Vorgeblättert

Leseprobe zu Mircea Cartarescu: Nostalgia. Teil 1

26.02.2009.
MENDEBILUS

Ich träume ungeheure Dinge in den wildesten Farben, und durchlebe im Traum Empfindungen, die ich aus der Wirklichkeit nicht kenne. In den letzten Jahren habe ich mir Hunderte Träume notiert, von denen einige wie Krämpfe wiederkehren und mich jedesmal durch das kaudinische Joch von Schande, Haß und Einsamkeit jagen. Gewiß, mit jedem Traum, den er erzählt, verliere der Schriftsteller, so sagt man, einen Leser, denn in einer Erzählung seien Träume langweilig, eine bequeme und altmodische Art, das Abbild eines Abbilds zu zeichnen. Nur selten, das ist wahr, hat ein Traum auch für andere eine Bedeutung. Zudem tricksen die Autoren gern, konstruieren den Traum so, daß er die diffuse Realität der Erzählung spiegelt und nach Bedarf ordnet; das ist in etwa das gleiche, als pflanzte man mitten auf einem Blatt mit anamorphotischem Gekritzel einen Füllfederdeckel auf, um darin eine nackte Frau gespiegelt zu sehen. Da ich diese Erzählung mit einem Traum beginnen möchte, baue ich dem unvermeidlichen Vorwurf, bequem und naiv zu sein, lieber irgendwie vor.

Wie ihr wißt, bin ich ein Sonntagsschriftsteller. Ich schreibe nur für euch, meine Freunde, und für mich selbst. Mein eigentlicher Beruf ist fade, doch ich mag ihn und kenne seine Finessen. Die Finessen der Schriftstellerei dagegen lassen mich kalt. Seit mehr als einem Jahr nehme ich an euren sonntäglichen Zusammenkünften teil und hätte in puncto Technik, wie man eine Geschichte gestaltet, viel hinzulernen können. Meine Sorge aber war eher, ob ich der Welt auch wirklich etwas zu sagen habe. Bis zu der Nacht, da mir im Traum widerfuhr, was ich euch jetzt erzählen möchte, war ich der festen Überzeugung, mein Leben enthalte nichts dermaßen Bedeutendes, daß es ans Licht geholt zu werden verdiente. Ich versuche mich also nicht an einer mise en abyme, sondern möchte nur den richtigen Anfang setzen, denn ich bin sicher, im Leben wie in der Fiktion bestimmt der Anfang die Tonart. Ja selbst im Irrsinn ist das so. Ich erinnere mich, wie es war, als ein ehemaliger Freund von mir anfing zu spinnen. Er kam eines Abends sehr erregt zu mir in die Wohnung und berichtete merkwürdig kohärent, was er eine Stunde zuvor erlebt hatte: "Ich stieg in die Straßenbahn, um zu einem Bekannten zu fahren. Wegen der Kälte waren die Scheiben des Waggons beschlagen. Vor mir saß eine Frau vom Lande in einer schmutzigen braunen Windjacke und einem grünen Kopftuch. Ich nahm sie erst wahr, als sie mit der Hand, die in einem groben Fäustling steckte, ein Stück des beschlagenen Fensters blank wischte. Genau in dem Moment, als ich durch das transparent gewordene Glas hinausguckte, fuhr die Straßenbahn in die Untergrundpassage ein, und die durchsichtige Scheibe wurde zum pechschwarzen Fleck auf weißem Grund. Der Fleck aber reproduzierte Goethes Profil auf dem bekannten Scherenschnitt. Alles stimmte haargenau: die gerade Nase, die unmittelbar an der fliehenden Stirn ansetzt, die Perücke mit dem Zäpfchen, die festen Lippen, das runde Kinn."

