füßen fühlte er, wie die warme Luft aus der Wohnung unter ihnen aufstieg, und mit ihr kam auch eine Empfindung der Ruhe, sogar der Mattigkeit, und als seine Mutter den Mund öffnete, um wieder zu sprechen, begriff er, wie viel einfacher es für ihn wäre, einfach die Augen zu schließen.


Als er vier Tage später vom Gymnasium zurückkehrte, ent­deckte Kostja, dass fast alle Türen und Fenster in der Woh­nung offen standen - obwohl ein sibirischer Wind westlich über Wjatka hinwegging und der erste Schnee des Jahres den Rost der Dächer und die Furchen auf den Straßen be­deckte. Ganz oben auf der Treppe stehend sah er kleine Schneefiguren tanzen, als wären sie draußen, sah, wie die Fenster gegen die Läden schlugen, die Familienfotos an der kalten Backsteinmauer zitterten.
     "Mama?", rief er. "Anna?"
     Zu seiner Rechten war nur die Tür zum Salon geschlossen. Er versuchte, die Klinke niederzudrücken, aber die Tür schien von innen verriegelt zu sein. Er klopfte, legte die Hände lauschend an die Ohren, aber er konnte keine Stimme hören und keine Bewegung auf den Dielen spüren. Er zö­gerte eine Minute lang oder mehr, legte dann die Schulbü­cher auf den Tisch, ging in sein Zimmer, wickelte die Tages-decke um seine Schultern, setzte sich aufs Bett und öffnete Die Geschichte der Dampfmaschine - eines der interessantes­ten Bücher, das er kürzlich in der schmalen Bibliothek seines Vaters gefunden hatte. Er wandte sich dem ersten Kapitel zu, das die "Elastizität" und das "Ausdehnungsvermögen" von Dampf zum Thema hatte, aber keines dieser Wörter sagte ihm etwas, und er konnte sich nicht einmal auf das Dia­gramm einer amerikanischen Lokomotive mit Außenzylin­dern und ungewöhnlich konischen Schloten konzentrieren.
     Kostja erkannte Eduard Ignatjewitschs Schritte in dem Moment, da er auf der Außentreppe ankam. Er hatte es eilig, nahm zwei Stufen auf einmal, wobei diese Wahrnehmung bald durch Annas leichteres Trappeln überlagert wurde. Als Kostja wieder die Küche betrat, sah er, wie sein Vater mit drei großen Sätzen die Salontür erreichte - sein Gesicht war bleich und verzerrt zwischen seinem flachen schwarzen Hut und seinem langen grauen Bart.
     "Maria!", schrie er.
     Er kämpfte mit der Klinke, trat dann einen Schritt zurück und brachte seine Schulter auf die Höhe eines Punktes über dem Schloss.
     Kostja sah voller Erstaunen zu, als er wieder erschien und die Hebamme am Kragen hielt, die den kleinen Stanislaw im vorigen Herbst zur Welt gebracht hatte. Nie in seinem gan­zen Leben hatte er gesehen, wie sein Vater die Hand gegen irgendjemanden erhob, aber als sich die Hebamme seinem Griff zu entwinden versuchte, schleuderte er sie mit solcher Gewalt gegen die Wand unter den Kleiderhaken, dass ihr das scharlachrote Kopftuch über die Augen rutschte und ihre Ta­sche aufplatzte - und der Inhalt sich auf den Boden ergoss.
     Mit einem Wort schickte Eduard Ignatjewitsch Anna wie­der die Treppe hinunter. Er verschwand in den Salon, wäh­rend die Hebamme auf den Dielen herumkrabbelte und ihre Sachen wieder einsammelte - eine Schere, ein Stück Seife, ein blutgetränktes Taschentuch, einige Nadeln - und dann davonhumpelte, ihre verkrampften Hände vor dem Gesicht.
     "Vater", sagte Kostja leise. "Vater, kann ich irgendwie hel­fen?"
     Er stand eine Weile still. Dann nahm er eine Vase mit Was­ser, die sich in einer Pfütze in der Nähe des Tisches im Kreis drehte, und stellte sie zurück ins Regal. Er hob ein Bündel Kräuter auf und hängte es an den Haken neben dem Ofen. Er schloss die vordere Tür, die äußeren Fenster und die Winter­fenster, nahm den Besen und wischte den Schnee auf. Er trug vier Scheite Birkenholz vom Stapel zum Kaminrost und blies in die Glut, um die Flammen hervorzulocken. Seine im­mer noch schmerzenden Füße vorsichtig aufsetzend, ging er zur Salontür, die halb offen stand, spitzte die Ohren und blickte hinein.
     Unter den drei großen und der einen kleinen Fenster­scheibe lag Maria Iwanowna auf dem zerzausten Rosshaar der grünen Samtcouch. Ihr Haar war offen, schwarz an den Spitzen und silbern an den Wurzeln. Ihr Gesicht war so weiß wie die Dächer und der Himmel. Sie war in eine alte graue Decke gehüllt, die sich stockend mit ihrer Brust hob, und unter der Decke waren die Polster fast schwarz ge­tränkt.
     Neben ihr kniete Eduard Ignatjewitsch mit dem Rücken zur Tür, und an den Sohlen seiner Stiefel klebte Schnee. Sein Kopf war vorgebeugt, sodass nur eine Spur seines Haars über seinen schweren schwarz gewandeten Schultern sichtbar war. Obwohl das Fenster geschlossen worden war, herrschte um ihn herum völliges Chaos. Der einbeinige Tisch war umgefallen, hatte Blumenerde und Geranienblätter auf dem schmalen gestreiften Teppich verstreut und den Topf zer­schmettert, während sein philosophisches Werk vom Regal auf den Boden gestürzt war, wo die Seiten sich der Laune des Windes gemäß verteilt hatten.
     Hätte Kostja seinen Vater nicht gekannt, er hätte vielleicht gedacht, er würde beten.


