Vorgeblättert

Leseprobe zu Elif Shafak: Der Bonbonpalast, Teil 3

Die Katze war kräftig, hatte langes, pechschwarzes Fell und schaute grimmig. Sie gehörte zu den Katzen, die jedes menschliche Wesen mit zugekniffenen Augen fixierten, als herrsche zwischen Katze und Mensch seit altersher ein blutiger Krieg. Andererseits war die Katze aber auch sehr niedlich,weil sie mit dem schneeweißen runden Fleck vom Näschen bis unter das Kinn aussah, als hätte jemand sie in eine Schüssel mit Yoghurt getaucht.
»Komm Kehrich! Komm her, kleiner Plagegeist!«, rief Cemal, der spürte, dass die Blaue Mätresse den Kater mochte.
»Warum nennen Sie ihn Kehrich?«, fragte sie ihn. Das Tier merkte sofort, dass es hier etwas zu holen gab,und strich ihr sanft um die Beine. Da hob ihn die Blaue Mätresse mit beiden Händen hoch und fragte mit der zuckersüßen Stimme, mit der Frauen gewöhnlich mit Babys reden: »Warum nennen dich die Leute denn Kehrich? Hm, mein Hübscher? Darf man denn so ein süßes Katerchen Kehrich nennen?«
»Vielleicht, weil er mit seinem Näschen immer im Müll herumwühlt«, gab Cemal fröhlich zurück. Da der Kater ihm half, sich mit der Blauen Mätresse anzufreunden, fand er Kehrich heute wirklich süß. »In ganz Istanbul gibt es keinen Kater, der so verwöhnt wird.Und das,obwohl er wahrhaft keine Schönheit ist.
Schauen Sie sich doch nur sein Gesicht an. Haben Sie schon einmal eine Katze mit einem so finsteren Blick gesehen? Als hätte er als Schlange auf die Welt kommen sollen und keine passende Schlangenhaut gefunden. Aber was macht das schon, denn am Ende findet er immer einen Weg, sich einzuschmeicheln. Keine Ahnung, wie er das anstellt. Zu wem er auch geht, am Ende bekommt er immer sein Häppchen. Und glauben Sie bloß nicht, dass dieser Vielfraß jemals satt würde. Er verschlingt,was er kriegen kann. Zwischendurch ruht er sich auf seinem Königreich, dem Müllberg an der Mauer,aus. Ich muss Ihnen eine Geschichte erzählen, und ich schwöre, ich würde sie nicht glauben,wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte. Wir hatten damals den Salon gerade gemietet und steckten mitten in den Vorbereitungen. Den ganzen Tag strichen wir die Wände. Als wir abends endlich fertig waren,bestellten wir uns hundemüde und hungrig wie die Wölfe etwas aus dem Hähnchenrestaurant nebenan. Sie wissen ja, wie groß deren Portionen sind, und als Beilage gibt es jede Menge Reis, Salat und Pommes Frites. Doch nun zum Punkt:Wegen eines Missverständnisses brachten sie ein Hähnchen zu viel. Wir ließen es aber nicht zurückgehen,denn unsere Augen waren größer als unsere Mägen. Am Ende haben wir natürlich nicht alles geschafft. Schon die erste Portion bekamen wir nur mit Mühe und Not herunter. Celal pickte sowieso nur wie ein Spatz daran. Und wer, glauben Sie, hat da etwas geschnuppert und steckte den Kopf zum Fenster herein? Wir hatten damals ja keine Ahnung, dass die Leute ihn ›Kehrich‹ nannten. Er kam jedenfalls still und leise angeschlichen und leckte sich die Schnauze, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.Wir hatten Mitleid und stellten ihm das überzählige Hähnchen hin. Möge Allah mich in alle Ewigkeit verdammen,wenn ich lüge, aber zuerst senkte er langsam seinen kleinen Kopf über das Hähnchen und fing dann plötzlich an, es wild schmatzend zu verspachteln, als sei ein ganzes Rudel Dobermänner hinter ihm her. Er wäre beinahe erstickt, ließ aber nicht ein Knöchelchen übrig. Er hat tatsächlich vor unseren Augen mir nichts dir nichts einen ganzen Teller voll Hähnchen verputzt. Damals wohnte in der Nummer 2 noch der »Katzenprophet«. Das war vielleicht ein Typ! Ich weiß nicht, ob es zwanzig oder dreißig Katzen waren, mit denen er in seiner Wohnung hauste. Jedenfalls stank es überall nach Katzenpisse, aber das war immer noch besser als der Müllgeruch heute. Als Sie zur Tür hereinkamen, waren wir mal wieder bei unserem Lieblingsthema. Ich hatte gerade zu Celal gesagt,wenn wir noch weiter in diesem Müll leben, werden wir bald wie die Hühner im Dreck scharren, stimmt’s Celal?« Celal nickte.
