Vorgeblättert

Leseprobe zu Horacio Castellanos Moya: Der schwarze Palast. Teil 1

03.05.2010.
ERSTER TEIL
Haydee und die Flüchtlinge (1944)

Haydees Tagebuch
Freitag, 24. März


Vor einer Woche haben sie Pericles festgenommen. Ich habe geglaubt, heute würden sie ihn wieder freilassen, wie die anderen Male, als er nach einer Woche Arrest wieder zu Hause war. Aber die Lage hat sich geändert. Das hat mir Oberst Monterrosa heute Mittag in seinem Büro zu verstehen gegeben, mit bedrückter Miene, denn er ist jemand, der Pericles achtet: "Doña Haydee, es tut mir leid, aber der Befehl des Generals gilt: Don Pericles bleibt bis zu einer neuen Anweisung in Haft." Als ich erfuhr, dass man meinen Mann diesmal nicht in den Raum bei Oberst Monterrosas Büro gesperrt, sondern in eine der Zellen im Keller gebracht hatte, begann ich zu ahnen, dass den General eine andere Sorge, eine andere Angst umtrieb. Gleich am ersten Tag hatte der Oberst, der der Polizeichef ist, zu mir gesagt, dass es ihm leidtue und dass die Strenge, mit der man Pericles neuerdings behandle, einer ausdrücklichen Anweisung von oben geschuldet sei. Bei früheren Arresten durften einige Freunde, die die Genehmigung des Obersts bekamen, meinen Mann besuchen, und ich aß jeden Mittag und Abend mit ihm zusammen in diesem Zimmer das Essen, das ich mit Maria Elena zubereitet und mitgebracht hatte. Jetzt sitzt Pericles abgeschieden in dieser Zelle, und nur einmal am Tag bringen sie ihn mir in einen Raum hoch. Aber ich sollte mich nicht beklagen: Don Jorge und anderen politischen Gefangenen ergeht es noch viel schlimmer.
     Nachdem ich mit Oberst Monterrosa gesprochen hatte, bin ich nach Hause gegangen und habe meinen Schwiegervater angerufen, ich wollte wissen, ob er die Gründe kennt, warum Pericles nicht freikommt. Ich bekam zu hören, dass der General seine Gründe hat und dass Warten das Beste ist, was ich tun kann. Ich habe nicht weiter nachgebohrt. Mein Schwiegervater war immer schon einsilbig und ein treuer Anhänger des Generals, und es erbost ihn, dass Pericles in seinen Artikeln die Regierung kritisiert; jedes Mal, wenn ich von ihm wissen will, warum sie meinen Mann schon wieder festgenommen haben, antwortet er, Respektlosigkeit muss bestraft werden.
     Danach rief ich meine Eltern an, um ihnen die schlechte Nachricht mitzuteilen. Mama fragte, wie Pericles es aufgenommen habe. Ich sagte, er müsse so etwas schon erwartet haben, denn sein einziger Kommentar sei gewesen: "Wie man sieht, hat dieser Mensch große Angst." Mein Mann sagt nie General oder Präsident, auch nicht Nazihexer, wie ihn mein Vater und seine Freunde nennen, sondern immer nur "dieser Mensch". Mama fragte, ob ich nicht mit Betito zum Abendessen kommen wolle. Ich sagte zu. Betito ist der Lieblingsenkel meiner Mutter und mein jüngster Sohn.
Am Abend kamen unsere Nachbarn, die Alvarados, vorbei. Sie bedauerten, dass Pericles nicht freigelassen wurde, und dabei sind sie mit politischen Äußerungen immer sehr vorsichtig. Raul ist Arzt, aber seine wahre Leidenschaft gilt der Astronomie; er besitzt ein Teleskop, und wenn ein besonderes Phänomen am Himmel bevorsteht, worüber er immer bestens informiert ist, zum Beispiel ein Sternenregen, lädt er Pericles zur nächtlichen Beobachtung ein. Rosita, seine Frau, hat mir einen Stapel Frauenzeitschriften aus dem Circulo de Buenos Vecinos mitgebracht, das ist ein von der amerikanischen Botschaft geförderter Club, bei dem sie Mitglieder sind und dem ich auch beitreten möchte, was Pericles gar nicht gefällt.


