Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparros: Wir haben uns geirrt. Teil 3

26.07.2010.
Velarde redete und redete und redete, und einen Moment lang dachte ich, diese Rederei war jetzt seine Art zu foltern: Du willst etwas von mir, ich soll dir etwas sagen, was du wissen willst, also hör mich an, du Arsch, ertrage gefälligst, dass ich dir erzähle, wie ich Typen wie dich getötet habe. Plötzlich hatte ich das Gefühl, doch die Kraft und genügend Grund zu finden, seinen Kopf auf den Tisch zu donnern, zu toben und ihm ins Gesicht zu treten, bis nichts mehr davon übrig war. Und dann sagte er, er habe nie begriffen, was mit ihm passiert sei, als diese Frau auftauchte.
     "Ich hab nie kapiert, und das meine ich ernst, warum mit dieser Frau alles den Bach runter ging."
     "Mit wem? Estela?", entfuhr es mir, und ich bereute es sofort. Nein, sagte er, nein, eine Frau, von der er nicht mal den Namen wisse. Eine große Frau, in Aconcagua wurde sie "die Russin" genannt, sagte er, denn sie sah sehr jüdisch aus, und nein, sie habe weder seiner Mutter, noch einer Freundin noch sonst jemandem ähnlich gesehen, den er kannte. Nein - er habe oft darüber nachgedacht -, es lag nicht daran, dass sie ihn an einen geliebten Menschen erinnerte. Und nein, sie sei auch buecher.deweder zärtlich, noch zerbrechlich, noch wehrlos gewesen, sondern sie war hart im Nehmen, vollkommen überzeugt, eine Unverbesserliche, die sie, unter der Kapuze, die ihr Gesicht bedeckte, allesamt verarschte. Und ich malte mir einen Moment lang lustvoll die Szene aus: Eine Horde Hurensöhne, Gebieter über die Welt, über Leben und Tod ihrer Gefangenen, denen es nicht gelingt, eine Frau zum Schweigen zu bringen, die sie provoziert. Oder besser gesagt, die sie aus irgendeinem Grund - Stolz? Überdruss? - anders als sonst zum Schweigen bringen wollen: Sie wollen erzwingen, dass sie den Mund hält, gehorcht.
     "Wenn du wüsstest, was wir alles versucht haben. Diese Frau brachte uns zur Verzweiflung, sie machte uns wahnsinnig. Aber keine Chance. Am Ende hat man mir den Befehl erteilt, ihr die Spritze zu geben, um sie später in den Fluss zu werfen. Das war nur logisch, sie hat uns keine andere Wahl gelassen. Und ich kapier nicht, warum mich das so umgehauen hat. Ich weiß es nicht, ehrlich, ich kann es immer noch nicht begreifen."
     Von dem Abend an, sagte Velarde, ging alles den Bach runter. Es sei nicht alles auf einen Schlag zusammengebrochen, sagte er, das nicht, vielmehr seien ihm seine gewohnten Aufgaben allmählich immer seltsamer, immer fremder vorgekommen, bis er sie nicht mehr erledigen konnte.
     "Man schickte mich mit dem Einsatzwagen los, ich sollte jemanden verhaften, eine leichte Aufgabe, keinerlei Risiko, und ich hatte Angst, ich fuhr raus und dachte, man würde mich töten. Aber das hält man noch irgendwie aus. Das Schlimme war, wenn ich die Picana anwenden musste, es jemandem geben musste, eine Information aus ihm rausholen sollte, dann zitterte mir die Hand; ich hatte das Gefühl, ich befände mich im Kopf des anderen, ich konnte den Schmerz, die Angst nachfühlen, Mann, ich war fix und fertig. Die Folter hat es in sich."
     Die geschminkten Frauen hatten aufgehört zu existieren, die Touristenfamilie, das Lokal, auch das Andere Land hatten aufgehört zu existieren; ich sah nur noch Velardes verschwitztes Gesicht, seinen auf- und abtanzenden Adamsapfel; um uns herum diffuses Schwarz, das typische Bild von einer Folterstätte in einem Billigfilm. Manche Orte, Situationen kann man sich nur in Kategorien von Billigfilmen vorstellen.
