Vorgeblättert

Leseprobe zu Axel Brüggemann: Die Zwei-Klassik-Gesellschaft

     Die Klassik ist eine zur Nischenkultur geschrumpfte Weltreligion geworden. Die breite musikalische Bildung ist – wie wir gesehen haben – aus den Schulen verschwunden, und nur wenige Menschen sind noch in der Lage, gedrechselte Kritiken wie jene von Joachim Kaiser zu verstehen, Texte, die sowohl musikwissenschaftlichen als auch literarischen Ansprüchen gerecht werden. Heute ist Kritik zu einer viel zu kostspieligen Beschreibung eines Konzertabends verkommen, die in erster Linie von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst rezipiert wird. Sogar in überregionalen Qualitätszeitungen wird das Feuilleton von nicht einmal 20 Prozent der Leserinnen und Leser wahrgenommen – geschweige denn die Konzertkritik. „Ich streiche lieber das Feuilleton als das Kreuzworträtsel“ lautet ein klassisches Chefredaktions-Bonmot. Musikkritik ist heute – wie ein Großteil der Klassik selbst – unrentabel und nicht überlebensfähig. Doch anders als Orchester oder Opernhäuser wird die Kritik nicht staatlich gefördert, sondern muss sich selbst über Wasser halten. Und das wird zu einem großen Problem.
     Während große Blätter wie Welt, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau oder Tagesspiegel vor zehn Jahren durchaus regelmäßig über Premieren in ganz Deutschland, in Oldenburg und Leipzig, in Freiburg, Köln oder Rostock berichtet haben, aber auch über überregionale Klassik-Veranstaltungen in Mailand, Wien, New York oder Sidney, wird auf derartige Kritiken inzwischen weitgehend verzichtet. Selbst in großen Feuilletonredaktionen, in denen einst mehrere Klassikredakteure fest angestellt waren, werden Oper und Konzerte oft nur noch von einem Menschen betreut.
      Und noch etwas hat sich grundlegend verändert: Das Feuilleton verzichtet immer häufiger auf die Kultur als Spiegel der Welt. Einst dienten dem Feuilleton Bücher, Bühnen und Bilder als Grundlage dafür, unsere Wirklichkeit zu debattieren. Inzwischen wird die Wirklichkeit lieber selbst zum Thema des Feuilletons erhoben. So wie die „Letzte Generation“ das Protestspektakel auf die Autobahnen oder in die Museen verlegt und Theater nicht mehr als Bühne der eigenen Inszenierung benötigt, analysiert das Feuilleton gesellschaftliche Tendenzen inzwischen ebenfalls am liebsten ohne den Umweg über die Kunst. In durchaus klugen Essays werden politische Phänomene und Ikonografien direkt in Angriff genommen: Was bedeutet die Krawattenfarbe des amerikanischen Präsidenten? Was verrät die Rhetorik der Parlamentarierinnen und Parlamentarier über den Zustand der Sprache? Wie hat Twitter unseren Blick auf die Welt verändert? Das Feuilleton beantwortet diese Fragen heute ohne den Umweg über Kunst und Kultur. Es scheint, dass sogar die gedruckten Feuilletons den Glauben an die Bühne als Ordnungsprinzip unserer Welt verlieren und statt ihrer die Zeitung lieber selbst zur Bühne gesellschaftlicher Debatten erheben. Der Diskursraum des Theaters scheint verzichtbar geworden zu sein.
      Selbst in ihrer historischen Heimat, dem Feuilleton, sind Konzerte, Theater- und Opernaufführungen in Nischen gerückt, in denen höchstens noch über die Ästhetik der Kunst in ihren eigenen engen Grenzen debattiert wird. Nicht selten werden Tempi um der Tempi willen besprochen, oder es wird pedantisch nach Fehlern gesucht – nicht weil sie etwas über unsere Welt aussagen, sondern weil die Fehlersuche zum Sinn der Kritik geschrumpft ist. Die Konsequenz: Kulturkritikerinnen und Kulturkritiker sterben auch deshalb aus, weil sie am Bedarf des Publikums vorbeischreiben. Früher haben sich Zeitungen ein weitgehend defizitäres Feuilleton geleistet, um das eigene Image der Seriosität zu behaupten, dem „klugen Kopf“ hinter der Zeitung eine Heimat im Blatt zu geben. Die Kultur in der Zeitung diente über viele Jahre hinweg als intellektuelle Behauptung eines Raumes, in dem man sich den Luxus erlaubte, die Welt aus philosophischen Höhen zu betrachten – jenseits von Profit und Tagesaktualität.
