Vorgeblättert

Leseprobe zu Kamel Daoud: Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung. Teil 2

04.02.2016.
VI

(...)

     Araber, ich habe mich nie als Araber gefühlt, weißt du. Es ist wie die Negritude, die nur durch den Blick des Weißen existiert. Im Viertel, in unserer Welt, war man Muslim, man hatte einen Vornamen, ein Gesicht und Gewohnheiten. Punkt. Sie waren "die Fremden ", die Roumis, die Gott uns geschickt hatte, um uns auf die Probe zu stellen, aber deren Stunden auf jeden Fall gezählt waren: Sie würden eines Tages gehen müssen, soviel war sicher. Deshalb antwortete man ihnen nicht, man fand sich mit ihrer Präsenz ab und wartete, mit dem Rücken zur Wand. Dein Mörder- Schriftsteller hat sich geirrt, mein Bruder und sein Kompagnon hatten keineswegs die Absicht, sie zu töten, ihn oder seinen Zuhälterfreund. Sie haben nur gewartet. Wir wussten es alle, und das von früher Kindheit an, und wir brauchten nicht einmal darüber zu reden, so sehr wussten wir, dass sie am Ende wieder gehen würden. Wenn es vorkam, dass wir durch ein europäisches Viertel gingen, machten wir uns sogar einen Spaß daraus, auf die Häuser zu zeigen und sie wie eine Kriegsbeute unter uns aufzuteilen: "Das da ist meins, ich habe es zuerst berührt! ", stieß einer von uns aus und löste ein großes Geschrei aus. Mit fünf Jahren schon! Kannst du dir das vorstellen? Als hätten wir schon geahnt, was bei der Unabhängigkeit passieren sollte, dann allerdings mit Waffen.
     Es brauchte also den Blick deines Helden, damit aus meinem Bruder ein "Araber " wurde und er daran starb. An diesem verfluchten Tag im Sommer 1942 hatte Moussa angekündigt, er würde früher nach Hause kommen, das habe ich dir schon mehrmals gesagt. Das hatte mich etwas geärgert. Es bedeutete weniger Zeit zum Spielen auf der Straße. Moussa trug seinen Blaumann und seine Sandalen. Er trank seinen Milchkaffee, sah die Wände an, wie man heute seinen Kalender betrachtet, und stand mit einem Mal auf, nachdem er vielleicht gerade beschlossen hatte, welchen endgültigen Weg er nehmen würde und wann er sich mit einigen seiner Freunde treffen würde. Fast jeden Tag war das so: morgens erst einmal weggehen, dann, wenn er keine Arbeit im Hafen oder auf dem Markt hatte, lange Stunden der Beschäftigungslosigkeit. Moussa schlug die Tür hinter sich zu und ließ die Frage meiner Mutter unbeantwortet: "Bringst du Brot mit?"
     Eine Frage quält mich besonders: Wie kam mein Bruder an diesen Strand? Wir werden es nie wissen. Dieses Detail ist ein unermessliches Mysterium und lässt einen schwindeln, wenn man sich fragt, wie ein Mann an einem Tag seinen Vornamen verlieren kann, dann sein Leben und dann seinen eigenen Leichnam. Im Grunde ist es das, ja. Das ist - ich erlaube mir, da hochtrabend zu sein - die Geschichte aller Leute zu dieser Zeit. Man war Moussa für die seinen, in seinem Viertel, aber es genügte, einige Meter weit in die Stadt der Franzosen zu gehen, und es reichte ein einziger Blick von einem von ihnen, um alles zu verlieren, angefangen beim Vornamen, um dann im toten Winkel in der Landschaft zu verschwinden. An diesem Tag hatte Moussa wirklich nichts weiter getan, als sich zu sehr der Sonne zu nähern. Er sollte einen seiner Freunde, einen gewissen Larbi, treffen, der Flöte spielte, wie ich mich erinnere. Übrigens hat man diesen Larbi nie wiedergefunden. Er war aus dem Viertel verschwunden, um meiner Mutter, der Polizei, den etwaigen Scherereien und der Geschichte dieses Buches zu entgehen. Es blieben von ihm nur ein Vorname und ein seltsames Echo: "Larbi/ L'Arabe". Es gibt nichts Anonymeres als diesen falschen Zwilling … Ah, und dann ist da noch die Prostituierte! Ich spreche nie von ihr, weil es sich dabei um eine echte Beleidigung handelt. Eine Geschichte, die dein Held fabriziert hat. Hatte er es nötig, eine so unwahrscheinliche Geschichte von einer Strichnutte zu erfinden, deren Bruder sie rächen wollte? Ich gestehe deinem Helden das Talent zu, inspiriert von einem Zeitungsausschnitt eine Tragödie zu erfinden und ausgehend von einem Brand die Verrücktheit eines Herrschers wiederzuentfachen, aber an dieser Stelle hat er mich enttäuscht, das muss ich sagen. Warum eine Nutte? Um die Erinnerung an Moussa zu beleidigen, ihn zu beschmutzen und so die Schwere seines eigenen Vergehens abzuschwächen? Heute habe ich da meine Zweifel. Ich glaube viel mehr an die volle Absicht eines Übergeschnappten, der