Vorgeblättert

Leseprobe zu Sigitas Parulskis: Drei Sekunden Himmel. Teil 3

12.02.2009.
"He ? he ? Gib den Arm zurück ? den Arm, gib ihn zurück ? bitte schön ?" Ich wollte noch etwas über Humanismus sagen, über Brüderlichkeit, dass alle zusammenhalten müssen wie ein Mann, und auch noch etwas über die Pariser Kommune, aber auch in meinem Kopf raschelte Glaswolle.

Der Bärtige öffnete ein Auge, kratzte sich mit den Fingernägeln den nackten Schenkel und sagte ein einziges russisches Wort: "Chuj!" - Schwanz. Eben doch ein Deutscher. Die Aussprache jedenfalls war waschechtes Schwäbisch.

"Er gibt ihn nicht zurück", sprach ich mehr zu mir als zu dem in die Höhe gereckten Stumpf und kehrte, weiterhin gekrümmt, zu meiner Liege zurück. Der Bärtige fing wieder so köstlich zu schnarchen an, dass es den Anschein hatte, er würde Suppe schlürfen. Borschtsch aus Rotz und Schleim, mindestens.

Um den Schmerz der Niederlage etwas zu mildern, krümmte ich mich noch weiter zusammen und tapste zu dem Armlosen hinüber. Ich beugte mich zu ihm runter, versuchte zu lächeln und ebenso höflich wie fürsorglich zu fragen: "Kann ich irgendwie helfen?" Doch mir versagten die Sprechwerkzeuge, und durch meine entblößten Zähne rutschte ein einziger langgezogener Laut: "Uuuiiiii."

"Trinken", jammerte auf Russisch der Armlose. "Wasser ?"

Dann schaute er mich an, nannte mich einen Bock ("was glotzt du, du Bock?") und setzte seinen Klagegesang vom verlorenen Arm fort. Wirklich, ein verlorener Arm ist viel schrecklicher als verlorene Zeit.

Etwas Wasser. Oder Bier. Ein halbes Fläschchen, beschlagen. Kühl, wenigstens drei Schluck. Ist das vielleicht zu viel verlangt? Ich will ja nicht mit Prinzessin Diana schlafen ? Sie hat mit einem reichen Araber geschlafen, und als sie bei dem Autounfall ums Leben kam, weinten alle so bitterlich, als wäre ihre letzte Hoffnung auf Erlösung zerschollen? Große Sache, ein Araber. Ich habe mal mit einer Jüdin geschlafen. Zugegeben, reich war sie nicht, sie schielte, hatte außerdem Haare auf den Armen und nuschelte. Kein Wunder, dass ich mir mit ihr wie ein Logopäde vorkam. Wenn ich den Abgang mache, wird niemand eine Träne vergießen. Höchstens irgendeine sentimentale Dame, der ich noch keine Schweinereien angetan habe ? Drei Schluck Bier sind doch eine Kleinigkeit. Nur ein, zwei, drei nichtige Schlucke. Die würden meine Seele bewahren vor der Sünde übler Schmähungen.

Obwohl ich gerade nicht viel sagen konnte, sündigte ich in Gedanken. Ich verfluchte alle Tugendpäpste und Moralisten dieser Welt, denen drei Schluck Bier zu schade waren für einen verkaterten Menschen. Auch über Gott dachte ich nichts Gutes.

Gott, sagte ich mir, wenn du so mächtig bist, sieh mich jetzt an, überzeuge dich von meinem nicht allzu tiefen Glauben und benetze meine Lippen mit einem Tröpfchen Bier. Gut, gut, wenigstens mit inem Tröpfchen Wasser. Rück deinen strahlenden Kelch näher an mich heran. Ich leere ihn, ohne ein Tröpfchen zu verschütten, und werde dich verehren, wie dich noch kein Abtrünniger verehrt hat. Wie noch kein einziger durch Sauereien berühmt gewordener Heiliger? Und wenn das geschieht, dann werde ich nie wieder trinken, keinen Alkohol, nur Tee, sogar Duftöle, keinen Tropfen mehr, höchstens?

Zum wievielten Mal wiederholte ich nun schon dieses dumme "nie wieder"? Zum wievielten Mal, obwohl ich doch genau wusste, dass ich krumm war und verlogen. Doch in schweren Stunden hatte mir das aus unerfindlichen Gründen immer geholfen. Fast immer.

Zaghaft klopfte ich an die Tür, und der Herrgott gab mir Antwort! "Was willst du?", fragte der Herrgott und schaute mich mit einem Auge durch den Türspalt an. Ich aber war so erschrocken, so sehr erstaunten mich seine Macht und Wunderkraft, dass ich gekrümmt an der eisenbeschlagenen Zellentür stand und meinen Ohren nicht traute. "Herrgott", stammelte ich endlich mit einer mir fremden Stimme: "Ich möchte nur ein Tröpfchen Wasser ? und vielleicht noch, ? wenn es dich nicht erzürnt, Herrgott, ein Schlückchen Bier,? drei?
Schlückchen ?"

Und es donnerte das Eisen des Himmelstores. Es schmetterten die Trompeten der sich öffnenden Riegel. Ich klopfte, und es ward mir aufgetan. Und ich bereute, dass ich zu wenig erbeten hatte. Schließlich hätte ich ja auch um eine ganze Flasche bitten können?

Der Herrgott trug die Uniform eines Polizisten.