     "Die Folter hat es in sich. Wirklich."
     Sagte der Folterer. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, ich konnte mir vor allem nicht erklären, warum ich ihm noch länger zuhörte. Es wäre ein Leichtes gewesen, mir einzureden, ich wollte so etwas über Estela erfahren: leicht und billig. Schließlich hatte ich viele Jahre zugebracht, ohne etwas wissen zu wollen. Mein Wunsch - mein Bedürfnis? -, etwas zu erfahren, rechtfertigte nicht, dass ich mit einem Folterer, mit diesem armen Idioten zusammen saß. Vielmehr lag es vermutlich daran, dass es mir einfach nicht gelang, ihn zu hassen. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, ihn für das zu hassen, was er dreißig Jahre zuvor getan hatte. Ich fühlte mich wie der letzte Abschaum.
     "Du weißt nicht, was ich in diesen Jahren alles durchgemacht habe."
     Velarde sprach von Reue, wie schwierig sein Leben von da an war, immerzu diese Bilder im Kopf, endlose Vorwürfe, immer wieder der Wunsch, sich das Leben zu nehmen; als Einziges bewahrte ihn davor, denjenigen seine Geschichte zu erzählen, die es verdient hatten, die es brauchten - damit er das Gefühl hatte, zumindest zu etwas nütze zu sein.
     "Das wollte ich dir unbedingt erklären. Giovannini sagte, dass du, obwohl deine Frau verschwunden ist, ein intelligenter, verständnisvoller Kerl bist, und ich dachte, du würdest mich verstehen."
     Plötzlich war mir alles sonnenklar: Der alte katholische Trick mit der Beichte - aber ich wollte nicht sein Priester sein. Weder das noch sonst irgendwas.
     "Entschuldige, aber wenn du einen Priester brauchst, dann such dir einen. Ich bin kein Priester, ich bin der Mann einer Frau, die du mitgeholfen hast zu töten."
     Velarde tat, als hätte er mich nicht gehört. Ich war überrascht, dass ich diese Worte ausgesprochen hatte: "Frau", "töten".
     "Ja, ein Priester. Anfangs dachte ich, ein Priester könnte helfen. Als mir die ersten Zweifel kamen, ging ich zu dem Kaplan der Einheit. Und der Typ sagte zu mir, ich solle mich nicht so anstellen, es sei meine Pflicht, dem Vaterland zu dienen, wie das Vaterland es mir befiehlt. Beim zweiten oder dritten Gespräch sagte er, wenn ich weiter solchen Unsinn redete, müsse er den zuständigen Offizier informieren. Was für ein Mistkerl."
     "Hast du gehört, was ich gesagt habe, Velarde? Ich sagte, ich bin der Ehemann einer Frau, die du getötet hast."
     "Nein, nicht ich, da liegst du falsch."
     Er sagte, Estela sei nach Aconcagua gekommen, als er sich schon im freien Fall befand und versuchte, sich allem zu entziehen, was mit Gewalt zu tun hatte. Und obwohl so viele Leute das Lager passierten - er sagte: "passierten" -, erinnere er sich an sie: groß, gute Figur - sagte er -, kurzes braunes Haar, ihm habe ihr Lächeln gefallen.
     "Ja, sie hatte ein wunderbares Lächeln."
     Ich wollte schon erwidern, mit welchem Recht er von dem Lächeln sprach, dass er und seine Freunde für immer ausgelöscht hatten, aber ich hielt mich zurück. Eine Frage brannte mir unter den Nägeln.
     "Und der Junge?"
     "Welcher Junge?"
     "Wie, welcher Junge? Unser Sohn."
     "Aber sie war allein, sie hatte kein Kind dabei."
     "Sie war schwanger, als sie verhaftet wurde."
     "Wie bitte?"
