Vorgeblättert

Leseprobe zu Joachim Kalka: Die Katze, der Regen, das Totenreich. Teil 2

16.02.2012.
Solcher bezaubernden Fürsorglichkeit des Gegenständlichen kann man eine Szene gegenüberstellen, in der der Held dem Objekt mit der voraussetzungslosen Neugier eines Kindes oder Außerirdischen gegenübertritt. Sie findet sich in dem im Oktober 1916 gedrehten The Pawnshop. Die Sequenz gilt zu Recht nicht nur als eine der großartigsten Episoden im Werk Charlie Chaplins, sondern als eine Schlüsselszene der Filmkomik überhaupt: Charlie nimmt als Angestellter einer Pfandleihe einen Gegenstand zur Prüfung entgegen, den ein Kunde beleihen möchte – es handelt sich um eine große, massive Weckeruhr. Diese Uhr unterwirft Chaplin nun einer Reihe von Manipulationen, deren Repertoire beim ersten Ansehen schier unerschöpflich wirkt – er untersucht sie wie ein Arzt, hört sie ab, testet sie mit dem Reflexhammer, macht sie dann mit dem Büchsenöffner auf und verfährt mit den Innereien wie ein Zahnarzt, ein Klempner, ein Juwelier mit der Lupe, beruhigt die hin- und herrollenden und -springenden Rädchen und Federn mit hastig aufgespritztem Öl, hämmert, analysiert und reicht die Uhr dann nach einer eleganten Abfolge ebenso subtiler wie brutaler Eingriffe kopfschüttelnd in Stücken zurück.
Chaplin zeigt sich uns zweifellos als einer der großen Improvisatoren der Filmgeschichte – die Szene, wie er in The Gold Rush seinen gekochten Stiefel verzehrt (die Schnürsenkel werden zu Spaghetti, die Nägel zu Gräten usw.), wäre bereits der schlagende Beweis. Er liefert in seinen frühen Filmen, ehe sich die Tramp-Figur zu stark mit Sentimentalität durchsetzt hatte, aber auch die vielleicht krassesten Beispiele – Hiebe, Bisse, Stöße – für die Gewalttätigkeit des Slapsticks, die geschäftige Reduktion des anderen Menschen auf den manipulierbaren Gegenstand. Diese sadistische Zurüstung gehört zum ureigensten Bestand jener Form von Komik, tatsächlich ist die Brutalität der improvisatorischen Manipulation, wie sie das Gegenüber plötzlich zur Schubkarre zweckentfremdet oder den anderen zum situativ unvermeidlichen Fußschemel erniedrigt, so etwas wie eine Zwischenstufe zu jener Slapstickperspektive, in der sich uns dann wiederum die ganze Objektwelt entgegenstellt: Erniedrigt der Mensch den Menschen zum Objekt, dann ist es, als fühlten sich alle Gegenstände ermächtigt, ihrerseits zum Kampf gegen die Menschlichkeit anzutreten.
Zeigt der Slapstick auf der einen Seite das herrlich-gehorsame Einverständnis der Objekte (Keaton), geht er also an seinem anderen Spektralende über in eine Destruktivität, der sich ebenso zauberisch überall eine Gelegenheit bietet, den Mitmenschen wie einen Gegenstand zu malträtieren. (Und er muß es sich, kraft der Erfindungen ausgeklügelter Situationslogik, gefallen lassen: In The Circus wird Chaplin, der Vagabund, von einem kleinen Ganoven über den Jahrmarkt verfolgt; als beide an der Fassade einer Bude, wo sich mechanische Puppen bewegen, miteinander zu raufen beginnen, bemerken sie, daß ein Polizist hersieht. Sie nehmen – eine rasche Improvisation – das Wesen zweier Fassadenautomaten an, tun so, als gehörten sie in die Puppendekoration, und Chaplin schlägt in rhythmischen Abständen seinen Antagonisten auf den Kopf, um dann ruckartig den Kopf in den Nacken zu werfen und den Mund zu einem stummen – im Stummfilm doppelt stummen – Gelächter aufzureißen. Der andere darf sich unter dem ratlos-argwöhnischen Blick des Polizisten nicht rühren und leidet die Schläge, bis er bewußtlos umfällt.)
