Vorgeblättert

Leseprobe zu Josef Winkler: Mutter und der Bleistift. Teil 2

25.03.2013.
Ein sechzehnjähriges, eine dunkelviolette, glänzende Jacke und eine hautenge, brombeerfarbene Hose tragendes Mädchen fährt mit ihrem speichelnassen Zeigefinger quietschend über eine Schaufensterscheibe, hinter der auf einem handbemalten Keramiktopf ein roter Stoffpapagei mit grünen Glasaugen steht. An die nächste kleine Schaufensterscheibe drückt sie wiederum den Zeigefinger, zeichnet ein Kreuz, so daß die Scheibe zu Bruch geht, und läuft schließlich mit blutendem Finger,vorher links und rechts schauend, davon. Neben dem handbemalten Keramiktopf, unter einer großen Käseglocke, steht ein kleines, folkloristisches Stoffpärchen. Der weiblichen Stoffpärchengestalt hängt ein silbernes Kruzifix um den Hals. Auf unzähligen Friedhofsgräbern liegen schwere, farbige Keramikblumenkränze, Souvenirtafeln aus Marmor mit farbigen Brustbildern der Toten. Dazwischen liegen oft haufenweise Sträuße mit verschiedenfarbigen Plastikblumen, aber kaum frische Schnittblumen. Auf einer Grabplatte steht ein weißer Keramiktopf mit blauen Kermaikvergißmeinnicht. Hinter einem Grabmal, in einem mit Erde gefüllten Topf, steckt eine rostige Schneiderschere. Beim Hinausgehen aus dem Friedhof stolpere ich über eine harte, knisternde grüne Totenkranzschleife und schaue gleichzeitig auf einen breiten, buschig grünen Feigenbaum, der hinter der Klostermauer aufragt. Im Klosterhof, vor der Buchhandlung, spielt ein plitschnasser Junge mit einem sich mehr und mehr mit dem Regenwasser vollsaugenden Schaumgummiball, auf dem die Karte der Weltkugel aufgedruckt ist. Ein ebenfalls mitspielender junger Mönch, der unter dem Überhang seiner knöchellangen weißen Kutte ein großes, schweres, vergoldetes Kruzifix um den Hals trägt, schießt dem ständig lachenden und feixenden Jungen die schwer gewordene Schaumstoffweltkugel auf die Brust. Die Buchhandlung des Klosters, so zeigt es bereits neben dem Eingang an der Hausmauer ein Schild, darf weder mit Hunden mit oder ohne Maulkorb noch in kurzen Hosen und auch nicht von Frauen betreten werden, die nur einen Badeanzug tragen. Im Buchladen des Klosters kann man neben ausschließlich religiösen Büchern auch klostereigene Marmeladen, Meßwein, Rosmarin-, Thymian-, Lindenblüten- und Akazienhonig kaufen. Neben anderen, auf dem Boden in der Buchhandlung sitzenden und ausschließlich religiöse Comicgeschichten lesenden Kindern blättert ein Mädchen in der Zeichengeschichte der "Bernardette de Lourdes".
     Im Dorf Rieux, in der Nähe von Lagrasse, wo der französische Verlag Verdier seinen Hauptsitz hat, erzählt die Verlegerin, die uns mit uraltem Wein und Bauernwurst bewirtet, stürzte ein kleines Wildschwein, das, bereits vom Jäger angeschossen, von einem Hund verfolgt worden war, durch ein kleines Fenster in die Küche hinein und landete auf dem Küchenboden. Das Wildschwein wollte das Haus nicht mehr verlassen, irrte von der einen Ecke in die andere, vom einen Zimmer ins andere und mußte regelrecht ins Freie getrieben werden. Der in diesem Augenblick im Garten selbstgekelterten Wein trinkende Jäger fing das Tier ein und erstach es. Es wurde sofort geschlachtet, gehäutet, ausgenommen und eine Zeitlang in die Linde gehängt. Ihr Haus, so erzählte die Verlegerin, wurde aus dem Stein des dahinter aufragenden Felsens erbaut. In der lauwarmen Küche, in der sich auch ein offener Kamin befindet, in dem laut das brennende, harzige Holz knistert, blickt man beim Händewaschen über einem kleinen steinernen Waschbecken durch ein kleines Fenster auf die Äste einer schon blühenden Linde. Die Verlegerin schenkt mir die französischen Ausgaben der Aufzeichnungen von Peter Handke: "Gestern unterwegs" und "Am Felsfenster morgens". "Sich das Tranchiermesser des Bilderdenkens durch das geredeverwucherte Gehirn schieben (5. August)"
     Auf der Rückfahrt von Lagrasse nach Toulouse sehe ich unzählige Olivenbäume, zwischen hüfthohen Weinranken verlaufen Eisenbahngleise mit Oberleitungen, Pinien stehen an den Straßenrändern und immer wieder gelbe Ginsterbüsche. Am Rande eines roten Mohnfeldes, aus dem nur spärlich das Grün des Grases herausleuchtet, steht eine Werbetafel der Autoreifenfirma "Michelin" mit dem bekannten dicken Reifenmann, seinen Reifenfüßen, Reifenarmen, Reifenkopf mit Gummihirn. Während der fast zweistündigen Autofahrt sah ich weder Rinder- noch Schafsherden, nur einmal zwei regennasse braune Pferde, das eine groß, das andere klein, Stute und Fohlen, kolchosartig große Getreidefelder und unendlich viele Weinfelder. Beim Anblick eines Getreidefeldes fällt mir ein, daß ich damals als Kind Angst hatte, wenn wir zu Fuß mit der Schulklasse durch den Wald und über die Wiesen nach Paternion ins Freibad gingen, denn Sommer für Sommer fragte mich der Lehrer nach dem Unterschied der einzelnen Getreidesorten. Ich schämte mich immer, wenn ich - "Du als Bauernsohn . . .!" - die auf den Feldern wachsenden Getreidesorten voneinander nicht unterscheiden konnte, den Roggen vom Hafer nicht, den Weizen von der Gerste nicht, Jahr für Jahr, immer dieselbe Tortur mit Handtuch und Badehose. Auf dem Flughafen in Toulouse ließ bei der Sicherheitskontrolle eine Frau neben einem kleinen Fotoapparat auch ein Büschel mit einem Gummiring zusammengehaltener Maiglöckchen durchleuchten.

zu Teil 3
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