Vorgeblättert

Leseprobe zu Thor Vilhjalmsson: Morgengebet. Teil 3

27.06.2011.
Mutprobe (1217)

Die Hofgebäude wurden bald kleine Buckel in der Landschaft, bis sie aufhörten, sich von den Hügeln und dem buckligen Morast oberhalb zu unterscheiden, und in der Hauswiese versanken. Noch zeichnete sich der Fluss in einem Bogen ab und wies dem Auge den Weg zu den versunkenen Häusern.
     Sie waren nur zu zweit. Snorri war zu Besuch bei seinem Bruder Sighvatur - der vornehmste Mann des Landes, der Gesetzessprecher, besuchte den Bezirkshauptmann.
     Ein abgemagerter Hund begleitete sie die Schlucht hinauf, zeichnete eine feine Trittspur in den frischgefallenen Schnee vor ihnen, und wenn ein Abstand zwischen ihm und den Männern entstand, hielt er an und lief in seiner eigenen Spur zu ihnen zurück.
     Der Fluss verschwand streckenweise unter dem Schnee und sang in der Tiefe unter dem Hohlufer. Sie überquerten ihn an einer Stelle, wo sie das Eis trug, und betraten ihn erneut, wo die Schlucht enger wurde. Auf der anderen Seite war ein abfallender Hang und er wurde steiler weiter oben bei einer Grotte, und der graubraune Berg stieg abschüssig an mit einer flachen Schrägwand. Oben vom Felsgrat herab hingen Eiszapfen, dick und blaugrün.
     Sie setzten sich in den Schnee, wo Graumoos aus dem Weiß herausschaute, ein wenig grün, und schwärzliches Heidekraut daneben, und man konnte eine graue Steinplatte erkennen.
     "Sieh nur", sagte Snorri kurzatmig, und zeichnete mit dem Zeigefinger um das, was er zeigen wollte, einen Rahmen aus vier Strichen: "Siehst du dieses Bild?"
     "Siehst du die Eisgeister?", sagte Sturla.
     "Siehst du diese Frauenfigur?", sagte Snorri: "Wie sie dasitzt und wie ihr langer Rock in Wellen von ihren Knien hinabfällt?"
     "Sie ist groß und schlank, ja, und ich sehe einen Jungen hinter ihr, und er kann sie nicht erreichen", sagte Sturla: "Und noch mehr von ihnen. Eine ganz Schar von Eisgeistern."
     "Siehst du dort auf dem Eis", sagte Snorri, "wo der Bach zwischen den schwarzen Felsen gefroren ist. Dort ist eine Gruppe von Ankömmlingen, Leute, die plötzlich auftauchen. Und sie treffen die anderen am Bergeingang, eine ganze Bande ?"
     Sturla sah nun wieder den vierkantigen Bergpfeiler, der wie ein Turm vor der Felsenburg stand, und beide traten aus dem weißen Hang hervor.
     Dort waren er und Aron im vorigen Jahr zum Grat hinaufgegangen, und er hatte sich herausfordern lassen, auf den Felsen zu klettern, auf dem nur einer von beiden stehen konnte. Und er ließ sich dazu herausfordern, oben auf diesem kleinen Podest zu stehen, über dem Abgrund, und er bemerkte, dass ein Adlerweibchen viel weiter unten dahinflog, ohne zu wagen, ihr nachzusehen.
     "Und heb nun ein Bein", sagte Aron: "und strecke es über das Podest hinaus."
     Er begann, den Fuß zu heben; aber das Schwindelgefühl war stärker als die Versuchung, und er setzte den Fuß wieder auf. Er kauerte sich nieder und setzte sich auf diesen Hochsitz, die Beine den Fels herabhängend, und stützte sich mit den Händen an eine Steinlehne.
     Er achtete darauf, nicht hinunterzuschauen, und folgte nicht den fliegenden Wolken über der Felskante auf der anderen Seite und bedauerte, dass er sich zu dieser Kletterei hatte verleiten lassen. Es verlangte ihn, die Schlucht entlang hinaufzusehen und nach dem Wasserfall zu suchen.
     Nach dem Wasserfall, der wie ein Haarschopf über den Berg hinauswuchs, wenn der Wind in ihm spielte.
     "Mach Platz", sagte Aron, "lass mich versuchen."
     Sturla kletterte vom Podest und tastete mit den Füßen nach einem festen Halt. Er stand da, als hätte er das Kinn mitten auf dem Felsgrat und als umspannte er den Felsen mit den Armen; er bekam mit den Fingern Halt an der Kante mit einem einzelnen Stein im Arm, Zeitlosigkeit im Stein, er selbst aber vergänglich; während der andere sich ruhig aufrichtete und wie eine Fortsetzung der Säule dastand und so aussah, als wartete er nur darauf, dass die Frühlingsvögel kämen und in seinem braunen Haar nisteten. Dann hob er langsam und ohne zu zögern den Fuß empor ins Leere, zeichnete einen Bogen mit dem Zeh und stand, als wäre er schon selbst zu Stein geworden, den Fuß bewegungslos über dem Abgrund.
     "Ihr beide seid im vorigen Jahr dort hinaufgestiegen?", fragte Snorri auf dem Weg hinab, ein Flackern im Blick.
     Sturla verfolgte die Spuren des Hundes mit den Augen; ein schmales Band im reinen Schnee.
     "Und ihr habt auf einem Bein gestanden?", fuhr der Dichter fort. "Freunde. Und habt, wie man sagt, das eine Bein über den Abgrund gestreckt."
     Sturla hatte Schnee in den Händen, presste ihn zu einem harten Zapfen und warf ihn nach dem schwarzen Hund. Der mit einem Sprung zur Seite auswich und heftig mit dem Schwanz wedelte.