      Heute ist die mediale Wirklichkeit, dass Kritikerinnen und Kritiker ebenso gesellschaftliche Relevanz verloren haben wie ein Großteil der Theater- und Musikschaffenden. In einer Welt, in der Kultur zur Unterhaltung geschrumpft ist, haben es Egon Erwin Kisch, Alfred Kerr oder Kurt Tucholsky eben schwer. Und so bleiben auch die Kritikerskandale eher Inzestscharmützel des Kulturbetriebes und Symptome eines merkwürdigen Selbstverständnisses von Kunstschaffenden, die Kritik (so wie Uwe Eric Laufenberg) höchstens als Dienstleister ihrer eigenen Arbeit verstehen. Man kann inzwischen eine perfide Einflussnahme von Intendantinnen und Intendanten auf die Kritik beobachten, verbale Ausfälle gegenüber Kritikerinnen und Kritikern oder dass internationale Festspielleiter hinter dem Rücken der Medienschaffenden Unwahrheiten über sie verbreiten. Zuweilen werden derartige Grabenkämpfe dann selbst zur großen Inszenierung, etwa als Hannovers Ballettdirektor Marco Goecke in der Premierenpause des Balletts Glaube – Liebe – Hoffnung F.A.Z.-Kritikerin Wiebke Hüster abfing, sie beschimpfte und mit Hundekot bewarf. Hüster hatte Goecke zuvor für seine Inszenierung In the Dutch Mountains beim Nederlands Dans Theater in Den Haag kritisiert: „Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreografen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen.“ Doch letztlich sorgen selbst derartige Vorfälle höchstens noch in der Theaterszene für Aufsehen und befeuern nur kurzfristig eine oberflächige Debatte über die Freiheit von Kultur und Presse. Im Rest der Gesellschaft finden diese Diskurse dagegen nur wenig Widerhall.
      Nicht nur in den überregionalen Feuilletons wurden in den letzten Jahren massiv Redakteursstellen abgebaut. Überall in Deutschland haben sich die Produktionsstrukturen von Zeitungen verändert. In einer journalistischen Wirklichkeit, in der am Newsdesk nicht nur die Zeitung, sondern auch das Online-Angebot mit fliegenden Verantwortlichkeiten (meist nach Klickzahlen) definiert werden, wirkt das Feuilleton mit seinen Spezialistinnen und Spezialisten wie ein Anachronismus. In einem letzten, verzweifelten Akt haben einige Zeitungen das „Feuilleton“ noch in „Kultur“ umgetauft, im absurden Glauben, durch die Vermeidung komplizierter Worte Barrieren abzubauen. Doch nun werden auch in der „Kultur“ Stellen gestrichen. Egal ob beim Generalanzeiger in Bonn, der Stuttgarter Zeitung oder den Dresdner Neuesten Nachrichten. Wo einst mehrere Kulturredakteurinnen und -redakteure beschäftigt waren, Experten für bildende Kunst, Theater oder Klassik, muss heute eine Person mehrere Ressorts nebeneinander organisieren: einen Tag Verkehrsunfall, am nächsten Tag eine Opern-Aufführung. Die Zeit für Außer-Haus-Termine, etwa Besuche im Theater oder gar mehrtägige Dienstreisen, wird immer knapper, da der klassische Journalist oder Kritiker heute in erster Linie zum Blattmacher geworden ist. Er muss Artikel in Auftrag geben, sie korrigieren, Bilder organisieren und am Ende alles auf die Seite bringen. Gleichzeitig muss er die Inhalte für die Online-Präsenz aufbereiten. Feuilletonredakteure passen mit ihrer spezialisierten Ausbildung oft nicht mehr in den auf Effizienz transformierten und von Klickzahlen getriebenen Tagesjournalismus. Bei vielen Redakteurinnen und Redakteuren hat das für Frustration gesorgt und zu vorzeitigen Kündigungen geführt. Ein Großteil der lokalen Feuilletons ist inzwischen weitgehend verwaist, sie berichten, wenn überhaupt, noch über das regionale Theater. Das Ressort, das vom „Feuilleton“ zur „Kulturseite“ geschrumpft ist, verdient heute oft nur noch den Namen „Unterhaltung“ oder „Entertainment“.
