Vorgeblättert

Leseprobe zu Betina Gonzalez: Nach allen Regeln der Kunst. Teil 2

11.03.2010.
Ein junger Typ kommt mit einer venezianischen Maske in der Hand auf uns zu. Die Hausherrin begegnet ihm mit einem kalten Blick, nennt einen Preis, er macht ein wenig bestürzt kehrt und lässt die Maske auf einem Tisch liegen. Sie fragt mich, ob wir in der Agentur wirklich mit Künstlern aus der Klassikbranche arbeiten, ich will schon verneinen, sagen, dass wir (der Plural, er stört mich wie immer, er ist wie diese Rockfältchen, die sich für einen entscheidenden Bestandteil der Garderobe halten) nur die Pressearbeit für Pavarotti übernommen hätten, als der vor ein paar Jahren da war, das sei auch schon alles, doch ich ahne, dass Tante Carmen mir zuvorgekommen ist und mit den Beziehungen ihrer Nichte geprahlt hat, um sich einen Rabatt auf das Kristall zu erschleichen. Ich nicke kaum merklich. Außerdem scheint die Frau redselig, sie lässt die Hand auf meiner Schulter ruhen, als wäre sie eine weitere Blume auf dem scheußlichen Kleid, das ich zu dem Anlass angezogen habe. Sie richtet den Blick erneut auf die Skulptur. "Ich habe ihn gekannt", sagt sie, und für einen kurzen Augenblick weiß ich nicht, ob sie meinen Vater, Pavarotti oder irgendeine andere Phantasiegestalt meint, von der ihr womöglich meine Tante erzählt hat, die auf meine verzweifelten Blicke mit keiner Miene reagiert. Von neuem inspiziert sie das sich auf dem Tisch türmende Prager Kristall. Noch fehlen die Fingerhut-, Masken-, Tanzschuh- und Fotokollektionen. Bevor sie nicht alles gesehen hat, werden wir nicht aufbrechen, das weiß ich. Die Frau wartet immer noch. Und da lächle ich; lächle trotz der Geschichte, die ich zu hören bekommen werde, trotz des Nachmittags, den ich schon vergeudet weiß, trotz Fabio Gemelli und seiner ganzen Weibsen.

