Vorgeblättert

Leseprobe zu Lydia Tschukowskaja: Untertauchen. Teil 2

22.01.2015.
Im Salon wird Karten und Schach gespielt, geflirtet, Zeitung gelesen und Radio gehört.
     »Ich passe«, hört man im Korridor durch den eindringlichen Redestrom des Radioansagers hindurch. »Mise.« »Post.« »Noch eine Partie?«
     Ich ging hinein, um Zeitung zu lesen. Man muss doch ab und zu Zeitung lesen!
     Bilibin stand sofort vom Kartentisch auf und rückte für mich einen tiefen Sessel zurecht. Ich holte mir die 'Prawda'. Er, der Filmregisseur, die dunkeläugige Dame und der Journalist spielten Préférence. Die Freundin des Regisseurs saß etwas abseits in einem niedrigen Sesselchen vor dem Empfänger und tat so, als höre sie Radio. »Jeder neue Band der Werke von Genosse Stalin geht als ein unschätzbarer Beitrag in das ideologische Kulturgut der gesamten Menschheit ein«, sagte der Sprecher.
     Der schlanke Hals der dunkeläugigen Dame, das goldene Kettchen mit dem Stein, der im Kleiderausschnitt verschwand, wirkten rührend und naiv … Hübsch, fröhlich, nett angezogen. Das war keine Schriftstellerin. Das war bestimmt eine Ehefrau.
     Mit der Zeitungslektüre klappte es nicht, wie immer. Merkwürdig: Alle meine Versuche, Zeitung zu lesen, erweisen sich als vergeblich. Ich kann sie zwar lesen, aber ich kann nichts verstehen. Die Buchstaben fügen sich zu Worten, die Worte zu Zeilen, die Zeilen zu Absätzen, die Absätze zu Spalten, aber das alles ergibt keinen Gedanken, kein Gefühl, kein Bild.
     »Die Sowjetmacht und der Siegeszug der Kollektivierung befreiten die Bauern aus der katastrophalen Lage, die durch anhaltende Trockenheit entsteht. Die Partei und die Regierung messen dem Kampf gegen die Dürre umfassende Bedeutung bei und erklären ihn zu einem Volksanliegen. Der Große Plan zur Veränderung der Natur stellt einen weiteren Beweis der väterlichen Sorge der bolschewistischen Partei und der Sowjetregierung um unsere Heimat dar.«
     Ich lese und lese und sehe nur die Schriftzeichen. Oder stenographische Kürzel. 'Volksanliegen,' 'Der Große Plan zur Veränderung der Natur' - alle diese Worte lassen sich mit einem einzigen Zeichen darstellen. Wie lange ist es schon her, seit ich als Stenotypistin gearbeitet habe, aber immer noch schreibe ich unwillkürlich im Kopf oder auf dem Knie Worte und Sätze in Kürzeln …
     Ohne etwas über den Kampf gegen die Dürre zu erfahren, versuchte ich mich über das Schachspiel zu informieren.
     »Das Schachspielen als fester Bestandteil der sozialistischen Kultur wurde zu einem wirksamen Mittel der kulturellen Erziehung der Masse der Kolchosbauern.«
     Ich bemühte mich, Dorfburschen und alte Bauern über einem Schachbrett in einem Bauernhaus mir vorzustellen, aber es wollte nicht gelingen. Die Hand schrieb weiter die Kürzel: 'fester Bestandteil' und 'Mittel kultureller Erziehung'. Zeichen. Termini. Dahinter weder ein Bauernhaus noch eine Schneewehe … Ich legte die Zeitung beiseite.
     Aber vielleicht kann ich aus der Zeitung deshalb nichts erfahren, weil ich in Wirklichkeit immer ein und dasselbe suche? Und ausgerechnet darüber wird in der Zeitung nie geschrieben.
     »Im Frühjahr ist das Leben im Sanatorium doch angenehmer«, sagte die dunkeläugige Dame, während sie ihre Karten von Bilibin in Empfang nahm (er war an der Reihe), »nein, nein, Sie können mir nicht widersprechen, man hat viel bessere Laune, wenn es warm ist. Im Frühling fühle ich immer, wie in mir, genau wie in der Natur, irgendwelche unbezwinglichen Kräfte erwachen…«
     Der Hals kam mir nicht mehr rührend vor. Es war einfach ein gewöhnlicher weißer Hals. Der Filmregisseur dagegen schien sichtlich angeregt:
     »Tatsächlich?«, fragte er interessiert. »Was ist es denn, was Sie immer im Frühling fühlen?«
     Die Dame, die neben dem Empfänger saß, drehte an einem Knopf, und aus dem Apparat drang lautes Sirenengeheul. »Mein Gott!«, rief Lado. »Lassen Sie doch die Finger davon, wenn Sie damit nicht umgehen können!«
     Ich schlug die 'Literaturnaja gaseta' auf. Bilibin legte die Karten zusammen. Das Spiel war offenbar beendet. 'Der steile Aufstieg der Sowjetliteratur', las ich als Überschrift der ersten Spalte.
     Nach einer Aufzählung von Werken, die »von unserem Volk geliebt werden« und »sich durch gigantischen Einfluss auf die Massen auszeichnen«, las ich einen Absatz über Pasternak, der nicht in der Lage sei, die großen Leistungen seines Volkes zur Kenntnis zu nehmen, und es vorziehe, stattdessen in der eigenen Seele zu wühlen.
     »Sie sehen, zum Beispiel, dass man jetzt überhaupt nichts tun kann außer Karten spielen«, fuhr die dunkeläugige Dame kapriziös fort. »Aber im Frühling ist es einfach phantastisch!«