      Selbst vor Urgesteinen der Kritik macht diese Entwicklung nicht halt. Der britische Musikkritiker Norman Lebrecht, einst für die BBC, die Sunday Times, den Daily Telegraph oder den Evening Standard tätig, machte sich bereits 2007 mit der Internetseite Slippedisc selbstständig, die nach eigenen Angaben mehr als eine Million Aufrufe pro Monat generiert, dafür aber neben zahlreichen Provokationen auch viele ungenaue und nicht immer journalistisch sauber recherchierte Aufreger-Schnipsel präsentiert. Norman Lebrecht steht damit für einen vielleicht streitbaren, aber durchaus erfolgreichen neuen Weg der Klassik-Berichterstattung.
      In den letzten Jahren wurden nicht nur Stellen in Redaktionen eingespart, auch zahlreiche freie Journalistinnen und Journalisten, die in der Regel nur von der Fülle ihrer Aufträge leben können, kämpfen um ihre Existenz. Selbst große Zeitungen zahlen für eine Kritik heute selten mehr als 300 Euro, Fahrt- und Reisekosten werden von den Redaktionen in der Regel nicht mehr übernommen. Und so hat der Abbau des Feuilletons auf vielen Ebenen eines der größten Probleme der Kulturberichterstattung verschärft: ihre fehlende Unabhängigkeit.
      Es ist ein journalistisches Tabuthema, dass kaum ein freier Musik- oder Theaterkritiker allein von seinen Kritiken leben kann. Unter 100 Euro zahlt eine renommierte Zeitung wie der Berliner Tagesspiegel für einen Aufmachertext im Feuilleton. Kompensiert werden die finanziellen Ausfälle bei den klammen Zeitungen oft von jenen Institutionen, über die Journalistinnen und Journalisten eigentlich möglichst unabhängig berichten sollen: Theater oder Orchester geben Programmhefttexte bei „Freien“ in Auftrag, Plattenfirmen bestellen Booklet-Texte. Mal wird ein Journalist für eine „Einführung“ gebucht, dann werden die Reisekosten vom Veranstalter übernommen, damit überhaupt jemand kommt und berichtet.
      Unter diesen Umständen verwundert es schon weniger, dass Kritikerinnen und Kritiker einigen Kulturschaffenden als „Parasiten“ vorkommen, als bemitleidenswerte „Schreiberlinge“, die allein von Gnaden der Kulturveranstalter am Leben gehalten werden. Selbst die Vergabe von Pressekarten für kritische, überregionale Journalistinnen und Journalisten ist inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Frage der Laune und Willkür einzelner Intendantinnen oder Intendanten – eine Machtdemonstration. Es kommt durchaus vor (mir ist das etwa an der Wiener Staatsoper passiert), dass kritische Autoren „bestraft“ werden, indem man ihnen mit fadenscheinigen Ausreden Kartenwünsche verweigert. Manche Theaterleitung fühlt sich auch nicht mehr daran gebunden, der Öffentlichkeit im Gegenzug für die (zum Teil sehr hohen) öffentlichen Gelder auch Rede und Antwort zu stehen – inhaltliche Anfragen werden von der Pressestelle etwa einfach ignoriert. In der freien Wirtschaft wäre das unvorstellbar! Am Ende hat es weniger mit dem öffentlichen Auftrag staatlich finanzierter Häuser zu tun, kritische Kritiker auszuladen und durch die willkürliche Vergabe von Pressekarten oder Interviews Erfolgsmeldungen zu generieren. Wenn die Kultur eine unabhängige, professionelle Kritik bekämpft, bekämpft sie damit vielmehr gleichzeitig ihren eigentlichen Sinn: die gesellschaftliche Debatte.
      Es wird eine grundsätzliche Frage der Zukunft sein, wie Kulturkritik, besonders aber Musikkritik und Musikjournalismus, ihre Unabhängigkeit wiedergewinnen können. Ein wesentlicher Punkt dabei wird die Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit sein. Dafür wäre es zunächst nötig, dass Journalistinnen und Journalisten ihre Nebenjobs transparent kommunizieren, dass Medien in ihrer Berichterstattung darauf hinweisen, ob sie Karten und/oder eine Reise ausgerechnet von jener Institution geschenkt bekommen haben, über die sie schreiben. Es ist unverständlich, dass politische Journalisten, die den Bundeskanzler ins Ausland begleiten, ihre Reisekosten anteilhaft begleichen, während ausgerechnet Kulturjournalistinnen und -journalisten, die dort zu Hause sind, wo Werte verhandelt werden, käuflich werden, ohne dass ihre Leserinnen und Leser davon erfahren. Und natürlich müssen auch die Kulturinstitutionen selbst transparent in ihrer Kommunikation werden und verstehen, dass es eine ihrer Aufgaben ist, Kritik nicht zu verhindern, sondern zu fördern und zu unterstützen.
