Vorgeblättert

Leseprobe zu Amitav Ghosh: Der rauchblaue Fluss. Teil 3

12.11.2012.
Doch Bahram war natürlich nicht der einzige ­Handelsherr, der dieses Büro benutzte. In den Jahren, in denen er beschlos­sen hatte, während der Handelssaison in Bombay zu bleiben, wurde es anderweitig vermietet. Mehrere der früheren Bewohner hatten Spuren hinterlassen, denn manch ein Kaufmann hatte am Ende einer Saison mehr Besitztümer angesammelt, als er bequem nach Hause mitnehmen konnte. Die einfachste Lösung war dann, die Sachen zurückzulassen. Auf diese Weise hatten sich im daftar die unterschiedlichsten Objekte angehäuft: hüfthohe Figuren mit nickenden Köpfen, holzgeschnitzte Pagoden, Lackspiegel, eine silberne Vase, die in Wirklichkeit eine Muskatnussreibe war, und eine Glasschale mit einem unermüdlich im Kreis schwimmenden, glotzäugigen Goldfisch darin. Vieles davon gehörte Bahram, einschließlich eines rätselhaften Steinbrockens, der verstaubt in einer Ecke lag, groß, grau und mit so vielen Löchern übersät, dass er aussah, als sei er von Maden ausgehöhlt worden.
"Wissen Sie, wer mir dieses Ding geschenkt hat?", fragte Bahram Nil eines Morgens und zeigte auf den Stein. "Das war Chunqua, mein alter Komprador. Eines schönen Tages kam er her und sagte, er habe mir zur Begrüßung ein ­Geschenk mitgebracht. Ich sagte, soll mir recht sein, warum nicht? Und dann haben sechs Kerle den Stein angeschleppt. Das muss ein Scherz sein, dachte ich: Der Mann hat da drinnen einen Edelstein oder so etwas versteckt - er wird ihn jeden Moment rausholen und ihn mir als große Überraschung präsentieren. Aber nein! Er erzählt mir, sein Ururgroßvater habe ihn aus dem Tai Hu geholt, der für seine Steine berühmt ist. (Können Sie sich das vorstellen: Diese Chinesen haben auch für Steine berühmte Orte - so wie wir für ladu und mithai.) Aber nachdem der Stein in sein Haus gebracht worden war, befand der Ahne, dass das verdammte Ding noch nicht fertig sei. Sehen Sie, wie die denken? Gott hat diesen Stein vor Ewigkeiten geschaffen, aber das hat ihnen nicht gereicht. Was haben sie also getan? Sie haben ihn unter den Dachvorsprung ihres Hauses gestellt, sodass das Regenwasser auf ihn herabprasseln und Muster erzeugen konnte. Die Leute haben zu viel Zeit, hah? Nicht wie Sie und ich: Keiner macht jaldi-jaldi und chull-chull. Neunzig Jahre liegt der verdammte Stein unter dem Dach, dann kommt Chunqua zu dem Schluss, dass er endlich fertig ist, und bringt ihn mir als Begrüßungsgeschenk. Arré-baba, dachte ich bei mir, was soll ich mit diesem riesigen Steinbrocken anfangen? Aber ich kann das Geschenk unmöglich zurückweisen, denn dann wäre er gekränkt. Und ich kann es auch nicht mit nach Hause nehmen, sonst macht mir bibiji die Hölle heiß. 'Was?', wird sie sagen. 'Hast du in China nichts Besseres gefunden, dass du mir Stock und Stein mitbringst? Was für Unsinn lernst du dort eigentlich?' Also was blieb mir anderes übrig? Ich musste ihn hierlassen."
Der Stein war nicht der einzige Gegenstand in dem Büro, der eine besondere Bedeutung für den Seth hatte: Sein Sekre­tär gehörte auch dazu. Er war unbestreitbar ein besonders schönes Möbelstück aus rötlichem Padoukholz mit glänzenden Pakfong-Beschlägen. Öffnete man die Türen, kam eine Doppelreihe bogenförmiger Ablagefächer zum Vorschein, voneinander getrennt durch Säulen, die vergoldeten Buchrücken glichen. Unter der Schreibplatte befanden sich neun robuste Schubladen mit Messinggriff und Schlüsselloch.
