Vorgeblättert

Leseprobe zu Elif Shafak: Der Bonbonpalast, Teil 1

Wohnung 3:
Die Frisöre Cemal & Celal

     »Mein Gott, womit haben wir diesen Gestank verdient? Wir leben hier ja praktisch im Müll. Bald sind wir so weit, dass wir wie die Hühner im Dreck scharren.«
     Das war Cemal, und wenn Cemal etwas sagte, ertönte kurz darauf schallendes Frauengelächter, teils von Herzen, teils aus Höflichkeit. Dieses Mal passierte aber genau das Gegenteil, und im Friseursalon breitete sich tiefes Schweigen aus.
     So still wie in diesem Moment war es hier äußerst selten. Dafür musste schon eine ganze Reihe höchst unwahrscheinlicher Zufälle zusammentreffen und auch jedes Geräusch von der Straße musste auf wundersame Weise verstummen: das ohrenbetäubende Hupen der Autos, die die Informantenstraße als Schleichweg benutzten und sich dadurch stauten; das Geschrei des Wassermelonenverkäufers an der Ecke und das seines Konkurrenten, der mit einem schrottreifen, lautsprecherbewehrten Lieferwagen ständig durch das Viertel tourte und alle 20 Minuten hier vorbeifuhr; nicht zu vergessen das Lärmen der Kinder auf dem zehn Meter entfernten Spielplatz, der zwischen zwei Häuser gequetscht war und aus zwei Schaukeln, einer Wippe und einer wackeligen Rutschbahn bestand, die im Sommer so heiß wurde, dass die Kinder sich auf dem glühenden Blech den Hintern verbrannten.
     Im Inneren des Friseursalons gab es mindestens so viele Lärmquellen wie draußen. Auch hier musste ein Wunder geschehen, damit für kurze Zeit Ruhe herrschte. So musste der Fernsehapparat in der Ecke, der ständig auf einen Musikkanal eingestellt war, schweigen, was nur in den paar Minuten eines Stromausfalls vorkam, bevor der Generator ansprang - oder wenn sich eine Kundin versehentlich auf die Fernbedienung setzte. Dazu kam das laute Brausen der kleinen Föns, das eintönige Rauschen der großen Trockenhauben, die auf den Köpfen der Kundinnen thronten wie durchsichtige Turbane von Großwesiren, das Blubbern des Samowars in der Küche, das mechanische Brummen des Deckenventilators, das Rascheln der Aluminiumfolie beim Strähnchenfärben, das Plätschern des Wasserhahns beim Haarewaschen, das Genörgel einer Kundin, die das Wasser auf ihrem Kopf entweder zu heiß oder zu kalt fand, das kratzige Sirren der Nagelfeile, das Zischen von flüssigem Wachs hinten aus dem Epilierzimmer, das Rascheln von Besen und Kehrschaufel, die ständig im Einsatz waren, um Haare zusammenzukehren, das Geschnatter der Kundinnen, das manchmal etwas abflaute, aber, wenn jemand einen Kommentar abgab, sofort wieder anstieg und nie zu einem Ergebnis oder Ende kam. Alles musste zur gleichen Zeit aufhören und für eine Weile innehalten, damit es im Friseursalon tatsächlich still war. Ja, und obendrein musste auch noch Cemal seine Klappe halten.
     Aber die Welt ist ja bekanntlich voller Wunder, zumindest im Bonbonpalast. Und tatsächlich schwebten in diesem Augenblick aus heiterem Himmel dicke Wolken des Schweigens durch die weit geöffneten Fenster herein und legten sich wie Watte auf alle Geräusche. Celal seufzte glücklich auf. Er konnte den Tumult und das Gebrabbel von morgens bis abends nämlich auf den Tod nicht ausstehen. Er konnte aber auch nichts dagegen machen, denn immerhin war der Verursacher dieses Getöses, unter dem er Tag für Tag zu leiden hatte, kein anderer als sein eineiiger Zwillingsbruder. Cemal redete wie ein Wasserfall,war immer in Plauderstimmung und fand ständig ein neues Thema. Den ganzen Tag quatschte er mit seinen Kundinnen - trotz seines starken Akzents, den er immer noch nicht losgeworden war und wahrscheinlich nie loswerden würde -, hing ständig mit einem Auge am Fernseher, um über die Videoclips zu lästern, schimpfte unaufhörlich mit den Lehrlingen und belauschte mit einem Ohr jedes Gespräch im Salon, um seine Kommentare dazu abzugeben. Das alles machte er nicht etwa schön der Reihe nach, sondern gleichzeitig.