»Jedenfalls ist Herr Kehrich nach seinem riesigen Abendessen gleich wieder losgetigert, um auch noch das Katzenfutter von Nummer 2 mitzunehmen. Doch der Stamm des Katzenpropheten schien ihm eine ordentliche Abreibung verpasst zu haben, denn kurze Zeit später kam er kleinlaut zurückgetrottet, auf der Suche nach Resten. Wir haben ihm die Pommes vorgesetzt. Die haben ihm zwar nicht so recht geschmeckt, aber er machte sie trotzdem nieder. Wir ließen alles liegen und stehen und schauten dem Tier zu, schlossen sogar Wetten ab, wann es platzen würde.«
Nicht nur die Frauen vor dem Spiegel, sondern auch die junge Maniküre und sogar die Lehrlinge hörten Cemal gebannt zu,obwohl sie diese Geschichte schon hundert Mal gehört hatten. Er war vielleicht als Friseur nicht so gut wie sein älterer Bruder, aber wenn es ums Geschichtenerzählen ging, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Er hatte ein unglaubliches Geschick für Sprachen. Hätte man ihn in irgendeinem Land ausgesetzt, das er vielleicht nicht einmal auf der Landkarte gefunden hätte - er hätte in Nullkommanichts dessen Sprache gelernt, nur um mitzubekommen, was die Menschen um ihn herum sprechen und seine Kommentare dazu abzugeben. Genauso hatte er sein Türkisch in nur fünf Jahren runderneuert und auf Hochglanz poliert, nachdem es während seiner langen Zeit in Australien ziemlich eingerostet war. Das einzige Problem war der verräterische Akzent; Celal war sich allerdings nicht sicher, ob sein dreieinhalb Minuten jüngerer Bruder nur deshalb mit Akzent sprach,weil er ihn nicht mehr weg bekam oder weil er glaubte, dass seine Kundinnen ihn süß finden.
»Er fraß und fraß, und am Ende richtete er sich auf und streckte sich. Der Kater war nichts als ein riesiger Bauch,konnte kaum noch gehen und bekam nur mit Mühe eine Pfote vor die andere. Wir verfolgten ihn nach draußen und sahen, wie er auf die Gartenmauer sprang ...Was für ein Sprung! Er war so schwer geworden, dass sein Bauch an der Mauerkante hängen blieb und er beinahe wieder zurückgeplumpst wäre. Jetzt würde er sich bestimmt irgendwo hinlegen und zwei Tage lang schlafen,dachten wir. Aber nein! Wissen Sie,was er machte? Er rollte sich über die Mauer auf die andere Seite, dorthin, wo die Leute immer ihren Müll hinwerfen. Wir leben ja mitten im Müll. Er steckte den Kopf in eine Tüte, zog ein paar Fischköpfe heraus und verschlang sie genüsslich. Keine Ahnung,was er dann noch alles gefressen hat. Uns war allein vom Zuschauen so schlecht, dass wir ins Haus zurück mussten. Ich schwöre, seit jenem Tag fürchte ich mich vor diesem Kater. Ich habe schon oft von hungrigen Katzen gehört, die ihre Besitzer gefressen haben, aber Kehrich könnte uns selbst mit vollem Magen verschlingen. Danach würde er dann wahrscheinlich noch auf den Müllhaufen klettern und nach Nachtisch suchen.«
»Ich schwöre, er weiß, dass wir von ihm sprechen«,warnte die korpulente Rothaarige und strich mit den Fingern ihre Stirn glatt, damit sie vom Lachen keine Falten bekam.
»Das kann er ruhig mitbekommen. Es ist ja nicht gelogen. Der hat keinen Magen, sondern einen Mülleimer im Bauch! Deshalb heißt er ja auch Kehrich«, brummte Cemal und schwenkte seinen Fön in Richtung Kater, der ihn bereits seit einigen Minuten mit zugekniffenen Augen beobachtete.
Der Fön! Der Kater wusste aus Erfahrung,dass der heiße Atem dieses dröhnenden Monsters schlimmer war als ein Eimer Wasser. Er sprang vom Schoß der Blauen Mätresse und flitzte zum offenen Fenster. Dort hielt er eine Sekunde lang inne, schenkte den Menschen im Salon einen letzten mürrischen Blick und setzte zum Sprung in die Tiefe an, steif wie ein Plüschtier, das statt mit Schaumstoff mit Hochmut ausgestopft ist. Genau in diesem Moment landete etwas auf seinem Kopf: Ein dunkelblaues Kindersamtkleid voller kleine Meerjungfrauen, mit Rüschen und gestärktem Kragen, das wie ein trockenes Blatt langsam und majestätisch aus dem obersten Stock des Bonbonpalasts herabgeschwebt war, bis ihm kurz vor dem Garten die Katze in die Quere kam. Beide landeten zusammen im Garten.