So beginne ich denn ohne Umschweife mit dem, was ich geträumt habe. Vor etwa zwei Monaten fand ich mich im Traum - einfach so - in ein Einweckglas gesperrt. Es sah aus, wie in Bergkristall geschnitten. Ich stolperte unter immer wieder aufleuchtenden Regenbogen haltlos darin herum und sah zufrieden hinaus in die fließende blinkende Welt um mich her. Ein Vogel kam mit schaufelndem Flügelschlag vom fernen Gebirge angeflogen, und auf der gekrümmten Glaswand wuchs er, je näher er kam, immer mehr in die Breite. Als er ganz dicht herangekommen war, sah ich ihm ins riesige mandelförmige Auge, das sich, wie durch die Lupe betrachtet, vergrößerte und mich plötzlich von allen Seiten umschloß. Ich bedeckte mein Gesicht in einem schauderhaften Gefühl von Scham und Lust. Als ich wieder aufblickte, bemerkte ich in der Wand des Glases, das irrsinnig funkelte, die zarten Umrisse einer Tür. Ich stürzte darauf zu, voll Entsetzen, sie konnte unverschlossen sein. Zu meiner Erleichterung hing ein großes Schloß davor, weich, wie aus Fleisch. Auf dem Pfad, der sich vom fernen Gebirge bis vor meine Tür schlängelte, kam ein Mädchen herbei. Es machte einen braven, wohlanständigen Eindruck, wie es da mit großen Schleifen in den Zöpfen und feuchten Lippen vor die Tür trat. Die Wand des Glases war jetzt gerade und von strahlender Klarheit, und plötzlich befiel mich eine unerklärliche Angst, ein Grauen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Das Mädchen hämmerte mit seinen kleinen Perlmutthänden gegen das dicke Kristallglas. In meiner Angst hatte ich mich zu Boden geworfen und wälzte mich hin und her, ließ es aber nicht aus den Augen. Als es das Schloß anfaßte, ging es mir durch Mark und Bein, mein Herz war nah dran zu zerspringen. Es riß das Schloß ab und schob mit blutverschmierten Händen die schwere Quarztür auf. An der Schwelle erstarrte es in einer Stellung, die ich euch beim besten Willen nicht beschreiben kann, weil es dafür einfach keine Worte gibt. Und plötzlich sah ich die Szene von einem Punkt aus, der irgendwo hinter dem Mädchen lag, denn ich war unterwegs auf dem Pfad, der zum fernen Gebirge führte, und konnte das massive Glas-, Eis- oder Kristallgemäuer des Einweckglases, das kein Einweckglas war, mit einem Blick umfangen: Es war ein weitläufiges Schloß, ein stumpfer Bau mit Stuck und Gesims, Gorgonen, Gauben und Balkonen, Türmchen und Zinnen und Traufen - ausnahmslos alles aus kühlem transparentem Material. Mittendrin aber, zwischen zahllosen Sälen mit durchsichtigen Wänden lag ich, zu Boden gestürzt, das Mädchen stand in der sperrangelweit geöffneten Tür, und in seinem Rücken, vom Schloßeingang bis zum Zimmer in der Mitte - Hunderte sperrangelweit geöffneter Türen mit blutigen Schlössern.

Ich erwachte mit einem dummen Gefühl, das mich den ganzen Vormittag hindurch nervte, der Traum aber fiel mir erst am Nachmittag ein, zunächst blitzartig als reine Empfindung im Solarplexus, später dann, während ich meine Schüler in der Klasse abfragte, in einzelnen wirren Fetzen der schmerzlichen Art. Ich brauchte noch den ganzen darauffolgenden Tag, um das Traumgeschehen zu rekonstruieren, soweit ich es bisher erzählt habe. Ja, mir scheint sogar, mir sei damals mehr wieder eingefallen, als ich heute noch weiß, und ich hätte es dann vergessen. Jetzt, da ich dies aufschreibe, durchzuckt mich die Gewißheit, daß ich gewußt habe, welche Gesten das Mädchen im Traum gemacht und welche Worte es gesprochen hat, daß ich nur eben in diesem Moment außerstande bin, mich darauf zu konzentrieren. Ich hoffe, die Erinnerung stellt sich im Laufe des Erzählens wieder ein.

