Vorgeblättert

Leseprobe zu Anne Wiazemsky: Jeune Fille. Teil 2

13.07.2009.
Meine Aufregung und Euphorie verflüchtigten sich schnell, als ich wieder zu Hause war. Nach dem kurzen Ausflug in die Welt der Magie brachten mich die Banalität meines Jungmädchenzimmers, seine Unordnung, die Hefte und Bücher auf dem Schreibtisch sehr schnell auf den Boden der Realität zurück. Ich fühlte mich wie Aschenputtel nach dem Ball und musste dem Fest Ade sagen.
Mama sah mit unendlichem Mitgefühl, wie ich Stunde um Stunde immer mehr in mich zusammenfiel. "Vor morgen erfahren wir nichts ...Aber es wird klappen ...Denk, dass es klappen wird ...", wiederholte sie, selbst immer weniger davon überzeugt.
Man hatte François Mauriac das Drehbuch des Films geschickt, und wir wussten, dass sein Eindruck von der Lektüre maßgeblich sein würde. War nicht er derjenige, der über mein Los entscheiden würde? Das beunruhigte meine Mutter mehr als das Ergebnis der Probeaufnahmen. Aus unerfindlichen Gründen glaubte sie, ihr Vater - mein Großvater - würde mir nicht erlauben, an den Dreharbeiten teilzunehmen: Konnte man einem so jungen Mädchen eine solche Freiheit einräumen? Und sie gestand mir ihre Bedrängnis: "Wenn er es dir verbieten würde, dann wäre ich feige, ich würde es nicht wagen, ihm die Stirn zu bieten ...Obwohl es um dich geht, meine Tochter, meine eigene Tochter." Sie war den Tränen nahe, und jetzt musste ich ihr zu Hilfe kommen: "Aber nein, Mama, aber nein ...Er kann es mir nicht verbieten ...Er nicht."
Denn aus ebenso geheimnisvollen Gründen war ich vom Gegenteil überzeugt: Mein Großvater würde sich wie immer als Verbündeter erweisen. Das Problem lag nicht bei ihm, das Problem waren diese verflixten, in trügerischer Euphorie gedrehten Probeaufnahmen, die mit Sicherheit katastrophal ausfallen würden. Man würde entdecken, dass ich so war, wie ich mich selbst jetzt sah: nichtssagend und hässlich.

Am späten Abend, als ich mich gerade hingelegt hatte und Mama dabei war, sich zu waschen, klingelte das Telefon. "Geh bitte ran", rief sie mir aus dem Badezimmer zu. Ich rannte die Innentreppe hinunter, mein Hund Sary mir nach.
Ohne sich zu entschuldigen, setzte Robert Bresson zu einer abgehackten, zusammenhanglosen Rede an. Weder diese Stimme noch diese Art zu sprechen kannte ich an ihm, und ich hatte den Eindruck von einem plötzlich verrückt gewordenen Mann. "Ich bin verzweifelt", wiederholte er unentwegt, "ich kann meinen Film nicht ohne Sie drehen." Immer wieder fielen die Namen meines Großvaters und meines Onkels Claude Mauriac, dem er sein Drehbuch ebenfalls geschickt hatte und der sich, so sagte er, "kühl" und "distanziert" gezeigt hatte. Dieser Mann, den ich so selbstbeherrscht erlebt hatte, war nahe daran, zu schluchzen, und schien beinahe zu ersticken. Ja, es kam noch exzentrischer. Er flehte mich an, ihm zu helfen, nur um gleich darauf hinzuzufügen: "Es ist absurd ...Sie können mir nicht helfen!"
Endlich wurde seine Rede verständlicher: Robert Bresson behauptete, dass ihn Claude Mauriac "verachte" und dass François Mauriac, von ihm beeinflusst, mir verbieten würde, in seinem Film zu spielen. "Und ohne Sie werde ich Au hasard Balthazar nicht machen!" Ich versuchte ihm zu sagen, dass er sich täuschte, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. Und als er dann endlich dieses unsinnige Telefongespräch beendete, hatte er mich überzeugt: Claude und François Mauriac, meine Mutter, kurz, meine ganze Familie, hatten sich gegen ihn verschworen, um ihn daran zu hindern, seinen Film zu machen. Ich war geschockt, vernichtet.
So vernichtet, dass ich nicht mehr an die Probeaufnahmen dachte, die wir am frühen Nachmittag gedreht hatten und deren Ergebnis er am nächsten Tag begutachten würde. Er hatte übrigens kein Wort darüber verloren.