Drei Stimmen im Schweigen (1217)

Ein Mädchen war in die Gegend gekommen. Sie wohnte in der Hütte bei dem alten Ehepaar in der Talsenke am Meer. Bei ihrem Großvater und ihrer Großmutter. Die Ziehbrüder konnten gar nicht anders, als sie zu bemerken. Sie sahen sie hochnäsig an den Häusern vorübergehen auf dem Weg zum Felsplateau, wo sie mit ihrem Großvater Angeln auswarf und manchmal mit ihm ruderte, damit sich die alte Frau ausruhen konnte. Das Mädchen hieß Vigdis.
     "Guten Tag", sagte der eine.
     "Guten Tag, Jungs", sagte sie, und ihre Augen waren blau.
     "Guten Tag", sagte der andere.
     Sie sah die beiden an, und sie schauten zurück. Sie setzte ihren Weg fort.
     Sie hielt sich selten lange bei ihnen auf. Sie sprachen miteinander über sie, ohne ihre Gedanken zu offenbaren.
     Nach einer Woche stieg sie mit ihnen zusammen aufs Pferd. Zu dritt. Da hielten sie ihre Pferde zurück; und sagten einander Belanglosigkeiten; pflückten manchmal mit ihr Kräuter in einen Beutel, beide.
     Einmal führte Aron ein Pferd am Zügel. Die Sonne warf Lichtflecken, die sich mit dem Flug der Wolken bewegten. Und ein Windhauch legte das Gras in Wellen. Er sah eine Spur, die zum Meer führte, zuerst auf der Erde und dann vom hohen Meeresufer hinab im Sand. Er hörte das Meer, sah es aber nicht von da, wo er ging.
     In der sandigen Bucht unten waren ein Buckel mit Strandroggen, Kälberkraut und ein Rasenfleck wie ein Tischtuch. Dort saßen die beiden und plauderten. Sturla legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zog sich nicht zurück. Sie saßen dort dicht aneinandergeschmiegt.
     Ihre schmalen Lippen schwollen unter den Küssen des Jungen. Er brannte von ihrer beiden Feuer und hatte ihre Brüste berührt, die sich seiner Hand entgegenhoben, und als er ihre nackte Haut erreichte, da flutete es aus ihrem Schoß seinen Fingern entgegen und er geriet nun selbst in die ungeduldige Unwissenheit der beiden. Sie lagen dort beisammen, ohne sich vereint zu haben, lagen lange mit schuldbewussten Küssen und waren nur knapp der Vollendung ihrer unschuldigen Sünde entgangen.
     Als sie über die Kante hinaufkamen, zusammen über die Hauswiese gingen und den Hof vor der Hütte erreichten, hielt der andere Junge Abstand.


