Vorgeblättert

Leseprobe zu Ruska Jorjoliani: Du bist in einer Luft mit mir. Teil 2

16.07.2018.
IV.
Die Väter

Sie machten ihre üblichen dämlichen Gesichter, seine neun Schüler, als Dimitri Gawrilowitsch während des Unterrichts plötzlich in seiner Rede abbrach, aus dem Fenster blickte und sagte: "Diese Eiche hat ihr Leben gelebt. Man sollte sie fällen, bevor jemand auf die Idee kommt, raufzuklettern, und den dürren Stamm zum Kippen bringt wie den Mast eines brennenden Schiffs."
     Dieses zerfurchte Stück Holz mitten auf dem Schulhof hatte ihn schon immer an einen anderen Baum erinnert, an eine Linde. Aber da, wo er jetzt war, in der Gewalt dieser Wellen, hatte all das ohnehin keine Bedeutung mehr. Vor allem hätte er unbedingt selbst auf diese Eiche steigen sollen, solange es noch nicht zu spät dafür gewesen war. Da ihm der Mut fehlte, sich zu erhängen, hätte er wenigstens hinunterstürzen können, wenn nicht als Matrose, so wenigstens als tüchtiger Schiffsjunge.
     Solche Gedanken quälten Dimitri im tristen Laderaum des Dampfers Gleb Bokij, der ihn zusammen mit einem Dutzend weiterer Gefangener an die vereisten Küsten der Solowezki-Inseln im Weißen Meer bringen würde. Ja, er hätte die Gelegenheit nutzen sollen, die ihm die Eiche vor der Schule geboten hatte, dachte er, während heftige Wellen gegen das Schiff schlugen. An seiner Linde hätte er sich ja höchstens erhängen können, und da sie dies bereits einmal durchgemacht hatte, verdiente sie etwas Respekt, schließlich gab es auch in Bezug auf den Brauch, schmutziges Menschenfleisch an wehrlosen Bäumen aufzuhängen, gewisse Anstands regeln.
     Dimitri war schon immer klar gewesen, dass nur Leute, die selbst noch nie mit zitternden Fingern eine Schlaufe geknotet haben, glauben, sich zu erhängen sei einfach eine Frage baumelnder Füße. Als Kind noch hatte er seinen Großvater einmal im Geräteschuppen mit einem Seil hantieren sehen, hatte aber nicht besonders darauf geachtet und war zu seinen Spielgefährten zurückgekehrt. Später, als er dem Ball nachlief, erblickte er an einem hohen, kräftigen Ast der Linde, die hinter dem Haus auf der Wiese zwischen dem Hühnerstall und dem Sonnenblumenfeld stand, auf einmal ein schaukelndes Etwas. Zuerst dachte er, sein Großvater habe eine Falle aufgehängt, um irgendein Tier anzulocken. Dann trat er ein paar Schritte näher und erkannte als Erstes das kleine Dreieck aus bläulichem Fleisch, das aus dem halb geöffneten, starren Mund des Mannes ragte, der nun eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem Großvater aufwies.
     Auch nach all diesen Jahren, auch im Bauch dieses Schiffs, das so rostig war wie eine ins Meer geworfene Blechdose, selbst in dieser Leere gelang es Dimitri noch, sich das Bild des erhängten Großvaters präzise in Erinnerung zu rufen.
     Bis zu seiner Heirat mit Schoschanna Sokratowna hatte er in Angst und Schrecken gelebt. Nie schlief er ein, ohne kontrolliert zu haben, dass im Haus nichts vorhanden war, was an ein Seil erinnerte. Vielleicht war er ja, ohne es zu wissen, ein Schlafwandler, und dann hätte alles Poetisch-Romantische nichts mehr geholfen: Sonne plus Seil ergab einen bei Tageslicht Erhängten, Mond plus Seil ergab einen bei Mondschein Erhängten. Schweren Herzens trennte er sich später auch vom Gürtel seines einzigen Bademantels, dem Hochzeitsgeschenk von Schoschanna.
     Dort an dem Ufer, wo ihn der Dampfer absetzen würde, wäre er von diesen Sorgen befreit. Inzwischen war Wasser in den Laderaum eingedrungen, und um Dimitris Füße herum trieben Säcke, Decken, Schuhe, aller mögliche Unrat. Alle Häftlinge waren seekrank, und draußen war es stockdunkel, Wellen tosten.
     Er hielt die Jacke zu, zog den Hut tiefer über die Ohren und ließ sich auf zwei übereinandergestapelten Koffern nieder. Dann, vielleicht um nicht an das lächerliche Bild zu denken, das er so abgab, schweiften seine Gedanken erneut in die Vergangenheit, aber diesmal noch weiter, von Erinnerung zu Erinnerung bis zu jener Begegnung zurück.
