Vorgeblättert

Leseprobe zu Fadhil al-Azzawi: Der Letzte der Engel. Teil 2

07.08.2014.
Tag für Tag saß der Junge in einer Ecke der Dachkammer und wartete auf den Dschinn, der ihm niemals erschien, sodass er schon an dessen Existenz zu zweifeln begann. Irgendwann gelangte er zu der Überzeugung, dass Dschinne nur dann auftauchten, wenn niemand mit ihnen rechnete. Deshalb nahm er sich vor, nicht auf ihn zu warten, und machte sich daran, in den seit Jahrhunderten vernachlässigten Überbleibseln herumzustöbern. Zu seiner Überraschung stieß er auf eine kleine kaffeebraune Holzkiste, ein verschlossenes Kästchen, in das mysteriöse Zeichnungen und Linien eingraviert waren, die aussahen wie Zaubersprüche und geheime Schriftzeichen. Das Kästchen war staubbedeckt und von einem Spinnennetz überzogen. Er wischte es mit dem Ärmel seines Gewandes ab, lehnte sich an die Wand und starrte es gebannt an. Die in den Deckel eingravierten güldenen Inschriften waren fein und wunderschön und ähnelten den Schriften des Korans, wie er sie kannte. Im ersten Augenblick vermutete er deshalb, er habe ein Koranexemplar in einer Kiste vor sich. Er küsste sie und berührte damit seine Stirn. Doch kaum hatte er das Kistchen geöffnet, da erbebte die Erde gewaltig, und ein gleißender Lichtstrahl blitzte im Zimmer auf, worauf der Knabe vollkommen in sich zusammensackte. Plötzlich verschwand alles, und er wurde ins Leere geschleudert. Vermutlich vor Bestürzung schloss er die Augen. Er hörte die vier Winde von allen Seiten blasen, dazwischen den Wohlklang einer lieblichen Musik. Dann wurde alles still, nur die Musik war noch von Weitem zu vernehmen. Als der Knabe die Augen wieder öffnete, sah er sich in einem grünen Tal sitzen. In einiger Entfernung von ihm stand ein blinder Mann an einem Felsen, der auf seiner Flöte blies. Unten im Tal entdeckte er drei weiß gewandete alte Männer, die aussahen wie Engel, die gerade vom Himmel herabgestiegen waren. Lächelnd kamen sie auf ihn zu. Sie stützten sich auf einen Stock und hatten einen Beutel geschultert, der bei jedem Schritt hin und her pendelte.
In diesem Augenblick, als er sich gerade in diesem Tal befand, hörte er seine Mutter rufen, doch er wartete weiter auf das Eintreffen der drei Engel, bis einer von ihnen ihn ansprach: "Hallo Burhan. Endlich bist du gekommen."
Verwirrt antwortete Burhan, ins Tal starrend: "Gekommen? Wohin?" Da entgegnete der Mann, der ihn immer noch lächelnd ansah: "Geh jetzt, deine Mutter ruft dich."
"Wie kann ich gehen, wo ich doch mit euch in diesem Tal bin?", fragte Burhan Abdallah.
"Schließ die Kiste, so wie du sie geöffnet hast. Von jetzt an werden wir immer bei dir sein."
Und tatsächlich: Kaum hatte der Junge das Kästchen geschlossen, saß er wieder an die Wand gelehnt in der Dachkammer. Das Herz noch von Licht und Donner erfüllt, eilte er die Stufen hinunter.
Sein Vater trank gerade Tee. "Heute ist Mittwoch, dein Vater erhält heute seinen Wochenlohn", sagte seine Mutter. "Seine Arbeit beginnt aber erst am Nachmittag, und wir brauchen Geld. Kannst du mit ihm gehen und das Geld nach Hause bringen?" Der Knabe Burhan Abdallah war glücklich darüber, eine solche Aufgabe übertragen zu bekommen. Schon früher hatte sein Vater ihn dorthin mitgenommen, das "Geldkuvert" in seine Tasche gesteckt und ihm geraten, gut achtzugeben, damit er es nicht verliere und es ihm nicht gestohlen werde. Sein Vater war auf die Klugheit seines Sohnes und dessen Fähigkeiten, den Koran zu rezitieren, überaus stolz und hatte den Jungen bereits öfter zu seiner Arbeit in Baba Gurgur mitgenommen. Besonders die riesigen weißen Rohre, die gigantischen Tanks und die runden Scheiben mit den Zeigern, die wie Uhren aussahen, und das lodernde Feuer, der rote Himmel und der Sand hatten den Knaben schier überwältigt. In seiner Nase sollte für immer dieser einzigartige Geruch zurückbleiben, der Geruch von Öl vermischt mit dem Geruch von Erde.
