Vorgeblättert

Leseprobe zu Elisabeth Badinter: Der Konflikt. Teil 1

23.08.2010.
DIE STILLE REVOLUTION

In den letzten drei Jahrzehnten hat sich eine Revolution in unserem Verständnis von Mutterschaft ereignet, fast ohne dass jemand es bemerkt hätte. Keine öffentliche Debatte, kein Aufschrei hat diese Entwicklung - oder vielmehr diese Rückentwicklung - begleitet. Doch hat sie nichts Geringeres zum Ziel, als die Mutterschaft wieder ins Zentrum des weiblichen Lebens zu stellen.
     Ende der siebziger Jahre, als die Frauen zum ersten Mal über Mittel verfügten, ihre Fortpflanzung zu kontrollieren, kämpften sie für ihre grundlegenden Rechte, für ihre Freiheit und ihre Gleichheit (mit den Männern), und glaubten, dass sie diese mit dem Muttersein vereinbaren könnten. Letzteres war mit einem Mal nicht mehr das einzig Wichtige im Leben einer Frau. Eine Vielfalt an Lebensweisen tat sich den Frauen auf, die ihren Müttern noch undenkbar erschienen war. Sie konnten nun ihren persönlichen Ambitionen den Vorrang geben, unverheiratet bleiben und ein kinderloses Leben mit einem Partner genießen, oder sie konnten ihren Wunsch nach Kindern befriedigen und dabei berufstätig sein oder auch nicht. Doch aus dieser neu gewonnenen Freiheit erwuchs, wie sich zeigte, ein gewisser Widerspruch. Einerseits veränderte sie merklich den Stellenwert des Mutterseins, denn gegenüber dem Kind, für das sich die Frau entschieden hatte, hatte sie nun auch höhere Pflichten. Andererseits trat jetzt, wo die neue Freiheit den alten Vorstellungen vom Schicksal und der natürlichen Notwendigkeit ein Ende bereitet hatte, die individuelle Selbstverwirklichung an erste Stelle. Ein Kind, zwei oder mehr waren erwünscht, wenn sie das Gefühlsleben bereicherten und dem gewählten Lebensstil entsprachen. Wenn nicht, verzichtete man lieber. Der Individualismus und der Hedonismus, Kennzeichen unserer Kultur, waren zu den Hauptmotiven für die Fortpflanzung, manchmal aber auch für ihre Ablehnung geworden. Für die Mehrheit der Frauen blieb es jedoch schwierig, die ständig wachsenden Mutterpflichten und die persönliche Selbstverwirklichung miteinander zu vereinbaren.
      Vor 30 Jahren hoffte man noch, die Quadratur des Kreises könne gelingen, indem Frauen und Männer die Berufswelt und den Kosmos der Familie gerecht untereinander aufteilten. Man glaubte sogar, schon auf einem guten Weg zu sein, als die achtziger und neunziger Jahre das Ende aller Hoffnungen einläuteten. Sie waren in der Tat der Anfang einer dreifachen fundamentalen Krise, die (zumindest vorläufig) den Ambitionen der siebziger Jahre ein Ende bereitete. Auf brutale Weise schnitt die Wirtschaftskrise in Verbindung mit einer Identitätskrise den Weg zur Gleichheit ab; diese Krise der Gleichberechtigung ist abzulesen an der seit dieser Zeit unveränderten Kluft bei den Löhnen und Gehältern.
     Die Wirtschaftskrise zwang Anfang der neunziger Jahre viele Frauen zurück in den Haushalt, vor allem die schlecht ausgebildeten und die finanziell schwachen. In Frankreich bot man ihnen für drei Jahre Erziehungsgeld an, damit sie zu Hause blieben und sich um ihre kleinen Kinder kümmerten. Immerhin sei, so sagte man, Erziehung eine Arbeit wie jede andere und oft sogar noch wertvoller - abgesehen davon, dass man sie nur mit der Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns bezahlte! Die massive Arbeitslosigkeit, welche die Frauen noch stärker betraf als die Männer, führte dazu, dass die Mutterschaft wieder in den Vordergrund rückte - stellte sie doch einen bleibenden Wert dar, der mehr Halt gab als eine schlecht bezahlte Arbeit, die man von heute auf morgen verlieren konnte. Die Mutterschaft rückte umso mehr in den Vordergrund, als man zum einen schon immer die Arbeitslosigkeit eines Vaters für verheerender gehalten hatte als die einer Mutter; zum anderen entdeckten die Kinderpsychologen unablässig neue Verantwortlichkeiten gegenüber dem Kind, die allein der Mutter zufielen.