Ein Totenschädel (1217)

Er sah die Lichter am Hof und dachte daran, was für eine Miene sein Vater wohl machen würde, wenn er nach Hause käme. Es leuchtete durch den Rauchabzug vom Langfeuer her, und da wusste er, dass Gäste da sein mussten.
     Als er eintrat, sah er seinen Vater. Er sprach mit jemandem mit einer Herzlichkeit, die nicht vorbehaltlos war, obwohl er starken Eindruck auf seine Gesprächspartner machte und es ihm leichtfiel, sie mit den unterschiedlichsten Gesichtspunkten und Ideen zu unterhalten und sie dann einzuladen, ebenfalls das Wort zu ergreifen und zu erzählen. Sturla wusste, dass Sighvatur, obwohl sich ihre Zungen lösten, doch immer die Zügel fest in der Hand hielt und sich nie ganz öffnete.
     Beim Hineingehen sah er, dass Þorvaldur Gissurarson auf dem Hochsitz saß. Sie sahen von ihrem Gespräch auf, als er hereinkam, mit freundlicher Miene.
     "Du hast mir neulich deinen Sohn Gissur gezeigt", sagte Sighvatur. "Hier ist nun der Stammhalter meiner eigenen Familie. Und es läge mir viel daran, wie dir dieser Verwandte gefällt."
     "Gut, ohne Zweifel", sagte Þorvaldur. "Er ist ein prächtiger Junge. Er hat gute Anlagen, außerdem verbinden sich unsere Familien und auch die der Asbirningar mit deiner. Sein Erfolg wird davon abhängen, ob er die Reife aufbringen wird, die verschiedenen Familienzweige gleichmäßig wachsen zu lassen. Ich hoffe, dass ihn deine Klugheit auf seinem Weg leitet und den Übermut zügelt, den er möglicherweise in sich trägt."
     "Das wird wohl am meisten davon abhängen, ob das Verhältnis unserer Söhne nicht schlechter sein wird als das von uns beiden", sagte Sighvatur.
     "Dein Sohn Tumi", sagte Þorvaldur, "er ist ja bei seiner Großmutter auf Holar. Wie haben sich die Dinge bei meiner Schwester entwickelt?"
     "In ihrer Nähe gedeiht alles bestens."
     "Und er darf sich mit dem Krawallbischof, diesem Gvendur, herumschlagen."
     "Und er wird seinen Ehrgeiz wohl befriedigen können", sagte Sighvatur, "sich dort im Herrschaftsgebiet der Asbirningar herumzutreiben."
     "Hast du vor, ihn sich dort auf Dauer festsetzen zu lassen?"
     Sighvatur schwieg eine Weile und sagte dann: "Ich habe meinem Schwager Arnorr versprochen, dass sein Sohn Kolbeinn die Herrschaft übernimmt, wenn er nach Island zurückkommt. Dieses Versprechen ihm gegenüber kann ich nicht brechen."
     Sturla ging hinaus, ohne dass es groß auffiel, und traf Aron auf dem Hof.
     "Lasst uns einen Schädel ausgraben", sagte er plötzlich zu seinem Freund, der einen Bogen über der Tiefe gezeichnet hatte. Er erkannte die Tragweite der Worte erst, als er sie ausgesprochen hatte. Sie wurden nicht zurückgenommen. Ihn überfiel ein Schauder angesichts dieser Tat, die zu vollenden man nun aber nicht umhinkam.
     Sie gingen schweigend, als der Friedhof in der Ferne sichtbar wurde. Manchmal sah er seinen Freund an, der ihn herausgefordert hatte, konnte aber seine Miene nicht deuten. Es war, als habe er eine Maske aufgesetzt, die alle Gefühlsregungen verbarg und keine Stimmungslage erkennen ließ.