Anfangs war Fabio nur ein Name auf der Liste von Gesichtern, die je nach Tag und Vorstellung auf sie warteten, wenn sie aus dem Theater kam. Er wurde ihr auf einer Party vorgestellt, zu der sie zu spät und in Begleitung erschien. Von dieser ersten Begegnung erinnert sie sich nur mehr an ein paar Sätze, die sie in einer Ecke ausgetauscht hatten: er, hektisch zwischen Getränken und Grüßen der Neuankömmlinge, sie, angespannt nach Armando Ausschau haltend, der seinerseits zu sehr mit der Schlange von jungen Mädchen beschäftigt war, die wie schüchterne Tänzerinnen ihre Choreographie der knittrigen Programme, Servietten und Buchseiten vollführten, die rasch der Autogrammrunde geopfert wurden.
Fairerweise muss man sagen, dass Fabio nicht seinen allerbesten Tag hatte. Er war schlecht angezogen, und seine Hosenbeine waren vom Gips aus dem Atelier unten weiß (garantiert hatte ihn irgendein Freund auf die Party mitgeschleppt, einer von denen, die regelmäßig mit irgendeiner unglaubwürdigen Ausrede zur Abendessenszeit bei uns aufkreuzten). Sie hatte ihn für einen der Maurer gehalten, die am Ausbau des Konsulatsaals arbeiteten, konnte jedoch unmöglich seinen ungewöhnlich geraden Rücken unter jenem Sakko mit dem breiten Revers, seine mächtige Nase und den groben slawischen Bauernmund mit ihrer Vorstellung von einem Arbeiter in Einklang bringen, der sich auf eine Empfangsparty für Armando Salvattori einschleust.
Mit ihren Hypothesen lag sie gar nicht so falsch. Mein Vater war zwar nie als Maurer tätig gewesen, hatte damals jedoch eine zwölfstündige Schicht in der Kunstdruckerei seines Schwiegervaters übernommen. Das Haar trug er da noch in ziemlich lächerlichen langen Locken - gerade kurz genug für Ausweisfotos -, und tatsächlich waren nicht sein Mund, aber seine großen schwarzen Augen - wie die von Florencia - sicheres Erbe seines ukrainischen Großvaters.
Seine Augen waren Nina an dem Abend jedoch bestimmt nicht aufgefallen. Sie hatten kaum miteinander geredet. Vielmehr war sie nervös von Tisch zu Tisch gelaufen. Ihre raschen Schritte, zornige Bühnenmetonymie, konnten kaum die Einsilbigkeit der Wortwechsel überspielen, in denen sie sich nur schwerlich an die von der Scheinheiligkeit des Milieus verlangten Formen hielt.
Müde trat sie inmitten der Ansprache des Botschafters auf die Terrasse, von der eine Parkanlage stufenförmig zum Fluss hinunterführte. Es war heiß. In der Hoffnung auf eine Brise, die den Abend etwas erträglicher machen würde, ging sie hinunter bis zu einer der Lauben. Da hörte sie etwas, ein Rascheln. Im Halbdunkel unter den Blätterranken hielt sie inne und roch das Parfum (eine wirklich jämmerliche Angewohnheit Armandos, sich mit Eau de Cologne zu überschütten). Sie schob die Blätter ein wenig beiseite und hatte schon den Fuß auf der flachen Steinstufe, als sie das Mädchen lachen hörte. Ein tierchenhaftes Auflachen. Auf Knien, das offene Haar zwischen den Beinen des Tenors hervorquellend.
Weglaufen ist eigentlich nicht ihre Art, gibt sie nun zu. Sie, die schon als Kind ganz Mäßigung und Fleiß war, seit sie beschlossen hatte, gegen den Willen der Eltern Tanzunterricht zu nehmen. Doch an dem Abend stand selbst das Spitzenkleid ihrem heftigen Herzschlag im Wege, und als sie die Treppe zur Terrasse erreichte, konnte nur ihre antrainierte Körperbeherrschung sie davor bewahren, zu stürzen. Da stand er, mit dem Champagnerglas in der Hand und mitwisserhaftem Blick, der Nina völlig fehl am Platz erschien.
"Das ist das Letzte, was wir wollen, dass Sie sich den Knöchel verstauchen", sagte er und bot ihr seinen Arm, den sie wirkungsvoll ignorierte.
Sie hatte sich von seiner Statur täuschen lassen, stellte sie fest. Er war viel jünger als angenommen.
"Wir? Wer wir?"
"Wer? Ihr Publikum selbstverständlich. Eine fußlahme Giselle würde keine besonders gute Figur machen, meinen Sie nicht?"
"Gehen Sie häufiger ins Theater?"
"Nein. Aber wenn ich die Zeitung lese, dann nur den Programmteil."
"Dachte ich mir schon."
"Warum dachten Sie sich das?"
"Sie sehen nicht gerade wie ein Musikliebhaber aus."
"Und wie sehe ich aus?"
"Wie ein aufgeblasener Maurer."
Fabio steckte den Schlag gekonnt ein. Er lächelte stoisch und fügte mit einem leichten Diener hinzu:
"Da kennen sich die Mädchen aus La Lucila ja sehr gut mit aus. Zumindest diejenigen, die Puig gelesen haben."
"Ich dachte, Sie lesen nur die Zeitung."
"Stellen Sie sich vor, hin und wieder erlaube ich mir den Luxus, einen Roman zu lesen. So ist die Unterschicht in diesem Land, sehen Sie? Rettungslos versnobt."
Das war alles, was sie an dem Abend zueinander sagten. Oder zumindest alles, was Ninas Erinnerung - stellenweise erstaunlich detailliert, dann wieder sehr unberechenbar - abzurufen vermag. Nach Luft ringend, strömten die Leute nach der Rede auf die Terrasse. Nina zwang sich, bis zum Schluss zu bleiben, als wäre das Überstehen des Abends nur eine weitere ihrer Disziplinübungen. Fabio war dagegen gleich gegangen. Sie erinnert sich noch an die Berührung seiner Hand zwischen Gläsern und Servietten. Eine hastige Verabschiedung zwischen abgedroschenen Reden über die Richtungsänderung des Theaters, die Premiere der nächsten Woche und den Sevilla-Anekdoten Armandos, der sich, auf wundersame Weise wieder aufgetaucht, den Rest des Abends an Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit selbst übertraf.