      Derzeit haben wir es mit einer anhaltenden Entprofessionalisierung der Kritik zu tun. Hauptsächlich weil professionelle Kritik kaum noch lukrativ ist. Also entstehen andere, neue Kritikbiotope, die auch für die Kulturinstitutionen immer wichtiger werden. Abgesehen davon, dass in der Welt der sozialen Medien alle Besucherinnen und Besucher einer Kulturveranstaltung automatisch zu Kritikerinnen und Kritikern erhoben werden, gründen sich neue, semiprofessionelle Plattformen wie der Online Merker oder die Seite Klassik begeistert: leidenschaftliche Amateurkritik-Seiten, auf denen Menschen ihre Liebe und ihr Hobby mit großem Fachwissen und vor allen Dingen mit überbordenden Seh- und Hörerfahrungen debattieren. Auf diesen Plattformen geht es weniger um journalistische Standards oder gar kritische Fragen, hier streiten Opernenthusiasten miteinander, und die Kritik wird zum Nebenberuf (die Autorinnen und Autoren sind im Hauptberuf etwa Ärzte, Juristen, Lehrer oder bereits pensioniert). In diesen Foren wird kein Hehl aus dem Fan-Sein der Autorinnen und Autoren gemacht, im Gegenteil: Gerade das macht ihre Texte so direkt und leidenschaftlich. Die Seiten haben eine neue Form der Kritik erfunden, die kostenlos zugängig ist und durchaus Aufmerksamkeit generiert. Man könnte auch liebevoll von Kritiken sprechen, die von Nerds für Nerds verfasst werden. Auf diesen Seiten wird in erster Linie die Klientel der „sterbenden Generation“ bedient, Menschen, die eine alte Kulturwelt bewahren wollen und sich gegenseitig in ihrem wütenden Kampf gegen den strukturellen Wandel der Institutionen bestätigen. Foren, die aus der Schwäche der professionellen Kritik geboren wurden und sich bewusst in der Nähe von Theatern und Orchestern positionieren. Eine sehr lebendige publizistische Kulturblase und eine Community, in der das Bewahren des einst Bewährten zur Grundstimmung gehört.
      Wie groß der Frust einiger klassischer Journalistinnen und Journalisten über derartige, frei zugängliche Konkurrenz ist, zeigt sich an einem absurden Phänomen, das ich immer häufiger beobachte: Manche professionellen Kritikerinnen und Kritiker fotografieren ihre im Print gedruckten (und hinter Paywalls versteckten) Texte einfach ab und stellen sie auf ihren Facebook- oder Instagram-Profilen kostenlos zur Verfügung. So entwerten sie ihre eigene Arbeit. Eine Verzweiflungstat aus Angst, nicht wahrgenommen zu werden, an der die Krise der Kritik exemplarisch deutlich wird.
      Gleichzeitig sind Künstlerinnen und Künstler dank der sozialen Medien immer weniger abhängig von der Berichterstattung. Sie lassen ihre Fans selbst an ihrem Leben teilhaben, zeigen auf Facebook, Twitter oder Instagram Blicke hinter die Kulissen und nehmen ihre Follower mit in die Probezimmer oder auf Reisen. Dabei können Künstlerinnen und Künstler wie der Tenor Piotr Beczała (50.000 Follower) oder die Geigerin Hilary Hahn (409.000 Follower) über Auflagen von Zeitungen oder die Einschaltquoten von Klassiksendern nur schmunzeln.
      Während manche Kulturinstitutionen noch versuchen, kritischen Journalismus zu verhindern, bemerken andere bereits, dass ihnen die professionelle Kritik fehlt, dass ihre Veranstaltungen durch kontroverse, öffentliche Debatten aufgewertet werden. Der Intendant des Luzern-Festivals, Michael Haefliger, beklagt den Abbau der professionellen Kritik schon lange. „Kritik ist ein wichtiges, dialogisches Korrektiv für die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern“, sagt er, „auf der anderen Seite ist sie Beweis der Relevanz unserer Arbeit: Kunst, über die öffentlich debattiert wird, beweist ihre Bedeutung für eine Gesellschaft.“

Mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeine Buch

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