Vorgeblättert

Leseprobe zu Angelika Klüssendorf: April. Teil 3

30.01.2014.
3

Sputnik schreibt ihr von einem jungen Mann, der bald aus dem Knast entlassen wird; er sehe gut aus und sitze politisch, ob April Interesse an einem Briefwechsel habe. Nach ihrem ersten Brief wünscht sich Sven ein Foto von ihr. Sie schickt ihm stattdessen ihren Leitspruch von Rilke: »Wer spricht von Siegen, Überstehen ist alles«. Er antwortet ihr seitenlang, doch bei manchen seiner Sätze fragt sie sich, ob es sich um eine Art Geheimsprache handelt oder ob sie einfach nicht begreift, was er schreibt.
     Vierunddreißig Tage muss Sven noch absitzen. Dann, an einem eisigen Sommertag, klingelt es an ihrer Wohnungstür. Frieder sitzt bei ihr auf dem Sofa, er hat Armeeurlaub und bemüht sich nach wie vor, April rumzukriegen. Der junge Mann, der geklingelt hat, muss sich nicht vorstellen, sie weiß gleich, wer er ist. Sven sieht sie durch eine runde Nickelbrille aus blassblauen Augen prüfend an, sein kurzes fuchsrotes Haar ist zerzaust, als sei er gerade erst aufgestanden. Sofort befällt April eine spröde Schüchternheit. Sie bedankt sich für die Weinflasche, die der ungebetene Gast mitgebracht hat, versucht, Frieder und Sven einander vorzustellen, doch sie bringt kein Wort heraus. Sven geht durch ihr Zimmer, als würde es ihm gehören, er nimmt ein Buch aus der Vitrine und beginnt darin zu lesen. April möchte am liebsten im Boden versinken, sie sieht zu Frieder, der bewegungslos dasitzt und raucht. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, also sagt sie nichts. Sven trägt ein Holzfällerhemd und Jesuslatschen ohne Strümpfe, und sie fragt sich, warum er beim Lesen seinen Kiefer bewegt. Er setzt sich an den Tisch, stopft wortlos seine Pfeife, und als sie sich endlich entschließt, die beiden zu fragen, ob sie Hunger haben, wendet Sven sich an Frieder und sagt: Erzähl mir von ihr.
     Was für ein Satz, denkt sie, völlig meschugge, und doch ist sie froh, dass überhaupt gesprochen wird. Frieder stottert verlegen herum, es dauert noch eine Weile, bis er begreift, dass er besser gehen sollte. Und obwohl April genau das will, ist sie enttäuscht, dass Frieder so schnell aufgibt.

Sie schafft es, den jungen Mann eine Woche lang hinzuhalten. Nächtelang kämpft sie mit ihm, und es erregt sie. April mag es, um sich zu schlagen, zu kratzen, zu beißen, bis ihre Körper ermattet nebeneinanderliegen, inzwischen vertraut genug, um sich für die nächste Schlacht zu rüsten.
     Der eigentliche Akt enttäuscht sie, das soll's gewesen sein, denkt sie, wozu so ein großes Trara, am liebsten hätte sie es rückgängig gemacht, sich ergeben zu haben; denn so sieht sie es: Sie hat sich im Kampf ergeben.
     Sie zeigt ihm ihre Gedichte, und das ist der Auftakt zu einer Reihe von nächtlichen Lesungen. Sven hat im Gefängnis Hunderte von Seiten geschrieben, Erzählungen, Gedichte, er liest jedes Wort mit der richtigen Betonung, und sie kommt nicht dazu, ihre Texte vorzutragen. Obwohl sie versucht, genau hinzuhören, gibt sie es nach einer Weile auf, seinen schwer verständlichen Sätzen zu folgen. Während sie Aufmerksamkeit vortäuscht, träumt sie, und wenn sie einmal etwas sagt, nickt er ernst, bewegt seinen Kiefer, kaut bedeutungsvoll auf der Unterlippe. Von Nacht zu Nacht wird es ihr enger neben ihm auf dem Sofa, sie reagiert gereizt auf seine Berührungen und fragt sich, wo das große Gefühl bleibt. Wenn sie sich selbst befriedigt, hat sie einen Orgasmus, doch mit Sven passiert nichts. Sie wirft ihm vor, nicht zu wissen, worauf es beim Sex ankommt. Er gibt ihr zu verstehen, dass er sehr wohl in der Lage sei, eine Frau zu befriedigen. Seine Gesichtsmuskeln verhärten sich, wenn er ihr zu erklären versucht, warum er mit ihr gewisse Dinge nicht machen kann: Sie sei zu rein, zu besonders. Welche Dinge, will sie wissen und ist wütend, auch auf sich selbst, weil sie sich nicht vorstellen kann, wovon er spricht. Sie will kein besonderer Mensch sein, und Reinheit, meine Güte, wenn sie das schon hört.
     Sven ist dreiundzwanzig, doch er kommt ihr älter vor, er will, dass sie zu klauen aufhört, er spricht davon, dass sie Abitur machen soll. Das erscheint ihr merkwürdig, nicht zuletzt, weil er selbst nichts macht. Während sie arbeiten geht, bleibt er in ihrer Wohnung, sie leben von ihrem Geld.