     Sagte Velarde und bereute es sogleich. Er schwieg, und sein Gesicht zuckte. Velarde begriff, dass er sich verraten hatte; und ich begriff, dass ich mir seit einer Stunde die Geschichte eines Folterers anhörte, der mich benutzte, um sich rein zu waschen, der keinen blassen Schimmer hatte, wer Estela war. Velarde sah mich an wie ein geprügelter Hund - so hatte ihn wohl so manches Opfer angeschaut, um ihn anzuflehen, er möge aufhören.
     "Entschuldige, ich glaube, ich hab da was durcheinandergebracht. Ach, bei dem ganzen Chaos damals passiert mir das manchmal, ich verliere den Faden und bringe Sachen durcheinander."
     Ich sah einen Moment lang an die Decke. Die Faust im Gesicht, das Geschrei, der Tumult im Cafe - das würde auch nichts ändern. Ich war vor allem eines: sehr müde. Velarde sagte, ich solle nicht wütend auf ihn sein, er habe alles Menschenmögliche getan, er sei besten Willens gewesen, aber er habe sich geirrt. Und um mir seine guten Absichten zu beweisen, wolle er über zwei Menschen sprechen, die mir vielleicht helfen könnten. Einer war der Major - damals war er Major, sagte er, welchen Grad er jetzt hat, weiß ich nicht - Urriolabeitia, der führte die Bücher, ein Umstandskrämer, der alles notierte. Und der andere war der Kaplan; der Mistkerl wisse alles.
     "Wir erzählten ihm immer alles, und er fragte nach, wollte jedes kleinste Detail wissen, er konnte gar nicht genug kriegen. Und er hatte ein Elefantengedächtnis, er erinnerte sich buchstäblich an alles. Außerdem, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war er immer bei den Schwangeren. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, er war derjenige, der die Babys übergab, nur wie gesagt, da bin ich mir nicht sicher. Aber er wusste Bescheid, der Priester wusste alles."
     Ich schwieg. Velarde auch, als wartete er darauf, dass ich weiter nach dem Priester fragte. Warum sollte ich. Er gab sich nicht geschlagen: Ja, ich würde gerne mehr über diesen Priester wissen, was aus ihm geworden ist, der Typ war wirklich unglaublich, ein echter Mistkerl. Pater Fiorini hieß er oder Fiorello, ich erinnere mich nicht mehr. Doch Fiorello, glaube ich, Pater Justo Fiorello. Er kann dir die Informationen geben, die du suchst.
     Es war klar, dass er mir nichts mehr zu sagen hatte, die Farce war beendet und hatte nichts gebracht. Er hatte mir keine Informationen gegeben, ich hatte ihm nicht die gewünschte Absolution erteilt. Wortlos stand ich auf und ging zur Tür; meine erbärmliche Rache bestand darin, dass ich ihn den Kaffee zahlen ließ.

Ich weiß, dass ich dem Kerl nie so lange zugehört hätte, wäre da nicht das Böse gewesen. Der Arzt hatte gesagt, tut mir leid, es ist eine Krankheit, über die wir so gut wie nichts wissen. Wie, eine Krankheit? Nun, eine Krankheit, die nicht oft vorkommt, wie soll ich sagen, eine exotische Krankheit, sagte er und redete weiter. Als ich Stunden später zuhause bei einem Glas Wein die Sätze in meinem Kopf noch einmal Revue passieren ließ, die über mein Leben bestimmten, wurde mir klar, dass er mir mein Todesurteil verkündet hatte. Aber in dem Moment, als der Arzt den Ton eines alten Charmeurs anschlug, um mich zu beruhigen, um das Unerträgliche, das er mir zu sagen hatte, irgendwie zu lindern, konnte ich es nur in dieser Form denken: "das Böse". Er hatte mir gesagt, ich trüge eine Krankheit in mir; er hatte mir gesagt, das Böse habe sich in mir eingenistet.

Und damit hatte er mich geheilt.
          
                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages

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