abstrakte Rollen gespielt hat. Der Boden dieses Landes in der Form von zwei fiktiven Frauen: die berühmte, im Gewächshaus einer unglaublichen Unschuld erzogene Marie und Moussas/ Zoudjs angebliche Schwester, eine abwegige Figur dieses Landes, die von Kunden und Passanten beackert und darauf reduziert wird, von einem unmoralischen und gewalttätigen Zuhälter ausgehalten zu werden. Eine Nutte, für deren Ehre der arabische Bruder sich schuldig fühlte, Vergeltung üben zu müssen. Wenn du mich vor Jahrzehnten getroffen hättest, hätte ich dir noch die Version von der Prostituierten/ Heimat Algerien und dem Kolonialherren serviert, der sie vergewaltigt und immer wieder schlägt. Aber davon habe ich Abstand genommen. Mein Bruder Zoudj und ich haben nie eine Schwester gehabt, Punkt, das ist alles.
Ich kann nicht aufhören, mich wieder und wieder zu fragen: Warum nur befand sich Moussa an diesem Tag an diesem Strand? Ich weiß es nicht. Beschäftigungslosigkeit ist eine zu einfache und Schicksal eine zu aufgeblasene Erklärung. Vielleicht ist alles in allem die richtige Frage die folgende: Was machte dein Held an diesem Strand? Nicht nur an diesem Tag, aber seit so langer Zeit! Seit einem Jahrhundert, offen gesagt. Nein, glaube es mir, ich bin nicht so einer. Es ist für mich nicht wichtig, ob er Franzose ist und ich Algerier, nur war Moussa vor ihm am Strand und es ist dein Held, den du jetzt gekommen bist zu suchen. Lies den Absatz im Buch noch einmal. Er gibt selbst zu, sich ein wenig verirrt zu haben, um dann fast zufällig auf die beiden Araber zu treffen. Was ich sagen will, ist, dass dein Held ein Leben hatte, das ihn nie zu diesem mörderischen Müßiggang hätte führen dürfen. Er fing gerade an, berühmt zu werden, er war jung, frei, Angestellter und in der Lage, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er hätte sich viel früher in Paris niederlassen und Marie heiraten sollen. Warum ist er gerade an diesem Tag genau an diesen Strand gekommen? Es ist nicht nur der Mord, sondern das Leben dieses Mannes, das unerklärlich ist. Es ist ein Leichnam, der das Licht dieses Landes wunderbar beschreibt, der aber in einem Jenseits ohne Götter und Höllen gefangen ist. Nichts als ein erdrückender Alltag. Sein Leben? Niemand hätte sich an ihn erinnert, wenn er nicht getötet und geschrieben hätte.
Ich will noch was trinken. Ruf ihn mal.
Hey, Moussa!
Heute bin ich etwas perplex, so wie schon vor einigen Jahren, wenn ich alles noch einmal genau durchrechne und Bilanz ziehe. Zunächst einmal existiert der Strand in Wirklichkeit gar nicht, dann ist Moussas angebliche Schwester eine Allegorie oder einfach nur eine miese Entschuldigung in letzter Minute, und dann noch die Zeugen: Einer nach dem anderen stellen sie sich als Pseudonyme, falsche Nachbarn, Erinnerungen und Leute heraus, die nach dem Verbrechen geflüchtet sind. Auf deiner Liste bleiben nur zwei Paare und ein Waisenkind. Dein Meursault und seine Mutter einerseits, M'ma und Moussa andererseits und ich, der ich hier an der Bar sitze und versuche, deine Aufmerksamkeit zu gewinnen, mittendrin und kann weder der Sohn des einen noch des anderen sein.
Nach deinem Enthusiasmus zu urteilen, ist der Erfolg dieses Buches noch ungebrochen, aber ich sage es dir noch einmal, ich finde, dass es sich um einen schrecklichen Betrug handelt. Je öfter ich nach der Unabhängigkeit die Bücher deines Helden gelesen habe, desto mehr hatte ich das Gefühl, mir die Nase am Fenster eines Festsaales platt zu drücken, bei einer Feier, zu der weder meine Mutter noch ich eingeladen waren. Alles geschieht ohne uns. Es gibt keine Spur von unserer Trauer und dem, was dann aus uns geworden ist. Nichts und wieder nichts, mein Freund! Die ganze Welt wohnt auf ewig immer demselben Mord unter der grellen Sonne bei, niemand hat etwas gesehen und niemand hat bemerkt, wie wir dahin gekommen sind. Immerhin! Ist das nicht Grund genug, sich ein wenig Wut zu erlauben? Wenn dein Held sich wenigstens einfach nur damit gebrüstet hätte, ohne gleich ein Buch daraus zu machen! Es gab zu dieser Zeit Tausende wie ihn, aber es ist sein Talent, das sein Verbrechen perfekt machte.

*

Sieh mal, das Gespenst ist heute Abend schon wieder nicht da. Schon zwei Abende nacheinander. Wahrscheinlich geleitet es gerade die Toten oder liest Bücher, die niemand versteht.

Mit freundlicher Genehmigung von Kiepenheuer & Witsch

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