Es gibt einen Freund, den ihr Sven ehrfürchtig vorstellt.
     Das ist der Meister, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen.
     Sie zweifelt keine Sekunde lang, dass er es ernst meint, und begrüßt das dünne, bärtige Männlein, auf dessen Stirn kleine Schweißperlen stehen. Sein Händedruck ist überraschend fest, doch seine Stimme klingt brüchig. Ich habe Kopfschmerzen, sagt er, kannst du mir Tabletten besorgen?
     Der Meister hat ein Gedichtbändchen veröffentlicht, auch er saß im Knast, politisch, versteht sich. Er wohnt in einer kleinen Wohnung im Stadtzentrum. Als sie das erste Mal den Flur betritt, nimmt ihr ein unsäglicher Gestank den Atem. Die Toilette funktioniere nicht, erklärt ihr der Meister, sobald er die Spülung betätige, quelle die Scheiße aus dem Waschbecken hervor, und deshalb müsse er nach dem Spülen zum Waschbecken rennen und die Scheiße in die Badewanne bugsieren. In ihrem Freundeskreis besitzt niemand eine Badewanne, doch der wahre Luxus ist für sie, dass diese Wanne randvoll mit Scheiße gefüllt ist.
     Sven versucht einen Klempner zu organisieren, ohne Erfolg. Er bewundert den Meister, hängt an seinen Lippen, und als dieser ihm vorschlägt, sein Sekretär zu werden, willigt er sofort ein. Die Aufgaben des Sekretärs bestehen darin, den Meister in die Kneipe zu begleiten, ihm nachts Zigaretten und Schnaps zu besorgen, ihm vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung zu stehen. April stört sich nicht daran, zumal der Meister im »Thüringer Hof« immer einen Tisch bekommt.
     Trotz der langen Nächte bemüht sie sich, pünktlich im Büro zu sein. Herr Blümel nimmt seine Patenschaft ernst, er fragt nach ihren Freunden, und wie sie ihre Freizeit verbringt. Sie erfindet passende Geschichten, die er sich wachsam anhört - einmal zuckt seine Kopfhaut, als sie ihm eine Geschichte zum zweiten Mal erzählt. Sie will Herrn Blümel nicht enttäuschen; sie ist ihm dankbar, weil er sich für sie eingesetzt hat, dank seiner Aussage wurde ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
     Ihr fällt auf, dass Sven und der Meister bedeutsame Blicke wechseln, zärtliche Gesten, die sie ausschließen. Sie beginnt zu begreifen, dass zwischen den Männern noch etwas anderes läuft. Es ist ihr egal, ob sie linksherum sind, ein Verhältnis haben, sich begehren; lethargisch, fast schläfrig beobachtet sie die beiden, ihr Herz kommt dabei nicht aus dem Takt.
     Als der Meister ihr einmal die Narbe an seinem Bein zeigt und stolz erklärt, dass sich hinter dem grob genähten Schnitt noch immer eine Schraube befinde, die er längst hätte entfernen lassen müssen, fällt es ihr schwer zu verstehen, warum er so viel Aufhebens darum macht.
     Ist doch nur eine Schraube, sagt sie, und kein Schrapnell aus dem Krieg.
     Der Meister zieht seine rechte buschige Augenbraue hoch, kaut genauso bedeutungsvoll wie Sven auf seiner Unterlippe. Die Ticks der beiden gehen ihr auf die Nerven.
     Längst hat sie sich eingestanden, Sven nicht zu lieben. Doch sie bleibt, weil ihr davor graut, ihre Tütensuppe allein zu essen und Fräulein Jungnickels Gekeife ertragen zu müssen. Die Alte verhält sich seit dem Einbruch noch aufgebrachter, ihre Klagen nehmen kein Ende, einmal behauptet sie sogar, ihrem Wellensittich würden vom Zigarettenrauch die Federn ausfallen. April spürt auch jetzt kein Mitleid mit der alten Frau, im Gegenteil, ihre Macken scheinen die Straftat im Nachhinein sogar zu rechtfertigen.
     Sie zieht gern mit den beiden Männern durch die Kneipen, es erfüllt sie mit Genugtuung, nicht mehr wie die anderen hinter der Absperrung warten zu müssen; selbst die Kellner wirken freundlich, soweit das überhaupt möglich ist.