»Hey, schaut doch mal, es regnet Klamotten!«, rief die junge Maniküre aufgeregt, die im Regal am Fenster nach dem Nagellack Nummer 113 Weinrot suchte.
Cemal, die untersetzte Rothaarige, die schielende Blonde und die Lehrlinge stürzten zum Fenster. Dann ließ sich auch die Blaue Mätresse bitten und näherte sich zusammen mit der nervösen Braunhaarigen, die humpelte,weil sie nicht mit ihren pedikürten Füßen auftreten wollte, zögernd dem Fenster. Von oben regnete es tatsächlich Kleider. Es waren Kindersachen in allen Farben und Formen. Das Spektakel hatte noch weitere Zuschauer angezogen: Auf dem Bürgersteig standen etliche Schaulustige. Alle Blicke waren nach oben gerichtet, und jeder versuchte herauszufinden, wer der Kleiderwerfer war. Aber es war nur ein nackter, schneeweißer Frauenarm zu erkennen, der in regelmäßigen Abständen aus einem Fenster des Bonbonpalastes Kleider herunterfallen ließ.
Um eines der Kleidungsstücke zu fangen, reckte sich die Maniküre so weit aus dem Fenster, als wollte sie die ersten Schneeflocken des Jahres erhaschen. Doch statt Jacke, Kleid, Strumpf, Pullover, Hemd oder Sweatshirt erwischte sie nur ein harzgelbes Haarband. »Lassen Sie den Unsinn, das macht man doch nicht!«, fuhr Tantchen Madam sie an, und ihre Stimme klang so rau wie ein Stück Schmirgelpapier auf einer unebenen Wand.
Die Maniküre brummte frustriert. Ausgerechnet jetzt,wo sie den Wahnsinn einer anderen genießen konnte, sollte sie sich zusammenreißen. Beleidigt warf sie das Band auf den Kleiderhaufen im Garten. Nach ein, zwei Minuten ließ der Kleiderregen nach. Den Abschluss bildete eine blaue Schuluniform, die sich erst wie ein schüchterner Fallschirm öffnete und dann sanft zu den anderen Kleidern hinunterschwebte. Der schneeweiße Arm verschwand, und das Fenster im obersten Stock wurde zugeschlagen. Während die Zuschauer auf der Straße sich verliefen, wandten sich auch die Leute drinnen wieder ihrer Arbeit zu.
»Junior, jetzt brauchen wir erst mal einen starken Kaffee«, stieß Cemal den pickelfreien Lehrling an.»Etwas Nervennahrung wird uns gut tun.« Mit einem Mal fühlte er sich todmüde und ließ sich erschöpft auf die große Couch sinken. »Langsam habe ich die Schnauze voll. Was ist uns nicht schon alles auf den Kopf gefallen, seit wir hier eingezogen sind. Die Verrückte lässt nichts in ihrer Wohnung an Ort und Stelle. Jedes Mal,wenn sie einen ihrer Anfälle bekommt, macht sie das Fenster auf, und, was ihr gerade in die Hände kommt, fliegt schwups hinunter. Irgendwann ist noch ihr Fernseher dran, und wehe dem, der dann unten steht.«
Einen Moment lang schien er sich tatsächlich zu ärgern,doch dann fasste er sich wieder,um keine schlechte Stimmung zu verbreiten.
»Immerhin ist sie sehr kreativ! Nie wirft sie zweimal dasselbe aus dem Fenster. Erinnerst du dich, Celal? Einmal waren die Krawatten ihres Mannes dran, und die hingen dann tagelang im Seidenbaum.«
Da er von seinem Bruder keine Antwort erwartete,wandte er sich an die Kundinnen: »Schließlich ist Celal selbst rausgegangen, auf den Baum geklettert und hat die Krawatten abgepflückt. Er hat extra nicht die Lehrlinge geschickt, damit sie die Zweige nicht abknicken. Ohne ihn würden die Krawatten dieses Tölpels heute noch im Wind flattern.«
Celal rang sich ein Grinsen ab. »Jetzt geh bitte mal einer hinaus und sammele die Klamotten ein. Bald wird es dunkel. Am Ende klaut sie noch jemand«, brummte er, um das Thema zu wechseln.
»Ach, da ist ja ihre neue Putzfrau. Die arme Frau hebt das Zeug auf, sie schämt sich sicher in Grund und Boden, dabei hat sie sie ja gar nicht hinuntergeworfen«, bemerkte die Maniküre.
»Das geht nicht lange gut. Die wird auch bald das Handtuch werfen«, kommentierte die nervöse Braunhaarige im Rauch ihrer Zigarette und beugte sich zum Spiegel, um ihre frischen Dauerwellen zu begutachten, die der pickelige Lehrling gerade aus den schmalen Wicklern rollte.