     Um in Miroslaw von irgendwo nach irgendwo zu gelangen, führte der Weg unweigerlich über die schlammige Hauptstraße mit ihrem von einzelnen Pferdemistinseln unterbrochenen Linienmuster, das von den Karrenrädern herrührte. Genau dort, unweit der Kirche, an jener von Holzhäusern mit dunklen Giebel dächern gesäumten Straße, war es viele Jahre zuvor auch zu jener allerersten Begegnung gekommen. Sein Großvater war mit ihm unterwegs zum Diakon Sergej gewesen, um ihn zu bitten, den Enkel zu unterrichten, und da trafen sie auf das Duo aus Vater und Sohn, mit denen noch niemand die Gelegenheit gehabt hatte, sich zu unterhalten. Man wusste nur, dass der stutzerhafte Herr Tierarzt war, in einer großen Stadt gelebt hatte und dass dank ihm etwas zuvor beinahe Unbekanntes Eingang in ihre Gemeinschaft fand, etwas, das immer unter seinem Arm klemmte, nämlich die Zeitung.
     An jenem Tag trug der Mann ein Jackett und eine braune Weste, über die sich auf der einen Seite eine Uhrenkette spannte. Dimitri glaubte zuerst, Tschernyschewski höchstpersönlich sei einem Buch entsprungen und grüße gerade seinen Großvater, doch verwandelte sich der Schriftsteller gleich wieder in den unbekannten, erst kürzlich im Dorf eingetroffenen Tierarzt, denn da war ja auch dieses Kind, ungefähr so groß wie Dimitri selbst, das sich am Zipfel des väterlichen Jacketts festhielt, und auf keinem Porträt Tschernyschewskis hatte Dimitri je ein Kind gesehen.
     "Guten Tag", wandte sich der Mann an den Groß vater, "ich suche das Haus des Diakons."
     Der Großvater antwortete, er wolle auch gerade zu ihm. So gingen sie gemeinsam weiter und unterhielten sich über die jüngsten Zeitungsmeldungen und insbesondere über einen klein gewachsenen Mann, der mit der Eisenbahn aus einem fernen Land angereist war und nun das Leben vieler Menschen veränderte. Dreckspritzer beschmutzten die elegant geschnittene Hose des Tierarztes, der hin und wieder auf den Boden und dann mit einem Seufzer zur fahlen Sonne blickte, die sich hinter einem Wolkenvorhang versteckte. Der Großvater hingegen fixierte einen unbestimmten Punkt vor sich.
     "Wo es ein größeres Übel gibt, verliert das kleinere seine Bedeutung", bemerkte der Tierarzt und zog seinen trägen, schmollenden Sohn heftig zur Seite. "Pass auf, wo du deine Füße hinsetzt, Viktor."
     Das Kind schnitt eine Grimasse und wich der Pfütze missmutig aus.
     "Ein Übel ist immer ein Übel, Batjuschka", antwortete der Großvater.
     "Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären auf der Flucht vor einem Bären und stünden plötzlich vor einem reißenden Fluss. Was würden Sie tun? Stürzen Sie sich in den Fluss oder greifen Sie den Bären an?"
     "Weder noch."
     "Das geht nicht. Sie müssen sich entscheiden!"
     "Dann entscheide ich mich für den Fluss. Ich kenne ihn besser."
     "Aber dann sterben Sie, das wissen Sie."
     "Vielleicht."
     Als sie vor dem alten, dunklen Haus ankamen, wurden Dimitri und das Kind namens Viktor vor der Schwelle zurückgelassen, wo die beiden sich gegen seitig musterten, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile kam der Diakon hinaus, führte die Jungen in ein Zimmer, das er mit einem Schlüssel aus dem großen Schlüsselbund an seinem Gürtel öffnete, und hieß die beiden, auf ihn zu warten. Von draußen drangen noch die Stimmen des Großvaters und des Tierarztes herein, die sich vom Diakon verabschiedeten und, gemächlich davonspazierend, ihre Unterhaltung fortsetzten. Ihre Worte schwebten durch die Morgenluft wie Blütenstaub, als hätten sie sich aus der Zeitung herausgelöst.
     Mit einem Aufprall kam der Dampfer zum Stillstand. Dimitris Kopf schlug gegen einen dick eingemummelten, triefäugigen Mann, der ihn anknurrte und wegstieß. "Zum Aussteigen bereit machen!", dröhnte die Wache. In Dimitris Stiefeln gluckerte es wie in Wassereimern, als er sich mithilfe der Ellbogen einen Platz in der Reihe sicherte, und dann hob sich die Heckklappe langsam, und ein eisiger Wind drang ihm bis in die Knochen. Dimitri Gawrilowitsch sah, was er sehen musste, sah das, worauf er sich seit Jahren, vielleicht schon sein ganzes Leben lang vorbereitet hatte, überlegte, dass dieses Stück Erde, das sich wie eine väterliche Hand über die aufmüpfigen Wellenkämme gelegt hatte, letztlich auch nicht schlechter war als viele andere Orte und dass er zwar kein Pferd besaß, aber die Furt dieses seinen letzten Flusses auch zu Fuß durchwaten konnte.

Mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlags

Infos zu Buch und Autorin hier