Dieser Slapstick veranschaulicht eine Form von Praxis, deren Komik sich dadurch ergibt, daß der geschilderte utopische Impuls (daß alle Objekte mit unseren Plänen gehorsam, ja lustvoll zusammenspielen) sein Vorzeichen umkehrt: Alle Objekte schmiegen sich uns in die Hand – zum Zwecke der Zerstörung. Alles ist mit einem Male, haben die Schauspieler die erste Sicherung mit genüßlicher Konsequenz durchbrennen lassen, zuhanden zum großen Werk der Zerstörung, und erst wenn alles irreparabel vernichtet ist (James Finlaysons Haus und Stans und Ollies Auto in Big Business), endet der Zyklus.
In gemilderter Form zeigt sich diese aggressive Haltung als das, was Charles Barr in seinem schönen Buch über Laurel und Hardy mit einer glücklichen Formulierung "inspired opportunism" genannt hat. Diese Haltung gewinnt den ursprünglichen Sinn des Wortes "Opportunismus" zurück: Sie weiß alle Gelegenheiten zu ergreifen und sie erkennt sie rücksichtslos auch da, wo das allzu rationale Bewußtsein, festgelegt auf bewährte Abläufe, sich keinen Rat mehr weiß – "Das gibt eine Queraufnahme", wie es in der Photoatelier- Szene von Karl Valentin und Liesl Karlstadt heißt, die eine kleine Enzyklopädie der ingeniösen, aber verfehlten Improvisation darstellt. ("Wir möchten Brautbilder haben … – Wie viel? – Ein halbes Dutzend bitte. – Soviel wern ma gar net ham [Nimmt Bilder und zeigt sie her]. – Von uns wollen wir doch Bilder haben, das sind wir ja gar nicht. – A so, von eahna wollens welche ham, ja de müßten aber extra angefertigt werden … Diese Firmlingsbilder wern sehr gern gekauft – oder soll’s was in Uniform sein? – Das wären mehr so Massenaufnahmen …") Die ins Atelier verirrten Kunden werden hier behandelt wie widerspenstige Elemente eines tristen Stillebens: "Nimmt Bukett, legt es Braut zu Füßen, steckt’s dann Braut in das Kleid, dann in den Mund: ›So ist’s gut – einen Moment …‹"
Dieser zerstörerische Slapstick setzt die antagonistische Situation voraus, daß Figuren miteinander kämpfen und zu diesem Kampf alle Möglichkeiten der Objektwelt aufbieten. Der Widerstreit erweitert sich aber gerne zu einer sozusagen höheren Stufe, die keinen anderen Antagonismus mehr kennt als den der Figuren und ihrer Existenz in einer Welt. Erkennbar wird diese gnadenlose Gegensätzlichkeit an der unbegrenzten Bereitschaft eben jener Welt, dem Menschen in all ihren Details feindselig gegenüberzutreten. Das tut sie derart ingeniös, daß ich es ihre Fähigkeit zur "negativen Improvisation" nennen möchte. Das geschilderte Gestenrepertoire der magischen Komik Keatons steht unter dem Gesetz, daß mit Geschick und Glück alles gehorcht und gelingt; der rabiate Aggressionsslapstick gehorcht der Einsicht, daß alles – auch das Unerwartete – dazu taugt, dem Mitmenschen eins über den Schädel zu geben; der Slapstick der negativen Improvisation lebt (unseres Sündenfalls in die Aggression wegen?) aus der Logik, daß alles mißlingen muß, was wir anrühren. Das ist sehr komisch.