Auch diesmal ging Burhan Abdallah mit seinem Vater zu jenem weit entfernten Ort, wo man das Geld in verschlossenen Kuverts erhielt, die den Namen ihrer Empfänger trugen. Er lief neben seinem Vater her, der seinen Proviant stets in einem Aluminiumbehälter bei sich trug, im oberen Einsatz den gekochten Reis, im unteren die Soße. Der Löffel wurde seitlich in den Henkel gesteckt. Nachdem der Vater ihn mit einem Lächeln verabschiedet hatte, ging er zu Fuß zurück. Er verkürzte sich den Weg allerdings ein wenig, indem er sich von hinten an ein von zwei Pferden gezogenes Fuhrwerk klammerte - bis der Kutscher ihn bemerkte und mit seiner Peitsche unvermittelt nach hinten schlug und ihn schmerzhaft an der Schulter traf. Er überquerte die Steinbrücke, die sich über den Chasa Su erstreckte, wo er gegenüber der Zitadelle, auf der trockenen Seite des Flusses, zahlreiche Männer, Frauen und Kinder neben ihren Habseligkeiten auf den Kieseln hocken sah. Sie waren von einigen Polizisten umringt. Es waren ganz eindeutig Kurden. Es hatten sich auch unzählige Menschen dort versammelt, die die Kurden von Weitem lachend anstarrten. Von Zeit zu Zeit riefen die Gefangenen laut auf Kurdisch: "Das Recht! Das Recht!", und die Menge antwortete in einem den Worten angepassten Rhythmus - gleichfalls auf Kurdisch: "Leg deine Hand auf den Hammer!"
Von den Umstehenden erfuhr der Junge, dass jene einem kurdischen Propheten anhingen, der erst kürzlich erschienen war und es für erlaubt erklärt hatte, Schwester und Mutter zu heiraten sowie die Aghas zu berauben. Scheinbar meinte dieser Prophet, dass alles Recht war: das Leben, der Tod, die Frau, die Sexualität, ja sogar die Sterne am Himmel und die Steine auf der Erde.
Anstatt in die Rufe der lachenden Menge "Leg deine Hand auf den Hammer" einzufallen, verspürte der Junge Burhan Abdallah Mitleid und Zuneigung für diese Fremden, die vielleicht wirklich recht hatten, denn wer konnte schon das Gegenteil beweisen? Gleichzeitig aber war er voller Bitterkeit. Er selbst wollte doch ein Prophet sein, und nun war ihm jemand zuvorgekommen. "Macht nichts, ich habe noch viel Zeit, bis ich groß bin", tröstete er sich. Als er hungrig wurde, wandte er sich rechts hinunter zum Ufer des Chasa Su in Richtung des Großen Suks, wo die Essensverkäufer ihre Kessel auf die Bürgersteige gestellt hatten. Er steckte seine Hand in die Tasche und holte zehn Fils heraus, die ihm sein Vater gegeben hatte, und bestellte einen Teller Weißkohl bei einem Turkmenen, von dem man sich erzählte, er habe zehn Jahre als Kriegsgefangener in Russland verbracht und dort als Bäcker gearbeitet. Er setzte sich zum Essen neben drei Lastträger, die sich auf den Tragepolstern niedergelassen hatten, die sie sich während der Arbeit auf den Rücken legten. Er hätte von dort in den Großen Suk gehen können, der ihn nach Qaisarija und dann ins Chukor-Viertel geführt hätte, doch stattdessen wandte er sich zum nahe gelegenen Viehmarkt, der gegenüber dem Fluss beim Eingang zum Dschai-Viertel lag. Er liebte es, die Esel, Pferde, Schafe und Kühe zu betrachten, die dort ihren Besitzer wechselten. Er wurde auf einen kleinen Esel in einer Ecke des Platzes aufmerksam, der inmitten des Lärms und des von allen Seiten auf ihn einströmenden Geschreis dastand. Der Junge ging auf ihn zu, legte ihm die Hand auf den Kopf und fuhr ihm durch die Mähne. "Na, du Esel, wie geht es dir?", fragte er ihn freundlich. Der Esel hob den Kopf. "Ich bin ein Esel geworden, weil ich nicht zur Schule gegangen bin", flüsterte er zur Überraschung Burhan Abdallahs gleichfalls freundlich. "Willst du auch ein Esel werden?"

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlages
(Copyright Dörlemann Verlag)

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