Noch heute stelle ich mir zu seinem Verhalten an jenem Abend Fragen. War seine Verzwei?ung echt, und wenn ja, bis zu welchem Grad? Und warum zeigte er sie mir auf solch rücksichtslose Weise, ohne sich um den Gefühlsschock zu kümmern, den ich hätte erleiden können? War es eine neue Art, meine Reaktionen zu prüfen? Das Ausmaß seiner Macht über mich auszuloten? Schließlich ließ mich sein Telefonanruf viel ratloser zurück, als er selbst es war ...Gegen Ende der Dreharbeiten kam ich auf diesen Zwischenfall zurück. Sein einziger Kommentar war: "Ich fürchtete, Ihre Familie würde Ihnen nicht erlauben, meinen Film zu machen; ich war verzweifelt, es gab keinen Grund dafür, dass Sie es nicht auch sein sollten."


Mein Großvater rief mich am nächsten Tag in sein Arbeitszimmer.
Ganz nach seiner Gewohnheit lag er auf dem Sofa, das Drehbuch von Au hasard Balthazar in Reichweite. Er ließ mich neben sich auf dem Boden Platz nehmen und las auf meinem Gesicht die Spuren einer schla?osen Nacht und die widersprüchlichen Gefühle, die in mir kämpften: Wunsch, Angst, Vertrauen. Er genoss es, das Schweigen einige Sekunden lang andauern zu lassen; dann sagte er schelmisch: "So, du willst also zum Film . . ." Das Spiel war gewonnen! Später sagte er zu mir: "Dein ganzes Wesen flehte mich an ...Du warst herzzerreißend ...Wenn ich meine Entscheidung nicht schon vorher getroffen hätte, ich glaube, du hättest sie mir entrissen!"
Dann sprach er voll Bewunderung über das Drehbuch, das er verblüffend einzigartig und kühn fand. Hatte man je einen Film gesehen, der ganz auf der Geschichte eines Esels und eines Mädchens beruhte? Die Wege Balthazars und Maries kreuzten sich immer wieder bis zu seinem Tod und ihrem Verderben. Um sie herum kreisten andere Geschichten und andere Personen, die in unterschiedlichem Maße das Böse verkörperten - unter ihnen der Anführer der Schwarzjacken, der das junge Mädchen verführte und korrumpierte. Diese verschiedenen Themen schienen ihm denen sehr nahe, die Dostojewski, einer seiner Lieblingsschriftsteller, behandelt hatte. Doch er machte sich Sorgen.
"Dieses bewundernswerte Drehbuch bleibt dennoch absolut düster und pessimistisch. Stolz, Grausamkeit, Dummheit, Sinnlichkeit, Demütigung und Gewalt sind allgegenwärtig. Immer siegt das Böse! Es ist fast eine Welt ohne Gott ... Macht es dir nicht Angst, ein junges Wesen zu verkörpern, das vom Leben so schlecht behandelt wird?"
"Nein, nein."
Ich hörte ihm kaum zu, so sehr war ich damit beschäftigt, das Einzige auszukosten, das für mich zählte: die Erlaubnis erhalten zu haben, in dem Film zu spielen. Mein Großvater wechselte das Thema und bemerkte, ich dürfe auf keinen Fall den Beginn des neuen Schuljahres im September verpassen. Ich stimmte rückhaltlos zu und versprach ihm im selben Atemzug, dass ich mein Abitur bestehen würde.
"Nicht so voreilig ..."
Ich hatte meine Wange auf seine weiße knöchrige Hand gelegt, mit der anderen streichelte er mein Gesicht: "Was für eine zarte Haut meine Enkelin hat", murmelte er. Während der Krankheit meines Vaters und in den Monaten nach dessen Tod hatte er diese Geste oft gemacht. Er wollte mich trösten, mir etwas von der Liebe zurückgeben, die ich für immer verloren hatte. Dann war diese Geste verschwunden. Um am 25. Juni 1965 wiederaufzutauchen, nachdem er mir gerade die Erlaubnis erteilt hatte, ein phantastisches Abenteuer zu wagen, einen Film.