Die Schlüssel zu dem Sekretär hatte Bahram selbst in Verwahrung, bis auf den größten, mit dem man die Türen aufschließen konnte - von diesem hatte auch Nil ein Exemplar, denn es oblag ihm, morgens den Sekretär aufzuschließen und ihn mit Bahrams bevorzugten Schreibutensilien zu bestücken. Die Gänsekiele, für die der Seth eine unverhohlene Vorliebe hegte, waren nicht schwer zu beschaffen, Tinte dagegen schon, denn Bahram gab sich nicht mit gewöhnlicher Qualität zufrieden. Während seiner Aufenthalte in Kanton bestand er darauf, stets einen fein geschliffenen, kunstvoll verzierten Reibstein, zwei erstklassige Tuschestangen und einen kleinen Topf mit speziellem "Quellwasser" auf der Schreibplatte zu haben, um im Bedarfsfall seine eigene Tusche anreiben zu können, in der geduldigen, meditativen Art eines chinesischen Gelehrten. Angesichts von Bahrams unruhigem Wesen war das ein recht überheblicher Anspruch, aber nichtsdestotrotz - die Gerätschaften zum Anreiben der Tusche mussten wie die Federkiele jeden Tag genau an derselben Stelle liegen, in der linken oberen Ecke der Schreibplatte. Ironischerweise wurden weder der Sekretär noch die Schreibutensilien oft in Gebrauch genommen, denn Bahram setzte sich in seinem daftar nur selten hin; zumeist ging er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, auf und ab, und selbst wenn er ein Dokument unterzeichnen musste, tat er es normalerweise im Stehen am Fenster, mit einem von Nils abgenutzten Federkielen.
Nur beim Frühstück machte Bahram ausgiebigen Gebrauch von einem Stuhl. Diese Mahlzeit wurde regelrecht zelebriert, nach einem durch viele Jahre hindurch vervollkommneten System. Verantwortlich war Mesto, der Koch, und angerichtet wurde nicht in Bahrams privatem Speisezimmer, sondern auf einem Marmortisch in einer Ecke des daftars. Kurz bevor der Seth das Büro betrat, breitete Mesto eine seidene Decke über den Tisch. Wenn Bahram Platz genommen hatte, stellte Mesto ein Gedeck aus kleinen Tellern und Schalen vor ihn hin, und diese enthielten beispielsweise etwas akuri - Rühreier mit Korianderblättern, grünen Chilischoten und Frühlingszwiebeln -, einige shu-mai-Klößchen, gefüllt mit Hühnerhackfleisch und Pilzen, dazu vielleicht auch zwei Scheiben Toast und einige Satay-Spieße und eventuell eine kleine Portion mit geklärter Butter abgeschmeckten Madras-Congee und eine kleine Schüssel kheemo kaleji - fein gehacktes Hammelfleisch mit Leber. Und so weiter.
Den Abschluss von Bahrams Frühstück bildete stets ein Getränk, das Mesto als seine eigene Erfindung ausgab. Es wurde mit Teeblättern zubereitet, hatte aber keine Ähnlich­keit mit dem chàh, der üblicherweise in Kanton serviert wurde; chinesische Besucher im Achha Hong fanden seinen Geruch derart abscheulich, dass zwei von ihnen sich sogar einmal übergeben hatten. ("Sehen Sie sich das an", hatte Vico abfällig gesagt, "die essen ohne mit der Wimper zu zucken Schlangen und Skorpione, aber Milch kriegen sie nicht runter.")
Mesto bereitete das Getränk zwar zu, doch die Zutaten musste Vico besorgen - und das war keine Kleinigkeit, denn der wichtigste Bestandteil war Milch, und die war in Kanton schwerer zu bekommen als Myrrhe oder Kirschpflaumen. Die wichtigste Bezugsquelle der Ausländerenklave waren ein paar Kühe, die dem dänischen Hong gehörten; da ­viele der europäischen Kaufleute auch nicht auf Sahne, Butter und Käse verzichten wollten, war die gesamte Produktion der dänischen Kühe verkauft, sobald sie in den Melkeimern schäumte. Doch der unermüdliche Vico hatte einen anderen Lieferanten ausfindig gemacht: Am jenseitigen Flussufer, direkt gegenüber der Ausländerenklave, auf der Insel Honam, lag ein riesiges buddhistisches Kloster, in dem auch ein ansehnliches Kontingent tibetanischer Mönche lebte. Da sie Buttertee und andere Speisen, für die man Milch brauchte, gewohnt waren, hielten die Tibeter sich als Ersatz für Yaks eine kleine Büffelherde. Diese Tiere lieferten die Milch für Mestos Getränk. Er kochte sie mit Boheablättern und einer Prise Nelken, Zimt und Sternanis; abgerundet wurde die Komposition mit einigen Handvoll chini, dem raffinierten chinesischen Zucker, der seit einiger Zeit in Bombay so beliebt war. Das fertige Gebräu hieß "chai" oder "chai-garam" (wobei letzterer Name sich auf die verwendete Gewürzmischung garam masala bezog). Bahram kam ohne dieses Getränk nicht aus, und man brachte ihm den ganzen Tag über in regelmäßigen Abständen einen großen Becher davon.