Samstag, 25. März


Ich schreibe dieses Tagebuch, um meine Einsamkeit besser zu ertragen. Seit wir verheiratet sind, bin ich zum ersten Mal länger als eine Woche von Pericles getrennt. Als junges Mädchen habe ich Tagebuch geschrieben, ein ganzer Stapel davon liegt in meiner Truhe mit Erinnerungsstücken; es war die Zeit, in der ich ganze Tage in meinem Zimmer verbrachte und einen Roman nach dem anderen las, versunken in einer Welt der Phantasie. Dann kamen die Ehe, die Kinder, die Pflichten.
     Heute Morgen, bevor mein Vater zur Finca aufbrach, haben wir lange gesprochen. Ich fragte ihn, ob er vielleicht eine Idee habe, wie man den General unter Druck setzen könne, damit sie Pericles freilassen. In ein paar Tagen trifft sich der Verband der Kaffeeplantagenbesitzer mit Leuten von der amerikanischen Botschaft, dort will er Pericles? Fall als neuerliches Beispiel für die Verletzung der Pressefreiheit zur Sprache bringen; die Schließung des Presseclubs im Januar und die Festnahme Don Jorges, des Herausgebers des Diario Latino, für den mein Mann schreibt, sind eben keine Einzelfälle, im Gegenteil, der General geht jetzt auch gegen einzelne Autoren vor, meint Papa. Allerdings warnte er mich, dass der Nazihexer verrückt geworden ist und auf niemanden hört, "nicht mal auf deinen Schwiegervater", hat er gesagt. Papa respektiert meinen Schwiegervater, obwohl er ihn manchmal "Oberst Wüterich" nennt und seinen bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem General nicht mag.
     Am Mittag habe ich meinem Mann Bücher und Zigaretten gebracht. Beim Essen haben wir geschwiegen. Dann habe ich ihm von der Familie erzählt; er sagte, er habe den Mangel an Tageslicht und die Feuchtigkeit satt. Seine Blässe und sein Husten, der schon chronisch wird, gefallen mir nicht. Er blieb bei seiner Ansicht, dass "dieser Mensch" sich umzingelt fühlt, niemandem traut, sonst hätte er ihn nicht in diese Zelle im Keller gebracht und würde ihn nicht so lange festhalten.
     Am Nachmittag habe ich bei Clemen, meinem Ältesten, vorbeigeschaut. Er ist empört, dass Papa noch immer im Gefängnis ist. Ich habe ihm erzählt, dass sein Großvater rät abzuwarten, dass man nichts machen kann. Clemen ist ein Hitzkopf, kein übermäßig besonnener Mensch; er ließ lauter Beleidigungen gegen den General vom Stapel, sagte, das "Scheißdiktatorschwein" soll endlich einsehen, dass ihn keiner mehr will, seinen Posten räumen und abhauen. Ich riet ihm, seine Zunge zu hüten. Dann versprach er, am Sonntagmittag mit seiner Frau und den Kindern zum Essen zu kommen.
     Am späten Nachmittag kam noch Carmela, um mit mir auf der Veranda Kaffee zu trinken; sie ist seit unserer Schulzeit meine beste Freundin. Sie brachte einen köstlichen Zitronenkuchen mit. Sie bedauerte, dass Pericles immer noch nicht frei ist, und wies mich darauf hin, dass wieder einmal Gerüchte über einen Putsch umgehen.