An der Stelle beginnt der Mann mit der weißen Maske auf Nina einzureden, und sie unterbricht die Erzählung, um sich in die Abgründe des Feilschens zu begeben. Als sie zum Bücherschrank zurückkommt, wirkt sie bedrückt oder leicht neben sich, so als hätte der Wein oder das Erinnern ihren Blick getrübt. Sie sagt noch das eine oder andere, etwa, dass ihr praktisch keine Zeit mehr hier bleibt, jetzt, da ihr Sohn gegangen ist (dieses "Gehen", das ein anderes Land, ein anderes Leben bedeutet) und sie sich ebenfalls dazu entschlossen hat, das Haus in Buenos Aires aufzulösen und nach Italien zurückzukehren. Ich muss eine unverhältnismäßig große kommunikative Leistung vollbringen, um sie zu ihrer Erzählung zurückzulotsen, und mir wird klar, dass der Nachmittag nicht ausreichen wird, um alles von ihr zu erfahren. Wer ist diese Frau, die ich bei der sorgfältigen Zählung der Geliebten meines Vaters nicht berücksichtigt hatte? Wie konnte sich jemand wie sie (damenhaft, kultiviert) in jemanden wie Fabio Gemelli verlieben? Wie viele wie sie waren da noch? Ich kann und will sie all diese Dinge nicht fragen. Ich bin lieber still, da ist nichts (außer meiner Tante Carmen, doch sie loszuwerden wird kein Problem sein), was mich mit Fabio Gemelli verbindet, und ein einziges Wort würde die Geschichte unwiderruflich ruinieren.
Meine Tante wartet am anderen Ende des Raums auf mich, halb erstaunt, halb belustigt über meine enorme Geduld mit der Hausherrin. Ich stelle mein Glas auf ein Tischchen und nähere mich noch einmal der Skulptur. Offenbar löst diese Bewegung etwas bei Nina aus, denn sie sieht mich an und sagt: "Du kannst nächste Woche wiederkommen, wenn du willst. Gesellschaft tut mir gut. Diese Leute hier (vage Handbewegung) ermüden mich. Sie sind wie Aasgeier, man kann nicht mit ihnen reden. Sie interessieren sich für überhaupt nichts, sie kommen nur, um zu plündern. Ich würde das nicht tun, wenn ich das Geld nicht bräuchte, doch mir bleiben nur noch drei Wochen, mehr nicht. Lieber alles verkaufen, weißt du? Ich nehme fast nichts mit, aber die hier (sie sieht die Skulptur an und lacht leise) kommt mit mir."
Ich nicke und gebe ihr einen trockenen Kuss auf die Wange, wohl wissend, dass ich unweigerlich in ihren Fängen bin. Natürlich werde ich wiederkommen, pünktlich, jeden Sonntag, bis die Möbel und all die anderen Dinge nach und nach verschwunden sein werden, verscherbelt, verramscht. Bis die Zeit abgelaufen sein wird und sie es ist, die sagt, das war?s.

Teil 3