     Der Meister erzählt auch Sven von der Schraube in seinem Bein, und für einen Augenblick bezweifelt sie, dass die beiden wirklich was miteinander haben, denn Sven schaut ganz erstaunt, geizt nicht mit anerkennenden Worten, für ihn ist die Schraube im Fleisch ein schöpferischer Akt und die Weigerung, sie entfernen zu lassen, ein politischer Geniestreich. April sagt überhaupt nichts mehr dazu, aber sie ist sicher, dass der Meister die Schraube nur aus Bequemlichkeit nicht entfernen lässt - soll er doch an diesem Ding verrosten.
     Die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühle erstaunt sie selbst, es ist ihr schnuppe, ob die beiden miteinander schlafen, doch der Gedanke, in diesem Bündnis das dritte Rad am Wagen zu sein, erfüllt sie mit Unbehagen.
     Bist du ein Homo, fragt sie den Meister, und während der sich über ihre Frage halb schlapp lacht, beißt sich Sven die Unterlippe blutig. Natürlich steh ich auf Jungs, sagt der Meister, hast du damit ein Problem? Er sieht sie an, als sei mit dieser Frage alles restlos geklärt. April spürt, wie sie unter seinen Blicken zu schrumpfen beginnt. Ist mir doch egal, sagt sie und strengt sich an, es auch so aussehen zu lassen.
     Ich will dich nicht verlieren, sagt Sven später zu ihr, und sie ist zu feige, ihm zu antworten, dass er sie schon verloren hat.
     Vom Dachboden im Haus des Meisters hat sie einen weiten Blick über die Stadt, sie kann das Unigebäude sehen, das wie ein glänzender Zahn in den Himmel ragt, in der Ferne das kompakte Grau der Bahnhofsanlage. Sie nimmt einen Schluck aus der Weinflasche, zieht an ihrer Zigarette, bläst den Rauch in das wässrige Dämmerlicht. Hier findet sie Zuflucht. Sven begegnet ihr inzwischen mit einer ähnlichen Ergebenheit wie dem Meister. Er küsst ihr die Füße, wirft mit Komplimenten um sich; einmal ist er mit einer silbernen Armbanduhr angekommen, sie hat keine Ahnung, woher. Sie ist gereizt, nennt ihn einen Wurm, doch das scheint ihn nur anzufeuern.
     Die beiden Männer sind in die Kneipe gegangen, ohne sie, wie so oft in letzter Zeit. Von der Straße dringt Geschrei zu ihr hoch, Wolken hängen schwer über den Dächern, Wind wirbelt Blätter und Dreck durch den Schwefeldunst, der von den Chemiewerken kommt, dann setzt Regen ein, es wird kalt von einer Sekunde zur nächsten. Sie hat keine Lust, die Wohnung des Meisters zu betreten, und noch weniger Lust, nach Hause zu gehen. Sie trinkt die Flasche zur Hälfte aus, geht die Treppen herunter und öffnet die Wohnungstür. Der überwältigende Geruch nach Scheiße ekelt sie jedes Mal aufs Neue an. Erst in der Küche kann sie wieder ausatmen, obwohl der Gestank sich auch dort eingenistet hat. Sie spürt Unruhe in sich aufsteigen, steht da, als würde sie einen Feind wittern. Von klein auf kennt sie diesen Zustand der Bedrohungserwartung. Und sie weiß nie, wie sie da rauskommen soll. Als müsste sie den Orkan aushalten, bis er vorübergezogen ist. Ihre Hand ist keine Hand, nur die Verlängerung des Arms, sie leert die Weinflasche mit schnellen Schlucken, trinkt gegen die Panik in ihren Gliedern an. Endlich beginnt das beruhigende Kreisen im Kopf, sie ist betrunken und legt sich auf die Matratze; hier schläft sie sonst mit Sven. Nachts geht er ins Nebenzimmer zum Meister, und obwohl es sie sonst kaltlässt, gesellt sich zu dem Kreisen in ihrem Kopf der Gedanke an Verrat. Verrat! Sie kann es nicht fassen, ihre Empörung wächst, sie steigert sich so sehr hinein, dass sie aufsteht und ein Messer aus der Küche holt: Sie wird sich zu wehren wissen.

                                                                       *

Auszug mit freundlicher Genehmigung von Kiepenheuer & Witsch
(Copyright Verlag Kiepenheuer & Witsch)

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