Vorgeblättert

Leseprobe zu Julie Mazzieri: Grabrede auf einen Idioten. Teil 2

26.01.2015.
VI

Sie schnattern, sie kreischen, eine lauter als die andere, alle durcheinander. Man denkt, es hört nie wieder auf, keine geht je wieder nach Hause zurück. Nur für einen kleinen Schluck oder einen schrillen Schrei halten sie unisono inne. Und schon geht es wieder los, das Gift auf der Zungenspitze. Da sind Kinder, die ziehen in einem Zimmer im Obergeschoss ein kleines Mädchen aus. Die Kleine hat nur noch die Unterhose an, die Mütter hören nichts. Inmitten des Lärms steht ab und zu eine auf und man hört sie im Flur gackern, dann in einem anderen Zimmer, schließlich wieder in der Küche. Die Kinder lachen und sagen zu ihr, sie sei eine Hure. Sie sagt, nein. Sie sagen wieder: Hure. Auf der Treppe sitzt ihr Bruder und weint. Die Frauen reden immer schneller, berauschen sich. Die ganz alten nicken nach jedem Satz, der Kropf baumelt über der heißen Teetasse. Es hätte einen Schlachter gebraucht, um all dem ein Ende zu machen, und selbst dann. Aber dafür waren sie gekommen. Sie waren gekommen, um von der Alten zu reden, die ihren Sohn verloren hatte. Unter dem Tisch schauen die kleinen Jungs, den Mund voller Lakritze, zwischen den Schuhen hindurch und warten darauf, dass ein Ei herauskommt.