     Vorhin, als ich mich gerade zum Schreiben hinsetzen wollte, rief meine Schwester Cecilia an. Ich erzählte ihr von Pericles, aber wir kamen gleich auf ihre Sorgen zu sprechen, denn die Ärmste hat ein noch schwereres Kreuz zu tragen als ich: Ihr Mann Armando ist mittlerweile Alkoholiker, und im Suff wird er jedes Mal aggressiv und brutal; geschlagen hat er sie noch nicht, weil er vor meinem Vater Angst hat, aber er endet jedes Mal im Bordell und stellt irgendeinen Mist an. Sie wohnen in Santa Ana, unserer Geburtsstadt, wo wir zur Schule gegangen sind, wo Pericles und ich geheiratet haben und wo das alte Landhaus steht, das Großvater hinterlassen hat und aus dem mein Vater eine gedeihende Kaffeeplantage gemacht hat.
Sonntag, 26. März
     Patricia hat mich frühmorgens aus Costa Rica angerufen. Ich musste ihr sagen, dass ihr Vater noch immer im Gefängnis sitzt. Sie blieb lange still. Sie ist das ernsthafteste meiner drei Kinder und diejenige, die Pericles am meisten ähnelt und ihm am nächsten steht. Sie fragte mich nach der Stimmung ihres Vaters. Ich antwortete, die Stimmung sei nicht das Problem, mehr der Husten. Ihr Mann ist auch stark erkältet, erzählte sie. Patricia und Mauricio haben letztes Jahr am 1. Dezember in San Jose geheiratet; wir sind zur Hochzeit hingereist. Am Ende bat sie mich, sie sofort anzurufen, wenn Pericles freikommt. Armes Kind: Zum ersten Mal muss sie einer Festnahme ihres Vaters aus der Ferne zusehen.
     Anschließend bin ich wie jeden Sonntag in die Acht-Uhr-Messe gegangen. Ich habe gebetet, dass mein Mann bald aus dem Gefängnis kommt, obwohl er von Religion und allem, was mit der Kirche zu tun hat, nichts wissen will. Er hat meine Haltung immer respektiert, genau wie ich seine. Vor der Kirche habe ich noch ein wenig mit Carmela und anderen Freundinnen geplaudert. Sie wollten mich überreden, mit in den Club zu kommen, aber ich hatte im Haushalt noch einiges zu erledigen, weil Maria Elena ins Dorf gefahren ist. Einmal im Monat fährt sie am Wochenende zu ihrer Familie, in das Haus am Fuß des Vulkans in der Nähe von Papas Finca.
Den restlichen Vormittag habe ich damit zugebracht, den Hühnchenreis und Rote-Rüben-Salat vorzubereiten. Betito ist in den Club schwimmen gegangen und kam kurz vor zwölf zurück, um mich in den Schwarzen Palast zu begleiten - so heißt bei uns die Polizeizentrale. Betito lassen sie nicht mit ins Zimmer, er muss, solange ich bei Pericles bin, im Wartezimmer sitzen. So lautet der Befehl des Generals: Nur ich habe die Erlaubnis, eine halbe Stunde am Tag meinen Mann zu sehen. Pericles war bester Laune: Ich vermute, er hat irgendeine gute Nachricht bekommen, aber er ließ nichts heraus. Mir ist wohl bewusst, dass ich bei meinen Besuchen nie über Politik sprechen darf, denn die Wände haben Ohren.
     Clemen, Mila und meine drei Enkel standen Punkt eins vor der Tür. Die Kinder sind ziemlich wild und ungezogen. Marianito ist fünf, aber ein richtiger Bengel; die Zwillinge, Alfredito und Ilse, sind knapp drei und schon auf dem besten Weg dahin. Pericles verliert mit ihnen schnell die Geduld: Er kann ihre Zerstörungswut, ihre wechselnden Launen und das ständige Gezeter nicht ausstehen. Clemen und Mila sind nicht das ideale Paar, sagt er. "Was soll bei so einem Hallodri und so einer Schlampe schon anderes rauskommen", hat er in seiner Wut einmal geflucht, als die Kinder sich über seine Bibliothek hergemacht und mehrere Bücher zerfleddert hatten; ich habe ihm so eine Ausdrucksweise verboten. Heute haben sie von der ersten bis zur letzten Minute in "Opas" Wohnung rumgetobt. Wenn Marianito still ist, ist er das niedlichste Kind der Welt und Clemen im gleichen Alter wie aus dem Gesicht geschnitten.