     »Sie lassen sich hier im Salon selten blicken«, sagte Bilibin charmant, nachdem er sich bei seinen Spielpartnern bedankt und seinen Stuhl an meinen Sessel gerückt hatte. »Es gelingt Ihnen immer, ganz schnell in Ihrem Zimmer zu verschwinden und uns armen Sündern aus dem Weg zu gehen. Sie sind menschenscheu.«
     Die gelben Augen sahen mich aufmerksam, wach an, als hätten sie mich beim Namen gerufen. Aber schon im nächsten Moment glaubte ich wieder, sie lägen unter einem Schleier.
     Ich erklärte, dass ich über einer Übersetzung säße, die besonders zeitraubend sei, dass der Arzt mir befohlen habe, sehr viel spazieren zu gehen, und dass die medizinischen Anwendungen ebenfalls viel Zeit in Anspruch nähmen. Ich käme einfach nicht dazu, mich in den Salon zu setzen.
     »Aber Sie ziehen es auch vor, immer allein spazieren zu gehen«, sagte Bilibin. »Wenn Sie unsere Gesellschaft wirklich nicht verschmähen, dann wollen wir unseren netten Sergej Dmitrijewitsch mitnehmen und nach dem Abendessen alle zusammen einen Spaziergang machen. Einverstanden?«
     Es war nichts mehr zu machen, und nach dem Abendessen gingen wir tatsächlich alle zusammen nach draußen: Bilibin, der Journalist und ich … So, jetzt wusste ich, wem dieser elegante Spazierstock mit dem Wolfskopf als Knauf und der prachtvolle Mantel mit dem Otterkragen gehörten: dem Journalisten. Ich habe ihn mir beim Anziehen in der Garderobe oft angesehen und mich gefragt, wem er wohl gehören könnte.
     Wir marschierten über die breite asphaltierte Straße, denn die Laternen brannten nur an dieser Straße. Es war kalt, es ging bergab, zum Bach, wir hakten uns alle drei ein. Es war ganz still, überall Schnee, überall ländlicher Friede - nur das Tuckern des Generators klang deplatziert und städtisch. Aber bald hörte ich es nicht mehr. Stille lag über dem dunklen Wald zu beiden Seiten der Straße, über der Schlucht unten, über den funkelnden Sternen in der Höhe. Wir marschierten im Gleichschritt den Berg hinunter, ein bisschen vor sichtig, um nicht zu rutschen, weiter und weiter, dem Bach immer näher. Es tat mir gut, zwischen den beiden zu gehen, die frierenden Hände unter ihre Ärmel geschoben, und zuzuhören, wie sie sich gemächlich und leise unterhielten. »Haben Sie an die Streichhölzer gedacht?« »Ich habe gehört, dass morgen viele neue Gäste erwartet werden, Ljudmila Pawlowna hat es mir gesagt.« »Und der neue Koch soll ausprobiert werden.« »Nun, hoffentlich nicht der Koch, sondern die Creme.« Das Schweigen des Schnees, der Bäume und des Himmels war so zwingend, dass auch wir keine Lust hatten, uns zu unterhalten, und wenn überhaupt, dann wenig und leise. »Haben Sie kalte Füße?«
     Die Bäume drängten sich in ungleichmäßigen Reihen an die Straße. Eine dichte Wand von Tannen und darüber der glänzende Mond.
     »Sehen Sie, hier ist das Grab«, sagte der Journalist und sprang leicht über den Graben, zum Waldrand.
     Bilibin und ich blieben stehen.
     Sergej Dmitrijewitsch bückte sich und fuhr mit der Hand - als wollte er einen Rücken streicheln - über einen weißen, vom Schnee sorgfältig zugedeckten niedrigen ovalen Hügel.
     »Hier haben heftige Kämpfe stattgefunden«, sagte Bilibin. »Im Winter einundvierzig … An dem Fenstertisch sitzt ein jüdischer Dichter mit vielen Orden, am dritten Tisch. Ist er Ihnen aufgefallen? Fast weiß, untersetzt. Weksler, hat hier gekämpft und die Deutschen aus Bykowo vertrieben.«
     Wir blieben eine Weile stehen. Der kleine schneebedeckte Hügel glänzte weiß vor uns. Der Journalist sprang über den Graben auf die Straße zurück und hakte mich wieder unter. Wir gingen weiter, die Augen hatten sich an das Halbdunkel bereits gewöhnt.
     Unter unseren Füßen dröhnte die Brücke. Auf dem Geländer lag ein langer, ebenmäßiger, glatter und flauschiger Schneestreifen.
     »Hören Sie, das ist der Bach, er ist nicht eingefroren«, sagte der Journalist.
     Wir blieben stehen. Ich ließ ihre Ärmel los. Wir traten, jeder für sich, an das Geländer.
     »Nein, nichts zu hören«, meinte Bilibin.
     »Doch, der Bach«, beharrte der Journalist.
     Ich horchte. Es tat mir leid, die Schneedecke zu zerstören, aber der Journalist hatte schon den Stock auf das Geländer gelegt, und ich entschloss mich, den Schnee mit dem Ellbogen zu verdrücken. Der Journalist nahm, während er angestrengt horchte, aus irgendeinem Grund seine Brille ab, und da sah man, dass er ein gutmütiges Jungengesicht hat - als gehörten dieser geckenhafte Mantel und der Spazierstock gar nicht zu ihm.
     »Ja, ich höre es auch«, sagte ich.
     »Mal ja, mal nein«, gab Bilibin zu. »Wir wollen noch einen Moment stehen bleiben.«
     Wir standen, sahen den Wald, sahen einander an, hörten das Tuckern des Generators und dahinter das kindliche Murmeln des Baches.

zu Teil 3