     Aber Celal war ihm nicht böse. Wie viele, lebte er in dem Glauben, dass die jüngeren Geschwister eine schwerere Kindheit hatten als man selbst, und empfand deshalb eine zärtliche Liebe für seinen dreieinhalb Minuten jüngeren Bruder. Als kleine Kinder waren die Zwillinge voneinander getrennt worden: Celal blieb bei seiner Mutter im Dorf und damit immer im Umfeld des erstickenden, aber liebevollen, engen, aber schützenden Leibes, aus dem er gekommen war. Cemal dagegen begleitete seinen Vater nach Australien,war frei, aber ungeschützt, lebte in einem grenzenlosen, aber einsamen Kosmos, sprach eine fremde Sprache und war immer halb sesshaft, halb Nomade. Nach einer Jugend, in der sie nichts voneinander gehört hatten, kreuzten sich ihre Wege erst wieder, als Cemal überraschend heimkehrte. Da die Verwandten glaubten, das Heimweh habe ihn zurückgetrieben, verziehen sie ihm auch, dass er vor Jahren nicht zum Begräbnis seiner Mutter erschienen war.
     Tatsächlich spielt die Situation eines Landes mit der Wahrnehmung seiner Bürger. So lieben die Bewohner unterentwickelter Länder alle diejenigen,die zu ihnen zurückkehren,nachdem sie jahrelang in einem modernen Land gelebt haben und dort hätten bleiben können. Als Cemal wieder in Istanbul auftauchte, wurde ihm jene spezielle Liebe zuteil, die Christen erfahren, wenn sie zum Islam konvertieren, oder Ausländer, die in die Türkei ziehen, oder Touristen, die hier jedes Jahr ihren Urlaub verbringen, ganz besonders aber Frauen aus dem Westen, die einen Türken heiraten und ihren Kindern türkische Namen geben.
     In Wirklichkeit betrachtete Cemal Australien als seine wahre Heimat, und er konnte weder die Türkei noch die Türken besonders gut leiden und schon gar nicht die türkischen Frauen! Mit ihren schmalen Schultern, breiten Hüften und einer Figur, die sich ungeniert von oben nach unten verbreiterte, sahen sie aus wie ungepflegte Birnen. Außerdem waren sie mit ihren Haaren so schrecklich konservativ und verlangten immer dieselben Farben und Frisuren. Zu ihm war noch nie eine türkische Frau gekommen, die ihre Haare so kurz haben wollte wie ein Mann. Es war paradox, wie strikt sich Frauen, die kein einziges Härchen auf ihrem Körper duldeten, gegen einen Kurzhaarschnitt wehrten. Nein, nein, Cemal war hier nicht glücklich.
     Der einzige Grund, warum er nicht sofort wieder seine Sachen packte, war der, dass sein Zwillingsbruder so fest in der Türkei verwurzelt war. Er blieb letztlich wegen seiner besseren Hälfte, wegen des Namens, der sich nur in einem Buchstaben von seinem unterschied, und wegen des tiefen Risses in seiner unschlüssigen Seele. Wenn er Celal nach Australien hätte verpflanzen können, hätte er das sofort getan. Doch ihm war klar geworden, dass Celal nicht mitkommen würde und dass, selbst wenn er das täte, er außerhalb seiner Heimat nicht überleben würde. So war Cemal keine andere Wahl geblieben, als mit den Ersparnissen der letzten Jahre nach Istanbul zu ziehen.
     Als Celal seinen Bruder in der Ankunftshalle des Auslandsterminals am Flughafen wiedersah, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, auch wenn er das nie zugeben würde. Er hatte den dickbäuchigen, lockigen Mann mit der großen Nase, der ihm mit ausgebreiteten Armen und Freudenschreien entgegeneilte, erst überrascht, dann betreten angestarrt. Seine Kleidung war mehr als eigenwillig: ein mit Kängurus bedrucktes T-Shirt, quietschgrüne Shorts und - das war das Allerschlimmste - Ledersandalen, die seine rosafarbenen, behaarten hässlichen Füße wie auf einem Präsentierteller darboten. Seine Bewegungen waren mehr als lebhaft: Er brauchte unzählige Handbewegungen für ein einziges Wort und rempelte dabei ständig andere an oder warf etwas um. Und wie geschwätzig er war: Unter Tränen schwor er tausend Eide, dass sie nie wieder getrennt werden würden, faselte von seinen großen Plänen, die aber vorne und hinten nicht zusammenpassten, und hielt zum Teufel noch mal keine Sekunde lang sein großes Maul. Seinem endlosen Gerede war zu entnehmen, dass er vorhatte, sein Geld in ein gemeinsames Projekt zu investieren. Er nahm seinen Zwillingsbruder, der die Koffer trug, in den Arm, drückte ihm klebrige Küsse auf die Wangen,wedelte wie ein ungeübter Seiltänzer mit den Armen, als suche er sein Gleichgewicht, und johlte dann in die Menge: »Hier kommen die phantastischen Zwei! Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel. Was wir schaffen, schaffen wir gemeinsam, und wenn wir untergehen, dann nur gemeinsam!« Celal fühlte sich damals schon dem Untergang nahe und schämte sich in Grund und Boden. Beunruhigt betrachtete er sein unbekanntes Spiegelbild.

Teil 2