Vorgeblättert

Leseprobe zu Jens Steiner: Carambole. Teil 2

08.07.2013.
Als am nächsten Morgen die Pausenglocke sie auf den Schulhof scheuchte, saß ihnen die Trägheit noch etwas tiefer in den Knochen. Sie sanken wie herrenlose Marionetten zu Boden. Von ihrem Platz an dem Mäuerchen hatten sie alles im Blick: die Fußballjungs, Mädchen im Tratschkreis, Einzelgänger in Einergruppen. Manu sah sie alle in schwarz-weiß gestreifter Kluft, jeder am Fußgelenk eine schwere Kugel nach sich ziehend. Er musste an Schorsch und die Geschichte vom Vortag denken. Was genau hatte er ihnen sagen wollen?
     Fred räusperte sich umständlich, und Manu blickte auf. Am Rand des Pausenhofs stand Renate. Über Freds Gesicht kletterte eine perfide Verzweiflung, zog an Unterlippe und Augenbrauen. Manu schaute dem Geschehen eine Weile lang zu, dann sagte er: "Was ist das eigentlich, ein Schäferstündchen?"
     "Dafür bist du zu klein", blaffte Fred.
     "Weißt du's denn?"
     "Klappe, Manu!"
     Manu hielt die Klappe, obwohl er begriff, dass auch der große Fred es nicht genau wusste. Er schloss die Augen und suchte im Gedächtnis nach einem frohen Gedanken. Er sah seine Mutter, im Keller vor ihren Terrarien stehend, in der Hand den großen Rundkolben voller Taufliegen. Wochenlang regte sich kaum etwas in den Glaskästen, wovon sie sich keineswegs beirren ließ. Sie hatte keine Angst, weder vor der Gegenwart noch vor der Zukunft. Manu bewunderte sie.
     Renate warf ihre Mähne mit Schwung scheitelüber. Sechs Augen schauten ihr zu. Aus Freds Mund erklang ein Japsen, Igor schluckte und Manu dachte nach. Keine zwei Wochen mehr bis zum Ende des Schuljahrs. Und dann? Nichts. Weiterwarten. Seine Eltern konnten sich wie immer keine Ferien leisten, Igor wollte mit seiner Mutter ohnehin nicht verreisen, und Fred, wer wusste schon warum, Fred blieb immer da, und seine Eltern waren immer weg, wahrscheinlich auf dieser Insel, wie hieß sie nochmal?
     Als ob Igor Gedanken lesen könnte, sagte er zu Fred:      "Warum gehst du eigentlich nicht mit in euer Ferienhaus auf Oléron?"
     "Dort ist eh nichts los. Scheiß Oléron", antwortete Fred, ohne den Blick von Renate abzuwenden.
"     Und hier ist etwa mehr los?", fragte Igor.
     "Schnauze!"
     "Und das Bungalow in wie hieß das nochmal?"
     "Bandol. Hatten wir nur gemietet."
     "Und wo ist das genau? Kotasür?"
     "Schnauze, Igor!"
     "Und dieses Appartement in Paris …?"
     Schon hatten sie sich ineinander verkrallt. Während sich um die beiden Raufer eine Schülertraube bildete, hier und dort Anfeuerungsrufe erschallten, fragte sich Manu, ob er eingreifen sollte, schließlich hatte er den Streit mit seinem Gedanken an die Insel sozusagen ausgelöst, dabei trat er ein paar Schritte zurück, und noch ein paar, und als er schließlich am Rand des Pulks angekommen war, sah er ein paar Meter entfernt Renate, erkannte in ihrem Blick Verachtung für alles, was sich auf diesem Pausenplatz tummelte, und als sie ihn sah, drehte sie sich um und stelzte davon, verschwand hinter dem Fahrradunterstand, und dann schepperte auch schon die Pausenglocke, die Traube löste sich auf, während Fred und Igor verknäuelt auf dem Boden liegen blieben und Manu noch immer eine Antwort auf seine Frage suchte.

Nächster Tag, bei Freysinger. Oben Blätterwerk, pausenlos flimmernd, unten unbändiges Gewucher. Wie tote Fliegen lagen sie da, ein Tableau von der Trägheit des Herzens und der Trübung des Willens. Gegenüber erschien die alte Frau Becher in ihrem Hauseingang, im Schlepptau ihr Hund. Fred dachte laut über heidnische Grausamkeiten nach. Mit glühenden Augen führte er den Freunden seine Fantasiespiele vor: "Eure Lieblingsfoltermethoden bitte! Anfangen mit Rang zehn, ich gebe euch eine Minute!" - "Wohin würdet ihr eure Eltern verbannen?" - "Ihr seid kurz vor dem Verhungern und habt die Wahl: gekochtes Affenhirn mit Hundehoden garniert oder gekochtes Hundehirn mit Affenhoden garniert?"
     Nein, Manu und Igor konnten nicht mithalten. Igor fragte sich, ob man auf solche Gedanken kam, wenn man ganze Abende allein in einem riesigen Haus vor einem riesigen Bildschirm saß. Freds Eltern hatten dieses Haus für ihren Sohn gebaut, und er konnte darin schalten und walten, wie er wollte. Im Tiefkühler erwarteten ihn alle vorstellbaren Sorten von Pizza, im Fernseher Cartoons und Monstertrucks auf unzähligen Sendern, daneben die neueste Xbox. Fred, seine eigenen Eltern verbannen? In Igors Vorstellung hob sich still ein Vorhang, eine Bühne in gedimmtem Licht erschien, eine Mama und ein Papa, gefesselt und geknebelt auf dem Wohnzimmerperser, der Sohn auf der Innenveranda thronend, seine bellende Stimme: "Auf die Osterinsel, alle beide! Für neunundneunzig Jahre, so will es das Urteil. Einspruch wird abgelehnt!"
     Diese Eltern, dachte Igor. Man sah sie fast nie. Auch seine eigene Mutter ließ sich im Dorf kaum blicken, aber das hatte einen guten Grund. Ihre beiden Körperhälften konnten sich nicht mehr einigen, was zu tun war, und ihre Stimme brachte die erstaunlichsten Töne, aber keine Wörter mehr hervor. Seit dem Hirnschlag lebte sie auf ihrer ganz privaten Osterinsel.
     Vor ihm lag ein Käfer im Gras und strampelte unsichtbare Muster in die Luft. Igor bot seinen Finger dar, der Käfer nahm dankbar an und eilte davon. Igor blickte auf. Frau Becher und Hund erschienen erneut im Hauseingang. Sie fletschte das Gesicht, der Hund gähnte. Fred war mittlerweile verstummt, Manu pulte an einem Klumpen Erde herum. Bald, dachte Igor, werden wir hier festgewachsen und Teil von Freysingers Garten sein. Und niemand würde es bemerken.
     Doch dann, erst sachte wie vom Wind angehoben, danach entschlossen, hob sich Freds Hand, und ihr Besitzer zischelte: "Pst. Nicht hinschauen. Die Mutter."
     Zwei Köpfe wie Wetterfahnen in einer sanften Brise.
     "Nicht hinschauen, hab ich gesagt!"

zu Teil 3