"Willst du pinkeln?", fragte er grob. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dass Wunder eine relative Sache sind. Relativ und verworren.

"Pinkeln", stimmte ich demütig zu. Ich versuchte, mich so würdevoll wie möglich aufzurichten, und tapste hinter dem bulligen Leib des Polizisten her. Es war sinnlos, so würdevoll wie möglich auszusehen. Überhaupt gibt es keine größere Dummheit als die Demonstration von Würde gegenüber einem Polizisten. Kaum hatte ich das Klo erreicht, musste ich mich übergeben. Wer so etwas einmal erlebt hat, der wird mich verstehen und es mir nicht übelnehmen, und vielleicht sogar Mitleid mit mir empfinden. Das Erbrechen aus leerem Magen ist wie der Regen aus Schwefel und Feuer, der Sodom und Gomorrha zerstörte. Es war im Grunde nicht viel Regen, aber wie schwerfällig, wie quälend stieg er aus meinem Magen auf und versengte mir Mund und Nasenlöcher mit seinem vernichtenden Zorn. Da vergeht einem das Bedürfnis nach Wasser. Lohnt es sich denn, verbrannte Erde mit einem Spritzer Wasser zu benetzen? Nur zischen würde das wüste Land, nur mit Schaum sich überziehen und noch kraftloser und lebloser werden. Na ja, es sei denn, ein Schlückchen Bier?

Ich war schon auf halbem Weg zurück in die Zelle, als plötzlich irgendeine Macht mir sagte: "Kehr um!" In solchen Momenten kann ich an alles Mögliche glauben. Schrecklich sind diese Momente, wenn zwischen Gehirn und Hinterausgang ein Transrapid hin- und herrast.
So furchtbar raste er durch meine erschaudernde Innenwelt, grauenhaft. Ich kehrte um und machte mich wieder auf den Weg zur Toilette. Der Polizist stieß mich in den Rücken und schimpfte mich einen Scheißer. Doch ich ging trotzdem zurück. Danach füllte ich meine aneinandergelegten Handflächen mit Wasser und rannte in die Zelle, und der Polizist fluchte wieder?

Nicht viel Wasser war im Gefäß meiner Handflächen geblieben, aber ein bisschen schon. Und ich trat an den Einarmigen heran und sagte: "Trink, und dir wird leichter, dann kannst du aufstehen und gehen und rühmen allenthalben ?" Was denn rühmen? Egal, die Würde war sowieso schon verloren, also konnte alles gerühmt werden. Der Armlose sah mich scheel und zornig an, schlug mir mit seiner übriggebliebenen Linken auf die Handflächen und beschimpfte mich noch unflätiger als der Polizist. Dann wandte er sich böse ab.

Herrgott, wenn du machen würdest, dass das alles nur ein böser Traum ist, nur ein Alptraum, aus dem ich sogleich erwachen werde, wie groß wärst du! Herrgott, welch einen Altar würde ich dir in meinem Herzen errichten! Eine Pariser Kathedrale aus Kronkorken und auch etwas noch Großartigeres. Und das, obwohl großartiges
Denken unter solchen Bedingungen gar nicht so leicht ist.

Mach es vielleicht besser doch nicht, Herrgott. Mein Herz würde solche Bauwerke nicht ertragen. Mach es nicht, ich werde diesen Kelch bis zur Neige trinken. So oder so ist es eine Flüssigkeit, und Flüssigkeiten gefallen mir. Mir bleiben drei Sekunden, na gut. Und danach, danach
kannst du mit mir machen, was du willst. Diese drei Sekunden aber gehören mir. Ich habe sie verdient, ich habe sie mir erkämpft. Selbst du kannst sie mir nicht wegnehmen, selbst du nicht.


3

Ehrlich gesagt, könnte ich auch jetzt noch nicht mit der Hand auf der Bibel schwören, dass ich wieder bei Bewusstsein bin. Ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, wo ich bin und wer ich bin. Wer weiß, ob sich hier überhaupt eine Bibel finden ließe. In einem Hotel scheine ich jedenfalls nicht zu sein. Es gibt keinerlei Anzeichen von Komfort. Ich tröste mich mit der zweifelhaften Hoffnung, dass ich bald, gleich, sofort bis drei zählen werde und sich dann alles aufklären wird. Ich glaube nicht, dass man sich im Traum selbst in den Schenkel kneifen kann. Noch schwerer zu glauben ist, dass ich im Traum jemand anderen bitten kann, mich zu kneifen. Höchstens Gott selbst. Wenn er in diesem Augenblick von mir träumt.

Ich bin schon einmal gestorben, und das hat mir nicht gefallen. Damals sprang ich von einem hohen, sandigen Steilhang, prallte mit dem Hintern gegen das Gestein und spürte plötzlich, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich kroch auf allen vieren wieder hinauf und fragte meine zehnjährigen Spielgefährten für alle Fälle, ob ich sterben werde. Sie wieherten vor Lachen, und ich bekam Angst. Angst davor, dass Tote nicht mehr atmen können. Angst davor, dass mir, wenn ich tot bin, niemand auch nur einen Luftzug geben wird, nicht mal stinkendes Abgas, Zigarettenqualm oder den Fäkaliendunst der Nachbarschaft, keinen einzigen Luftzug. Jetzt kann ich atmen, aber das ist kein Trost. Es kann sein, dass mir nur das Atmen geblieben und alles andere
verschwunden ist.

Mit freundlicher Genehmigung des Claassen Verlages

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