     Sie gingen durch das verwitterte Tor hinein. Er setzte seine Tritte zwischen die Erdhügel, die in dem alten Teil Gräber gewesen waren, aber Aron ging geradeaus, ohne Rücksicht darauf, ob jemand darunterliegen könnte. Sie kamen ans Ende des Friedhofs, wo das Meer heraufkam und in langen Nächten und dunklen Tagen unter einem wolkenverhangenen Himmel mit salzigen Klauen und einsamer Pranke am Steilufer kratzte. Merkwürdig, seine Toten in diesem Winkel in dieser engen Bucht beizusetzen und dem Meer die Gelegenheit zu geben, sie sich zu unterwerfen und hinabzuschmettern und Knochen und den Rest hinauszusaugen ins Unermessliche und Ortlose.
     Aron verzog keine Miene. Sah er hinaus aufs grauschwarze Meer mit der schwachen Dünung? Vielleicht lauschte er.
     Sturla beugte sich hinaus über den Rand, wo er von unten vom Strand her etwas Weißes hatte leuchten sehen, in Reichweite von der Kante her, wie er geschätzt hatte. Er musste seine Angst überwinden und den Frieden des Unbekannten in der Erde stören. Wäre es nicht etwas ganz anderes, in den Grabhügel eines bekannten Gespenstes zu steigen? Zum Wikinger Soti oder zu Haki? Und die raffinierten und allgemein bekannten Hügelschranken zu zerbrechen, welche die gewöhnlichen Menschen fernhielten und die Helden herausforderten. Hinabzusteigen bei Nacht und Nebel, zu riskieren, dass der, welcher das Seil festhielt, sich davonmachte, vom Hügelbewohner das Schwert zu erobern, das im Kampf nie versagte. Aber die brechenden Augen des Hügelbewohners würden kalte Strahlen aussenden, sodass ein Schein auf das Schwert in seiner Hand fiele, bevor er mit einem Fluch zur Hölle führe; einem Fluch, welcher das Geschlecht des Räubers und Hügelbrechers in alle Ewigkeit verfolgen würde.
     Er bewegte sich mit Vorsicht und Gelassenheit, lehnte sich über den Rand und tastete umher. Er sah weiter unten etwas Weißes. Er rief über seine Schulter: "Du musst meine Füße festhalten."
     Er wartete. Dann spürte er, wie seine Füße kraftvoll gepackt wurden, und bewegte sich vorwärts und noch weiter vorwärts. Nun war er ganz auf die Zuverlässigkeit des Mannes angewiesen, der ihn herausgefordert hatte.
     Er bewegte sich noch weiter nach vorne.
     Erfüllte sich in diesem Augenblick sein Schicksal? Dieser ewiglange Augenblick, bis er den Schädel mit sicherem Griff gepackt hatte und darauf achten konnte, die Schädelknochen des Unbekannten aus dem geweihten Platz des Tempelgoden nicht in Stücke zu brechen.
     Und dann steht er da und wälzt in seinen Händen den fleischlosen Schädel mit dünner, harter Haut dort, wo nicht nur nackter Knochen war.
     Ist das alles? Und so geht es uns allen. Zwischen ihnen wurde kein einziges Wort gewechselt. Er konnte nicht ahnen, was sein Rivale dachte. Er wusste nicht, wer von ihnen gesiegt hatte. Noch irgendetwas. Siegen worüber?, denkt er und der Menschenschädel war so leicht in seinen Händen wie ein Nichts. Wenn es getan war.
     Dann sahen sich zwei junge Männer an; und den Abgrund zwischen ihnen.

                                                        *

Mit freundlicher Genehmigung des Osburg Verlages
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