     Auf diese Weise hatte die Wirtschaftskrise auch negative Auswirkungen auf die erhoffte Veränderung der Männer. Sie verstärkte ihren Widerstand gegen die Aufgabenteilung und die Gleichheit der Geschlechter. Über die vielversprechenden Anfänge, die wir einst glaubten feststellen zu können, kam man nicht hinaus. Die Krise der Gleichberechtigung, die sich an der Kluft zwischen den Einkommen von Männern und Frauen ablesen lässt, gründet in der ungleichen Verteilung der Familien- und Hausarbeit. Wie vor 20 Jahren übernehmen Frauen noch heute drei Viertel dieser Aufgaben. Doch die Wirtschaftskrise ist nicht der einzige Grund für die anhaltende Ungleichheit. Verstärkend hinzugekommen ist eine andere Ursache, die noch schwieriger zu bekämpfen ist: eine Identitätskrise, die in der Geschichte der Menschheit wahrscheinlich ohne Beispiel ist. Noch vor kurzem waren die männliche und die weibliche Sphäre streng voneinander getrennt. Die Komplementarität der Geschlechterrollen und -funktionen gab beiden Geschlechtern das Gefühl einer je spezifischen Identität. Doch seit Männer und Frauen im öffentlichen wie im privaten Leben die gleichen Funktionen ausüben und die gleichen Rollen spielen können, stellt sich die Frage, was beide noch grundlegend voneinander unterscheidet. Wenn die Mutterschaft das Privileg der Frau ist, kann man es dann bei einer negativen Definition des Mannes bewenden lassen: als desjenigen, der keine Kinder bekommen kann?
     So stürzte der Mann in eine tiefe existentielle Krise. Noch komplizierter wurde die Situation durch die möglich gewordene Aufspaltung des Mutterseins und die daraus vielleicht resultierende Notwendigkeit, Mutterschaft neu zu definieren. Ist die Mutter diejenige, die die Eizelle spendet, diejenige, die das Kind austrägt, oder diejenige, die es aufzieht? Und wenn das letzte der Fall ist, bestehen dann überhaupt noch grundlegende Unterschiede zwischen der Vater- und der Mutterschaft?
     Angesichts all dieser Umwälzungen und Unsicherheiten ist die Versuchung groß, sich auf die gute alte Mutter Natur zu berufen und die Ambitionen der vorangehenden Generation als Verirrung anzuprangern. Die Versuchung wird noch verstärkt durch einen neuen Diskurs, der sich mit dem Nimbus der Modernität und der Moral umgibt und der den Namen Naturalismus trägt. Diese Ideologie, die einfach die Rückkehr zum traditionellen Rollenmodell predigt, ist eine Bedrohung für die Zukunft der Frauen und ihre Freiheit der Wahl. Wie einst Rousseau will der Naturalismus von heute die Frauen davon überzeugen, wieder in eine Beziehung zu ihrer Natur zu treten und sich auf die Fundamente zurückzubesinnen, die vom Mutterinstinkt getragen seien. Anders als im 18. Jahrhundert haben die Frauen heute aber drei Möglichkeiten: ihrer "natürlichen" Rolle zuzustimmen, sie abzulehnen oder zu vermitteln, je nachdem, ob sie ihrer Selbstverwirklichung oder ihrer Mutterrolle den Vorzug geben. Je rau greifender oder gar ausschließlicher letztere ist, umso eher wird sie mit anderen Ansprüchen in Konflikt geraten und umso schwieriger werden die Verhandlungen zwischen der Frau und der Mutter. Neben denjenigen Frauen, die ihre ganze Erfüllung in der Mutterschaft finden, und den immer zahlreicheren Frauen, die sich - freiwillig oder unfreiwillig - von der Mutterrolle abkehren, gibt es all jene, die empfänglich für die vorherrschende maternalistische Ideologie sind und die sich fragen, wie sie ihre Bedürfnisse als Frau und ihre Aufgaben als Mutter miteinander in Einklang bringen können. Die Illusion, die Frauen seien im Kampf vereint, ist zerbrochen, weil die Interessen von Frauen heute so weit auseinanderliegen können. Und so stellt sich auch hier erneut die Frage nach der Definition einer weiblichen Identität.
     Diese Entwicklungen sind in allen Industriestaaten zu beobachten, können jedoch je nach Geschichte und Kultur des Landes variieren. Engländerinnen und Amerikanerinnen, Skandinavierinnen, Japanerinnen, die Bewohnerinnen des deutschsprachigen Raums und der Mittelmeerländer stellen sich dieselben Fragen und geben jeweils verschiedene Antworten. Interessanterweise tanzen die Französinnen in gewisser Weise aus der Reihe. Nicht etwa, weil sie das Dilemma, das sich für andere ergibt, vollkommen ignorierten. Sondern weil sich ihr Verständnis von Mutterschaft, wie wir noch sehen werden, aus einem Frauenbild ableitet, das vor über 400 Jahren entwickelt wurde. Vielleicht haben sie heutzutage gerade dank dieses Frauenbildes die meisten Kinder in Europa. Es bleibt zu fragen, ob die immer wieder auflebende Beschwörung des Mutterinstinkts und der damit verbundenen Verhaltensweisen nicht in Wahrheit der schlimmste Feind der Mutterschaft ist.

Teil 2