»Welche Putzfrau hält es bei Tijene schon lange aus? Irgendwann ergreifen alle die Flucht«, ergänzte Cemal.
Und die Blonde mit den Schielaugen reimte kichernd: »Hygiene-Tijene! Hygiene-Tijene! Können Sie sich das vorstellen: Seit vier Monaten hat die Frau keinen Schritt mehr vor die Tür gesetzt. Seit sie Angst hat, sich draußen eine Krankheit zu holen, kommt sie einfach nicht mehr raus. Die schnappt noch völlig über.«
»Was heißt denn ›völlig‹, meine Liebe? Jeder weiß, dass sie einen Sparren hat. Tantchen Madam kann sich sogar noch daran erinnern, wie die hier eingezogen sind, nicht wahr, Tante Madam?«, schrie die Maniküre. Wie viele ihrer Altersgenossen dachte sie, mit älteren Menschen müsse man laut reden.
Alle Köpfe wandten sich der alten Dame zu. Niemand wusste, warum sie »Tantchen Madam« genannt wurde. Bisher hatte sich auch noch niemand die Frage gestellt, ob sie keine Muslimin war. Denn mit »Madam« werden in Istanbul gewöhnlich Frauen religiöser Minderheiten angesprochen. Wenn jemand sie gefragt hätte, hätte sie wahrscheinlich geantwortet, sie sei eine ganz normale Türkin und Muslimin. Dass sie trotzdem »Madam« hieß, bedeutete nicht, dass jemand an der Religion oder Herkunft der alten Dame zweifelte. Man hatte aber das Gefühl, dass sie anders war. Es lag nicht an ihrem Alter oder ihrem Verhalten, es gab eine andere, eine verborgene Fremdheit. Deswegen war sie die »Madam«. Dabei wohnte sie schon seit vielen Jahren im Haus und war hier stärker verwurzelt als alle anderen. Sie war die einzige, die in Istanbul geboren und aufgewachsen war und ihr ganzes Leben in diesem Viertel verbracht hatte, während alle anderen als Zuwanderer mit wechselhaftem Schicksal gekommen waren. Sie dagegen war nicht »einfach so« aus dem Nichts aufgetaucht und hatte weder eine Vergangenheit hinter sich gelassen, die sie nicht loslassen wollte, noch eine Zukunft, die auf sich warten ließ. Sie war nicht hierher geschleppt worden und hatte auch keinen anderen mit hierher geschleppt. Weil sie ein Relikt aus einer Zeit war, die die anderen nicht kannten, wurde sie »Tantchen« gerufen.
Tantchen Madam lächelte gequält, senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände, die mit braunen Flecken und blauen, lila und weinroten Adern übersät waren. Die Flecken auf ihren Schläfen und Wangen waren kleiner und heller. Mit diesen Flecken sah sie so aus wie andere Frauen in ihrem Alter. Doch der orangefarbene Lippenstift auf ihren dünnen Lippen, der mehr angeklebt als aufgemalt aussah, ihre sonniggoldenen,blattförmigen Ohrringe,das Rouge auf den Wangen, das ihre konzentrisch verlaufenden Falten betonte, der fliederfarbene Lidschatten auf ihren Augenlidern, der dunkelblaugraue Glanz ihrer Pupillen und nicht zuletzt ihre platinblonden Haare zeigten, dass es hinter ihrer äußeren Erscheinung noch eine andere unbekannte Welt gab. Weil sie trotz ihres Alters so viel Farbe verwendete, wirkte sie lächerlich. Und wie alle lächerlichen Figuren hatte auch sie etwas Unheimliches an sich.
Ihr ernstes Auftreten war Gift für jeden Tratsch. Wenn sie dabei war, konnte man nicht in aller Ruhe lästern, Dinge verdrehen oder übertreiben. Allerdings war es manchmal auch umgekehrt, und sie sorgte für zusätzliches Vergnügen. So konnte die nüchterne Art von Tantchen Madam die Frauen im Friseursalon in ihre Schulzeit am Gymnasium zurückversetzen,wenn sie sich gegen eine besonders selbstgerechte Lehrerin verbündeten, ihr aber gleichzeitig Honig ums Maul schmierten, um sich beliebt zu machen. Wie gerne spießten sie ihre Prinzipien auf. Den größten Spaß hatten die Frauen aber,wenn es ihnen gelang, die alte Dame mit ins Boot zu holen. Denn was ist unterhaltsamer, als einen anständigen Menschen auf die schiefe Bahn zu lenken, und so sich und anderen zu beweisen, dass er auch nicht besser ist als man selbst.

Informationen zum Buch und zur Autorin