"Es ist eine schwere Verantwortung, dich diesen unbekannten Weg gehen zu lassen. Das wird Folgen haben, und ich weiß nicht, welche ... Zwangsläufig ... Wenn der Käfig erst einmal geöffnet ist, fliegt der Vogel davon ... Doch wohin? Was hätte dein Vater getan?"
Er hielt inne, um sich besser konzentrieren zu können. Sechs Etagen weiter unten stürzten die Grundschüler der Rue La Fontaine unter lautem Geschrei auf den Pausenhof. Gewohnte Geräusche, so vertraut, so beruhigend.
"Dein Vater kannte die Welt des Films nicht ...Wie ich hätte er Angst gehabt. Doch wie ich hätte er geglaubt, dass man nicht das Recht hat, dir eine so faszinierende Erfahrung vorzuenthalten. Dir diese Gelegenheit zu verweigern wäre schändlich ... Trotz all der mir unbekannten Risiken, die ich aber ahne."
"Ich werde mein Abi bestehen, ich schwöre es Ihnen!"
Ich hatte mich abrupt erhoben und hatte so diesem Moment der Intimität ein Ende gesetzt. Er blickte mich an, wie man ein etwas begriffsstutziges Kind ansieht, für das man dennoch viel Zuneigung hegt.
"Es geht nicht um dein Abi."
Und als ich nicht verstand:
"Du wirst diesen Film machen, gut. Und was dann? Das ist es, was mich beunruhigt und zugleich fasziniert ... Dieses Danach ..."
Er lachte kurz, genüsslich ...
"Weißt du, warum ich dir diese Erlaubnis gebe? Nun, du sollst es wissen: Ich wäre gern an deiner Stelle. Stell dir vor, ich beneide dich! Mir hat man nie angeboten, in einem Film mitzuspielen!"
Und er brach in ein lang anhaltendes Lachen aus, das mich sofort mitriss. Nach der schwer erträglichen Spannung der letzten Stunden besiegelte dieses gemeinsame Lachen endgültig unser Bündnis. Doch eine vergessene Furcht stieg wieder an die Oberfläche, mein Lachen brach jäh ab.
"Die Probeaufnahmen ... Er hat die Probeaufnahmen noch nicht gesehen..."
Meine Verzagtheit steigerte die Heiterkeit meines Großvaters.
"Er will dich, seine Wahl ist getroffen. Wäre es anders, hätte er doch nicht gewagt, mich zu behelligen. Er hätte mir sein Drehbuch nicht geschickt und mich nicht bekniet, es ganz schnell zu lesen! Also, die Probeaufnahmen ..."
Ich schöpfte wieder Hoffnung.
"Was ist damit?"
"Was heißt 'was ist damit?'. Was soll ich dir dazu sagen?"
Und dann in vertraulichem Ton und mit schelmisch flackerndem Blick:
"Dein Bresson scheint mir... ein seltsamer Kauz zu sein!"
Er zeigte auf die Tür, um mir das Ende unseres Gesprächs zu bedeuten:
"Vergiss das niemals. Und lies das Drehbuch etwas aufmerksamer: Diese Unglückliche, der du deine Züge leihen wirst, ist nicht Jeanne d?Arc, überhaupt nicht Jeanne d?Arc."
Wie so oft hatte mein Großvater die Dinge richtig eingeschätzt. Natürlich hatte ich das Drehbuch gelesen, doch dieser Geschichte gegenüber, der so dramatischen Dimension der Person, die ich verkörpern sollte, war ich ziemlich gleichgültig geblieben. Wenn er insistiert und mich gefragt hätte, was ich denn davon hielte, hätte ich ihm wahrscheinlich in aller Unschuld "weiß nicht" geantwortet. Meine einzige Sorge war damals, Robert Bresson zu gefallen und seinen Film zu machen.

Teil 3
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