Vorgeblättert

Leseprobe zu Jens Steiner: Carambole. Teil 1

08.07.2013.
Anspiel

Unter Freysingers Kirschbaum angekommen, knickten ihnen flugs alle Glieder ein und sie purzelten ins beschattete Gras. An diesem Ort herrschte ein ganz eigenes Trägheitsgesetz, sie hatten sich daran gewöhnt. Während Fred begann, Ameisen unter Spuckeklecksen zu begraben, und Manu in die grüne Unendlichkeit von Freysingers Garten kroch, blickte Igor melancholisch in den Himmel.
     Zwei Wochen bis zu den Sommerferien, dachte er, und noch immer ist nichts passiert. Alles wird an uns vorbeigelotst. Einen Anfang müsste man machen, einen kräftigen Satz hinein ins Leben, aber wie? Schorsch fiel ihm ein. Mit seinen Geschichten erfand er ständig neue Welten und hebelte alle physikalischen Gesetze aus. Sie verstanden selten, worum es in den Geschichten ging, und doch lauschten sie ihm jeweils gebannt. Schorsch war anders. Wenn er wie ein schrundiges Gewächs vor ihnen stand und losplauderte, konnte Igor sich kaum konzentrieren, er sah bloß die struppigen Haare auf seinem Kopf und diese Augen, wie Kiesel in das Gesicht hineingedrückt. Manu versuchte sich die Geschichten als Schachaufgaben vorzustellen und vergaß sie gleich wieder. Fred schließlich glaubte nichts von dem, was Schorsch ihnen auftischte, er wollte immer Beweise sehen.
     Was, dachte Igor, noch immer betrübt in den Himmel spähend, würde Schorsch an unserer Stelle tun? Er spürte, wie seine Lider schwerer wurden. Das Trägheitsgesetz, schon wieder. Die Lider begannen zu flattern. Schorsch, dachte er, Schorsch, erhöre uns. Die Lider fielen zu und gingen nicht mehr auf. Ich wollte doch einen Anfang finden, dachte er, ich wollte doch, ich wollte, ich. Seine Hände rutschten schlaff ins Gras, und zwischen seinen Lippen tat sich ein dunkler Spalt auf.
     "Aha, die Jungs."
     Igor fuhr hoch.
     "Oh, Schorsch. Hallo."
     Schorsch stand neben Freysingers altem Opel und blinzelte ihn an, während Manu aus seinem Gebüsch hervorkroch und Fred sich den Mund abwischte.
     "Wie geht's den Jungs?"
     "Gut, Schorsch."
v"Was tun die Jungs?"
     "Nichts."
     In Schorschs Augen leuchtete ein Grimmen auf. "Ihr werdet mir diese Geschichte nicht glauben. Ich erzähl sie euch trotzdem."
     "Aha."
     "Passt auf, ihr Knilche."
     Da war er wieder, der alte Schorsch. Er hatte sie erhört. Nun setzte er seinen Hebel an und drehte die Welt auf den Kopf. Fred war fest entschlossen, ihm auch dieses Mal kein Wort zu glauben.
     "Nun, ich muss ein bisschen ausholen. Wie ihr wisst, wimmelt es in meiner unvergesslichen Heimat Korsika von Banditen. Nicht die Banditen, die ihr Flegelvisagen euch vorstellt, mit Vorderlader im Gürtel, dicken Ohrringen und dem ganzen Plunder. Nein, sie sind auf Motorrädern unterwegs, tragen höchstens ein Messer bei sich, und meist nicht mal das. Sie sind Kleinbauern oder Schafhirten aus den Bergen, und sie rauben nur Franzosen aus. So, jetzt Achtung. Ich eines Tages fröhlich unterwegs im Hochland, steht plötzlich ein Franzose da, wie Gott ihn geschaffen hat, will heißen splitternackt …"
     Die Leute im Dorf wechselten die Straßenseite, wenn sie Schorsch erblickten. Bloß einige Unverzagte grüßten ihn mit einem Nicken. Das war die Ordnung der Dinge, und Schorsch hatte sich längst in ihr eingerichtet. Es amüsierte ihn.
     "… der Franzose flitzt hinter einen Baum, lugt hervor und zischelt mir zu: 'Pst, he!' Ich in einer Seelenruhe an ihm vorbei. 'Pst, Monsieur, hätten Sie mal eine Minute Zeit?' Ich: 'Worum geht's denn?' - 'Äh, ich hab ein kleines Problem.' Und dann erzählt er mir seine Geschichte. Ich sag euch ja, die korsischen Banditen wissen, was gut und was das Gegenteil davon ist. Stellt sich heraus, dass der Franzose im Adamskostüm ein Pariser war, mehr noch, er war ein reicher Pariser. Auf Urlaub. Hatte ein kleines Schäferstündchen in den korsischen Bergen gehabt. Und plötzlich waren seine Sachen weg gewesen. Schwupps-flupps. Später erschien der Kopf seiner Waldkurtisane hinter einem anderen Baum, ich lachte mich kaputt."
     "Und, hast du ihm geholfen?", fragte Fred.
     "Geholfen? Eh bon", antwortete Schorsch, "ist eine Frage der Perspektive. Ich gab ihm meine Schlappen, sagte: 'Selig sind die Barmherzigen, hier meine Schuhe' - und ließ ihn stehen."
     Und dann bummelte Schorsch ohne Verabschiedung weiter, ein Schrat in gewalkter Baumwolle, sein knotiges Grinsen in einer Seelenruhe vor sich hertragend. An seiner Hand hing wie immer das Einkaufsnetz mit den Futterdosen, Whiskas oder Kitekat. Die drei mochten ihn.

zu Teil 2