Chai war nicht nur für Bahram, sondern den ganzen ­Achha Hong das liebste Getränk, und jedermann in Bahrams Umgebung horchte auf die Straßenhändler, die regelmäßig vorbeikamen und "chai-garam, chai-garam" riefen. Besonders sehnlich erwartet wurde der vormittägliche Becher chai, der für gewöhnlich mit einem Imbiss serviert wurde. Dabei handelte es sich meist um eine uigurische Spezialität mit dem Namen Samsa - kleine, dreieckige Teigtaschen, meist mit Hackfleisch gefüllt und in einem tragbaren tandur gebacken, die auf dem Maidan warm verkauft wurden. Da sie die Vorform eines beliebten indischen Gebäcks waren, wurden sie im Achha Hong mit Genuss verzehrt und mit ihrem vertrauten hindustanischen Namen samosa bezeichnet.
Wie jedermann im Achha Hong freute sich auch Nil schon bald auf seine vormittäglichen samosas und seinen chai-garam. Doch für ihn war der Klang dieser fremdartigen Wörter genauso köstlich wie das, was sie bezeichneten. Von den Menschen in Bahrams Umgebung lernte er ständig neue Wörter. Manche, wie "chai", stammten aus dem Kantonesischen, während andere von Vico aus dem Portugiesischen beigesteuert wurden - beispielsweise "falto", das so viel wie "falsch" oder "betrügerisch" bedeutete und sich auf Achha-Zungen in "phaltu" verwandelte.
Noch während er sich einlebte, wurde Nil klar, dass Fungtai Hong Nr. 1 eine Welt für sich war, mit ihren eigenen Speisen und Wörtern, Ritualen und Routinen: Es war, als seien die Bewohner die ersten Siedler in einem neuen Land, einem noch nicht existierenden Achha-stan. Und mehr noch: Sie alle, vom kleinsten Putzmann bis zum penibelsten Geldprüfer, waren in gewisser Weise stolz auf ihr Haus, ähnlich wie die Mitglieder einer Familie. Das verwunderte Nil zunächst, denn auf den ersten Blick mutete der Gedanke, die Achhas könnten so etwas wie eine Familie sein, nicht nur seltsam, sondern geradezu absurd an. Sie waren eine kunterbunte Ansammlung von Männern aus allen möglichen Teilen des indischen Subkontinents und sprachen mindestens ein Dutzend verschiedene Sprachen. Manche kamen aus Gebieten unter britischer oder portugiesischer Herrschaft, andere aus Staaten, die von Nawabs oder Nizams, Rajas oder Rawals regiert wurden; unter ihnen gab es Moslems, Christen, Hindus, Parsen und auch einige, die zu Hause von der Gesellschaft ausgeschlossen gewesen wären. Hätten sie nicht den Subkontinent verlassen, hätten sich ihre Wege niemals gekreuzt, und nur wenige von ihnen hätten jemals miteinander gesprochen oder gar miteinander gegessen. Zu Hause wäre es ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass sie viel gemeinsam haben könnten - doch hier war es ihnen, ob sie wollten oder nicht, unmöglich, sich diesen Gemeinsamkeiten zu entziehen; jedes Mal, wenn sie aus der Haustür traten, wurden sie auf dem Maidan mit Worten begrüßt, die ihnen geradezu aufgedrängt wurden: "Achha! Achha?"
Es hätte keinen Zweck gehabt, sich dagegen zu verwahren, mit so vielen in einen Topf geworfen zu werden: Den Straßenjungen war es egal, ob man ein Moslem aus Belutschistan, ein Katholik aus Goa oder ein Parse aus Bombay war. Lag es möglicherweise am Aussehen? An den Kleidern? Oder am Klang der Sprachen (doch wie das, da sie doch so verschieden sind)? Oder war es womöglich nur ein Geruch nach Gewürzen, der an allen haftete? Wie auch immer, irgendwann fand man sich damit ab, dass es etwas gab, was einen mit den anderen Achhas verband: Das war einfach eine unausweichliche Tatsache, und der konnte man sich so wenig entziehen, wie man seine Haut abwerfen und sich eine neue überstreifen konnte. Und es war seltsam: Hatte man das einmal akzeptiert, wurde sie Wirklichkeit, diese rätselhafte Gemeinsamkeit, die eigentlich nur in den Augen der Straßenjungen des Maidan existierte, und man erkannte, dass jeder einen Anteil daran hatte, wie alle zusammen wahrgenommen und behandelt wurden. Und je länger man unter diesem Dach wohnte, mit dem Maidan vor der Tür, desto stärker wurden die Bindungen - denn das Paradoxe war, dass diese Bindungen nicht durch ein Übermaß an Eigennutz oder Selbstachtung zustande kamen, sondern aus einem Gefühl geteilter Scham. Und zwar, weil jeder wusste, dass fast das gesamte Opium, das nach Kanton gelangte, von den heimatlichen Gestaden aus verschifft wurde; und es wusste ebenfalls jeder, dass er selbst zwar nur einen winzigen Anteil an dem Reichtum ­hatte, der aus dem Opium erwuchs, dass ihm sein Gestank aber stärker anhaftete als jedem anderen Ausländer.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Karl Blessing Verlages
(Copyright Karl Blessing Verlag)


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