     Beim Nachtisch, als Mila im Hof die Kinder einsammelte, die dort mit unserem alten Hund Nero spielten, habe ich meinen Sohn gefragt, was passieren würde, wenn es zum Putsch käme, während sein Vater noch in Haft sitzt. Clemen sagte voller Überzeugung, dass das das Beste wäre, dass Pericles so am einfachsten seine Freiheit wiederbekäme. Dann fragte ich ihn, was mit seinem Großvater, Oberst Aragon, passieren würde, der dem General immer so treu gewesen ist. Er meinte, das hinge ganz von Großvaters Haltung in der Stunde des Putsches ab. So sicher wie Clemen bin ich mir nicht, dass Pericles ein Staatsstreich gelegen käme. Ich habe davor Angst; wenn so etwas passiert, möchte ich lieber bei meinem Mann sein. Ich habe von Politik nicht viel Ahnung, aber mein Sohn ist ziemlich leichtsinnig. Und der General führt dieses Land seit zwölf Jahren mit eiserner Hand.
     Am Nachmittag bin ich in den Club gegangen. Ich erfuhr, dass Betito mit seinen Schulfreunden Bier getrunken hat, heimlich natürlich, er ist doch erst fünfzehn. Als ich wieder zu Hause war, habe ich mit ihm geschimpft, ich habe ihn ermahnt, auf mich zu hören und die Abwesenheit seines Vaters nicht auszunutzen, er weiß genau, dass Pericles solche Dummheiten nicht toleriert. Pericles ist sehr streng; vor Jahren hatte er aus dem gleichen Grund eine Auseinandersetzung mit Clemen.
     Nach dem Abendessen habe ich lange mit Mama Licha telefoniert, wie meine Schwiegermutter bei uns allen heißt. Die Ärmste leidet schlimm unter Arthritis und kann kaum laufen. Sie fragt meinen Schwiegervater täglich, wann sie Pericles freilassen, bekommt vom Oberst als Antwort aber jedes Mal nur ein mürrisches Räuspern. Meine Schwiegermutter himmelt meinen Mann an, der ihr Erstgeborener ist. Dann erkundigte sie sich noch nach Patricia und klagte, dass weder Clemente noch Betito sie in den letzten beiden Wochen besucht hätten. Meine Schwiegereltern wohnen in Cojutepeque, vierzig Kilometer entfernt, und der Oberst ist dort Gouverneur.
     Später hat Mama angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie von der Finca zurück sind, wo sie mit einigen befreundeten Ehepaaren gegessen haben, unter anderem mit Mr. Malcom, dem britischen Handelsattache, und seiner Frau. Die Männer haben wahrscheinlich wie immer hitzig über den Kriegsverlauf in Europa diskutiert und sich anschließend spöttisch über den General und seine Frau geäußert; laut Papa begreifen die Engländer nicht, warum der Nazihexer noch immer an der Macht ist, warum die Amerikaner nicht endlich etwas unternehmen, um ihn abzuservieren. Am Ende wollte Mama wissen, ob es Neuigkeiten von Pericles gibt.
     Am späten Abend kamen Raul und Rosita kurz vorbei. Wir haben Radio gehört, und es gab Kakao und köstliche Vanilleplätzchen. Raul hat eine chirurgische Praxis, unterrichtet aber auch an der Universität, dort ist die Stimmung aufgeheizt, und es laufen Vorbereitungen für neue Proteste gegen den General, sagt er. Sie machen sich Sorgen, weil ihr ältester Sohn Chente, ein Medizinstudent, offenbar an den Vorbereitungen dieser Proteste beteiligt ist und sich weigert, in den Osterferien mit ans Meer zu fahren.

Teil 2