Die schöne Jacqueline war da. Und auch Madame Fouquet, neben ihrer Schwester sitzend, die sie am anderen Ende des Dorfes abgeholt hatte. Manchmal musste man für die Alten etwas wiederholen. Die Aufregung war viel größer als gewöhnlich. Die nicht gekommen waren, würden es bereuen. Die Haushälterin hatte nicht lange an sich halten können und die erste Stille genutzt, um die Neuigkeit zu streuen, die "diese vier Wände nicht verlassen darf". Sie hatte den erhofften Erfolg. Alle Frauen hatten sich zu ihr gewandt und sie hatte, so glaubte sie, den Vorfall sehr gut dargelegt. Die Schwester von Madame Fouquet, die niemals eines dieser Treffen verpasste und sich mit Gerüchten auskannte, hatte vorgebracht, sie verstehe nicht, warum die alte Jungfer nicht die Polizei gerufen habe, um das Verschwinden ihres Idioten zu melden. Die Haushälterin war daraufhin schlimm gekränkt. Sie hatte entgegnet, es sei nicht an ihr, alles zusammenzurechnen; sie wiederhole lediglich die Worte des Pfarrers. Und sie hätte diese Vertraulichkeiten lieber für sich behalten, wenn sie gewusst hätte, dass sie ihr solche Anspielungen einbringen würden. Es war eine schreckliche Stille in der Küche eingetreten. Die Kinder waren unter dem Tisch hervorgekrochen und zu den anderen gegangen, die sich oben vergnügten.
     "Es ist wegen dem Bruder, den sie ins Gefängnis gesteckt haben", sagte eine Alte, die noch nicht geredet hatte.
     "Wegen was?", hatte die Gastgeberin der Runde gefragt.
     "Ihrem Bruder, den sie ins Gefängnis gesteckt haben, nachdem er wie wild auf die Jungfer eingeprügelt hatte, als er erfuhr, dass sie schwanger war. Jemand aus dem Dorf hatte geredet und da hat ihn dann die Polizei geholt. Ist nie wieder rausgekommen, soweit ich weiß. Der Vater war damals sauer auf die Jungfer, weil sie geredet hatte. Er hat gesagt, sie hätten das untereinander schon geklärt bekommen. Von da an haben sie zu Hause alle nicht mehr miteinander geredet. Und dann fingen auch noch die Geschäfte an, schlecht zu laufen."
     "Was für Geschäfte?", hatte die schöne Jacqueline gefragt.
     "Er hatte das alte Sägewerk", hatte eine andere Alte geantwortet, die bei jedem Wort ihrer Artgenossin nickte.
     "Ach stimmt, der hatte das Sägewerk, und das fing dann an, schlecht zu laufen. Und dann musste die Jungfer ja noch 'nen Idioten bekommen. Die arme Mutter ist dran gestorben, die Leber, und der Vater ist noch im selben Jahr hinterher. Wenn ihr mich fragt, hat sich Mutter Henri da ihr Bild von der Polizei und von der Gerechtigkeit gemacht."
     Die Haushälterin hatte der Alten, die gerade gesprochen hatte, etwas Tee eingeschenkt. Jacqueline wollte wissen, wer der Vater des Idioten war.
     "Haben sie euch nie erzählt, dass man's nicht mit seinen Cousins macht?", hatte die Schwester von Madame Fouquet lachend eingeworfen.
     Die Schöne hatte die Ironie nicht verstanden, aber andere hatten gelächelt. Die Schwester war fortgefahren: Auch wenn alle Welt so eine Ahnung dazu hatte, man wusste eigentlich nichts Genaues. Die Jungfer hatte nie geredet.
     "Aber", hatte die Haushälterin das Gespräch wieder aufgenommen, "auch wenn man wüsste, wer der Vater ist, das würde uns immer noch nicht verraten, wo der Idiot ist und warum er verschwunden ist."
     Sie hatten daraufhin alle gleichzeitig wieder losgeredet, um ihre Vorschläge, ihre Hypothesen zu formulieren. Das kleine Mädchen war in die Küche heruntergekommen, in Unterhosen, und weinte hinter dem Stuhl ihrer Mutter. Zwischen den Vermutungen der einen, den Richtigstellungen der anderen, der Schelte der Mutter, den Schluchzern der Kleinen und dem Lärm der Jungs, die sich über ihren Köpfen prügelten, war jemand zur Küchentür hereingekommen, ohne dass ihn irgendwer bemerkt hätte.
     "He, ist für dich, Simone", hatte schließlich die Schwester gesagt und mit dem Finger auf den Jungen gezeigt, der schüchtern im Türrahmen stand.
     "Was ist los?", hatte Mutter Fouquet gefragt und richtete sich auf ihrem Stuhl auf.
     Der junge Mann wollte nicht reden. Er hatte einen unsicheren Blick auf die um den Tisch sitzenden Frauen geworfen und sich zum Flur umgedreht, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie besser woanders miteinander redeten.
     "Jetzt steh doch nicht so blöd da!", hatte die Schwester schnell gesagt. "Mach den Mund auf, Herrgott! Rede! Siehst aus, als würdest du gleich umkippen!"
     Der Arbeiter hatte erneut die Mutter angesehen. Sie hatte mit den Schultern gezuckt, um ihm zu verstehen zu geben, dass er ruhig reden könne.
     "Es war, als die Tiere auf die neue Weide gingen", hatte er mühsam begonnen, "Eigentlich war es der Vater. Er. Ich hab's gar nicht gesehen. Aber ich weiß nicht, warum sich jemand das ausdenken sollte. Wir kamen gerade den Graben wieder hoch, da hat er's mir gesagt. Dass da jemand im Graben liegt. Jemand Totes, meine ich. Aber ich hab's gar nicht gesehen. Ich bin ihm einfach bis nach Hause hinterher. Er war trotz allem ganz ruhig. Er hat die Polizei gerufen und ihnen alles erklärt. Wir haben dann im Laster auf sie gewartet, am Wegesrand, nicht weit von dort, wo der Vater eine Abkürzung durch den Graben nehmen wollte. Und als sie dann da waren, ist er nicht ausgestiegen aus dem Pick-up. Er ist bis zum Gasthof gefahren. Jetzt ist er im Gasthof und sagt kein Wort. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Man müsste zurück zu den Polizisten, denk ich mal. Aber ich weiß nicht, was ich denen sagen soll. Weil ich hab's ja eben gar nicht …"
     Die Mutter war aufgesprungen. Sie hatte ihre Tasche gegen die Brust gepresst und war rasch zum Arbeiter gelaufen. Sie waren im Flur verschwunden. Die Schwester hatte sich beeilt, um sie zu erreichen. Rings um den Tisch hatten sich die Frauen stumm angeblickt. Das machte man nicht: vor Vergnügen erröten.


Mit freundlicher Genehmigung des Diaphanes Verlags

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