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"… brachen viele Männer in schallendes Gelächter aus, und der Improvisator geriet in Verlegenheit. "
PUSCHIN, Ägyptische Nächte

Wir leben dann mit einem Male, ganz deutlich faßbar, in einer Welt, wo jedes unscheinbare Fädchen, an dem man abwesend oder mit müßiger Neugier zieht, das ganze Haus zusammenfallen läßt – ein beiläufiger ordnender Griff (Loriots "Das Bild hängt schief") bringt à la longue die Wohnung zum Einsturz. Der Slapstick, den Hollywood entwickelt hat, nahm seinen Anfang in Frankreich, wie Mack Sennett, der große Produzent von Stummfilmkomödien, in seiner Autobiographie eingesteht: "I stole my first ideas from the Pathés." Dieses französische cascadeur-Kino, in dem man noch in jeder Einstellung die optischen Echos des Variétés und des Zirkus erkennt, ist von Nicole Védrès schön beschrieben worden: "Und im exakten Augenblick, in dem der Fußboden des Zimmers wegstürzte, wußte jeder genau, wohin er zu springen hatte – der eine aufs Klavier, der andere in den Gummibaum, die Zylinderhüte noch in den Händen, mit baumelnden Lorgnetten und bebenden Bärten." Eine bizarre Logik beherrscht diese Desaster, und man sieht die bürgerliche Topfpflanzenidylle als explodierendes Zaubertheater.
Im Slapstick des amerikanischen Kinos lassen sich zwei Schulen unterscheiden, die man mit den Namen Sennetts und Hal Roachs in Verbindung bringen kann: Sennett ist der Choreograph der entfesselten wilden Jagd durch Gebäude und Städte, bei der die groteske Polizeitruppe der Keystone Kops in ihrem Auto, vor dem sich Passanten mit entsetzten Sprüngen retten, um Straßenecken wirbelt; Roach führt seine Figuren – etwa Laurel und Hardy – in eine eher statische, mit hundert Möglichkeiten der Verwicklung ausgestattete Peinlichkeitssituation "und sieht", wie Raymond Durgnat trocken bemerkt, "ihnen methodisch dabei zu, wie sie nicht wieder herauskommen". Sennett scheint insofern der weiter avancierte Komikfabrikant, als er die urbane Schockerfahrung losgelassener Geschwindigkeit zelebriert, ein Virilio der Sahnetorten: Alles ist zapplig-schnell geworden, so rasch, daß man es auf den ersten Blick nicht verarbeiten kann – daher die Bedeutung des rituell-komischen Topos des "double-take", des zweimaligen Hinschauens: Ein Schauspieler sieht etwas Verrücktes oder Bedrohliches, nimmt es aber nicht eigentlich begreifend wahr und schaut wieder weg; eine Sekunde später ist die Apperzeption da und der Kopf ruckt entsetzt zum zweiten Mal in die alte Richtung. Die Geschwindigkeit ist für die Zuschauer genüßlich-katastrophisch erlebbar, halb ergreift sie der Schreck, halb sind sie hingerissen. (Schon in einem Wort wie "hingerissen" liegt ein schönes Erinnerungsmoment an die Körperlichkeit des Ästhetischen, in seinen erhabenen wie in seinen gemeinen Momenten, ein rascher Ruck.) Auf das Tempo kommt es an: Dem "jungen Zauberer" rät der große Houdini: "Work as quickly as you can." Uns aber, die wir keine Zauberer sind und doch immer so rasch arbeiten müssen, wie wir nur können, fällt alles hinunter.
Hal Roachs Langsamkeit erweist sich allerdings auf den zweiten Blick als die möglicherweise interessantere Variante; der "slow burn" des reglosen Wartens von A, während B ihm etwas antut, bis schließlich A wieder drankommt und dem stummen B etwas zuleide tut – das ist ebenso eigenartig (und vielleicht selbst psychologisch "wahrer ", als man meinen sollte) und bei aller Komik sinister wie der Fluch, der auf dieser Filmwelt lastet: daß alles glorios danebengeht. In diesen Filmen sind die Straßen der Städte wie die Interieurs voll von Gegenständen und Situationen, die darauf warten, uns stolpern zu lassen, im buchstäblichen wie metaphorischen Sinne. In der Welt zu existieren heißt, Opfer einer Verschwörung von Kontingenzen zu sein.

zu Teil 3