Auf dem Tisch in der Ikonenecke trug Maria Iwanowna ihr altes schwarzes Kleid mit dem weißen Rüschenkragen. Zwei Kupfermünzen bedeckten ihre Augen. Auf ihrer Brust hielt sie ein Kreuz mit einer langen Silberkette, die ihr plötzlich aus den Fingern glitt, als der Priester den Sargdeckel schloss, und ihr mit weichem, schnellem Schwung von der Brust rutschte. In einem anderen Leben wäre Kostja nach vorne gestürzt, hätte ihre Hände ergriffen und ihre Wärme gefühlt, aber in diesem Leben blieb er in der Reihe vor der nackten Küchenwand und dem verhängten Spiegel stehen, in seiner am wenigsten geflickten Hose und seinem besten Leinen­hemd, und seine Augen waren heiß und verschwommen, während der Priester das Sargtuch ausbreitete - als würde er ein Kind zu Bett bringen.
     Er folgte seinem Vater, seinem Onkel und den zwei ande­ren Sargträgern aus der Wohnung die Treppe hinab in die Preobraschenskaja-Straße. Durch den wütenden Schnee, der die Dächer und Mauern schluckte, erblickte er den Mann von Nummer zweiundzwanzig, der seine Frau mit der Gür­telschnalle schlug - er hörte jedoch auf, als er den Trauerzug sah, und die beiden erhoben sich, nahmen die Mützen ab und bekreuzigten sich mit drei Fingern. Beim Haus der Adelsversammlung verließen ein paar Feiernde gerade einen ihrer nächtelangen Bälle - Garnisonsoffiziere in engen wei­ßen Hosen, Damen in Seide, nun da Krinoline nicht mehr in Mode war, ihre nackten Dekolletes der beißenden Kälte aus­gesetzt -, und da die Familie Ziolkowski selbst adlig war, würdigten sie den Sarg mit einem Kopfnicken, bevor sie in ihre pelzgefütterte Troika stiegen.
     Hinter dem Priester, seinem lilafarbenen Prozessionsman­tel und dem schmuddeligen Schlitten erkannte Kostja Izvo­schiki, Kutscher, die in Seitenstraßen abbogen, als ob sie plötzlich bemerkt hätten, dass sie in die falsche Richtung fuhren. Auf der Preobraschenskaja-Straße begegneten ihnen überhaupt keine Fußgänger oder Fahrzeuge, und als die Prozession nördlich in die Vladimirskaja-Straße einbog, ge­rieten sie in den Wind, und sogar die sich abwechselnden Skelette der Linden und Gaslampen verschwanden im Schneesturm.
     Kostja stellte sich vor, dass er die gekrümmte Oberfläche der Erde verlassen hätte, dass er am Turm der Vladimirskaja-Kirche vorbeikletterte, durch die dicken Wolken, in jene er­habenen Regionen, wo die Gänse im Frühling und Herbst in einer Pfeilformation vorbeizögen und Wjatka nichts weiter als ein Fleck im grenzenlosen Wald wäre - kaum zu sehen und sofort vergessen. Er stellte sich selbst vor, wie er auftau­chen würde, durch eine Pforte in den schillernden Äther, wo er einen kleinen, vorbeiziehenden Planeten betreten würde, den er nach sich selbst Konstantin taufen und den er so leicht steuern würde wie ein Pferdegespann. Konstantin wäre ein Ort ohne Veränderungen, seine Blätter und Blumen blühten ewig im Frühsommer. Als Zar würde Konstantin den Tod abschaffen und weder beim Essen noch beim Reisen irgendwelche Einschränkungen erlauben. Er würde eine Eisenbahnstrecke rund um den Äquator bauen, wo eine 4-2-4 mit immerwährenden 123 Werst die Stunde fahren würde, und ihr Rauch würde in Spiralen ins All ziehen, und während er Fleischpasteten auf den Samtpolstern seines pri­vaten Waggons äße, würde er sich aus dem Fenster lehnen, um die vorbeiziehenden Sterne zu betrachten und seinen Hut vor Merkur und Mars zu ziehen.

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Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages
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