Ich habe wie gewohnt versucht, nach der Aufzeichnung des Traums seine Entstehungsgeschichte zu erfassen. Ich ließ dabei den Zufall walten, in der Hoffnung, er brächte mich auf irgendein Detail, das ich mit einer bestimmten Traumsequenz verbinden könnte. Nachdem ich etwa zwei Stunden lang über einer Tasse Kaffee vor mich hin gebrütet und dabei fasziniert auf einen Aufkleber gestarrt hatte, einen purpurroten Falter mit zwei Punkten auf den Flügeln wie große blaue goldumrandete Augen und einem widerlich glatten wurmähnlichen Körper, notierte ich, einer spontanen Eingebung folgend, in mein Tagebuch: "Wenn ich träume, hüpft ein Mädchen aus seinem Bett, geht zum Fenster, preßt die Wange an die Scheibe und schaut der Sonne zu, die über den rosa und gelblichen Häusern untergeht. Dann wendet es sich ins blutrote Schlafzimmer zurück und kauert sich erneut unter das feuchte Laken. Wenn ich träume, nähert sich etwas meinem gelähmten Körper, nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und beißt hinein wie in eine durchscheinende Frucht. Ich schlage die Augen auf, wage es aber nicht, mich zu bewegen. Ich springe plötzlich aus dem Bett und gehe zum Fenster. Ich schaue hinaus: Der Himmel ist voller Sterne." Als hätte ich eine heilige Formel ausgesprochen, war sogleich einiges wieder da. Vieles ist unwiederbringlich vergessen, doch die Geschichte mit dem Einweckglas, das wurde mir plötzlich klar, ging auf ein Telefongespräch mit meiner ehemaligen Freundin zurück; sie hatte mir unter anderem mitgeteilt, sie habe sich ein Goldhamsterpaar gekauft und halte es auf Sägespänen in einem Einweckglas. Meine älteste Erinnerung überhaupt kam mir in den Sinn: Ich war höchstens zwei Jahre alt, und meine Eltern lebten in Silistra. Der Hausbesitzer, der Catana hieß, hatte mir ein Glöckchen geschenkt. Bis heute sehe ich alles gestochen klar vor mir: wie ich aus dem Hof rannte und auf der Straße in eine große trübe Pfütze tappte; das Glöckchen entglitt mir, und obwohl ich mit den Händen den Boden der Pfütze - sie war nur einige Zentimeter tief - verzweifelt danach absuchte, fand ich es nicht wieder. Ich erinnere mich, wie verwundert ich darüber war. Diese Erinnerung nun brachte mich darauf, daß ich das Traumgeschehen viel weiter in die Vergangenheit zurückverlangen müsse. Ich konzentrierte mich auf das Mädchen und seine Zöpfe mit den riesengroßen Schleifen aus gestärktem, weißem Tuch. Ich fand, sie sah den Bäuerinnen der holländischen Meister ähnlich, Frauen mit großen üppigen Spitzenhauben. Das holländische Tuch fiel mir ein, worauf Ingres seine Nackten mit den wundervoll geschwungenen Kurven sich räkeln ließ, und auf einmal wußte ich: das Mädchen hieß Jolanda. Dann tauchte die Glastür von Aufgang 1, die sich nur mit großer Mühe öffnen ließ, vor meinem Auge auf, die Dimbovita-Mühle, die grell kolorierten Spielzeuguhren und - Bukarest von der Terrasse aus gesehen, das nächtliche Bukarest mit den regelmäßig aufleuchtenden und wieder erlöschenden roten und grünen Lichtreklamen. In einem Zustand kaum beschreiblicher Begeisterung grub ich in wenigen Minuten Dinge aus, von denen ich angenommen hatte, sie wären aus meinem Gedächtnis längst restlos getilgt. Ja, mehr noch, mir wurde klar, daß sich schlechthin alles, was an Originellem, vielleicht sogar Ungewöhnlichem in mir steckt, in jenem Lebensabschnitt herausgebildet hat. Rätselhaft bleibt nur, wie diese perfekte perlmuttschimmernde Kugel überdauert hat zwischen den grauen Muschelschalen meines Daseins als gelangweilter unverheirateter Lehrer, der nur lebte, weil er nun einmal geboren war. Jedenfalls machte es mich ausgesprochen glücklich, daß auch ich unter Umständen durchaus Interessantes aus meinem Leben zu berichten haben könnte. Ich habe keineswegs vor, eine Erzählung zu schreiben, sondern eher eine Art Bericht, eine kleine unverfälschte Chronik des merkwürdigsten Abschnitts (er war im Grunde der einzige merkwürdige) in meinem Leben. Und der Held dieser Chronik, der zum Zeitpunkt der Handlung etwa sieben Jahre alt war, hat, davon bin ich überzeugt, das Schicksal all der Kinder, die sich damals hinter dem Wohnblock auf dem Stefan-cel-Mare zum Spielen trafen, auf Dauer geprägt, und sei?s auch nur unterschwellig, wie in meinem Fall.

Der Wohnblock hat acht Stockwerke, und dahinter gibt es heute Parkplätze, da stehen die Autos dicht nebeneinander, zitternd im strengen Frost dieses Winters. Als wir vor einundzwanzig Jahren einzogen, war Mutter nach der Geburt meiner Schwester gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. In meiner Erinnerung sitzt Mutter mitten im vollkommen leeren weißen Zimmer, geblendet vom Licht der Frühjahrssonne, das durch das Fenster ohne Gardinen hereinflutet, auf einem Stuhl und gibt dem Kind die Brust. Ich reichte damals knapp bis an den Rand des Spülbeckens in der Küche, in dessen Emaillebelag sich Jahre später ein Fleck mit den Konturen Afrikas bildete, alle Wüsten und großen Flüsse eingeschlossen.

Der Bau wurde damals gerade erst fertig. Er schloß am einen Ende an ein Gebäude an, das wegen seiner Zinnen und Türmchen und der unendlichen Perspektiven, die ich bei de Chirico wiederfand, stets eine beunruhigende Wirkung auf mich hatte, und seine gesamte Rückseite zur Mühle hin (auch sie von mittelalterlichem Gepräge und düster rot angestrichen) steckte noch in rostzerfressenen Baugerüsten. Hinter dem Block war die Erde zerklüftet von Kanalisationsgräben, stellenweise bis zu zwei Metern tief. Hier war unser Spielplatz, vom Mühlenhof durch einen Betonzaun abgetrennt. Diese neue Welt voller Schlupfwinkel, morastig und gruselig, nahmen wir - ein Dutzend Jungs zwischen vier und zwölf Jahren - jeden Morgen in Beschlag, bewaffnet mit blauen und rosa Wasserpistolen, die wir für zwei Lei das Stück im "Rotkäppchen" gekauft hatten, dem ewig nach Petrosin riechenden Spielzeugladen, den es damals am Obor gab, am alten nämlich, dem wahren Marktplatz Obor.

Teil 2