Vorgeblättert

Leseprobe zu Alina Bronsky: Scherbenpark, Teil 2

Ich habe wieder angefangen zu joggen. Am liebsten abends, wenn es dunkler und kühler wird. Ich laufe an dem Supermarkt vorbei, an einer tristen Eckkneipe, unter den Platanen durch, einmal um die Hauptschule, durch die Unterführung, meist rauscht dann ein Zug über meinem Kopf vorbei.
     Hier ist es selbst mittags im Hochsommer immer schattig und feucht, hier zündeln oft Kinder in Antons Alter, ich trete regelmäßig in Erdlöcher, die voll sind mit ausgebrannten Zweigen, Asche und Zeitungspapier.
     Anton habe ich hier auch einmal gesehen, und in seiner Nähe brannte kein Feuer, das freute mich, allerdings voreilig. Anton hockte sehr beschäftigt und ziemlich tief im Gebüsch neben einem schwarzhaarigen Jungen und zuckte zusammen, als ich näher kam und mich über seine Schulter beugte.
     Und ich zuckte auch zusammen, denn zwischen Antons Füßen lag etwas, das wie ein rohes Steak mit Haaren aussah. Und mit winzigen Füßen.
     Und da dachte ich noch - ich muss mich dringend abhärten, wenn ich so große Pläne habe, wie soll ich es schaffen, wenn ich jetzt schon vergeblich gegen den Brechreiz kämpfe?
     Am meisten hat mich überrascht, dass Anton bei der seltsamen Tätigkeit die Federführung hatte und der andere Junge höchstens zuschaute und nur genervt seine schokofarbenen Augen verdrehte, als ich meinen Bruder entsetzt anschnauzte.
     »Warum hast du das arme Vieh umgebracht?« fuhr ich Anton an, der daraufhin nur die Schultern anhob und den Kopf schüttelte.
     »Er war doch schon tot«, sagte der andere Junge, und es war merkwürdig - solche Feindseligkeit in den schönen braunen Kulleraugen, die eher an mir vorbeisahen als direkt auf mich. Als wäre ich zu eklig für einen direkten Blick.
     »Was ist das überhaupt? Und wer bist du?«
     »Ich bin Ilhan.«
     »Und das da?«
     »Ein Hamster. Oder bist du blind?«
     »Nein«, sagte ich. »Bin ich nicht.« Wäre ich aber gern angesichts dieses blutigen Fellklumpens.
     »Hast du den Hamster umgebracht, Anton?« fragte ich mit schwacher Stimme. »Das fasse ich einfach nicht.«
     »Er war schon tot«, flüsterte Anton.
     »Seit gestern Abend, sage ich doch«, sagte Ilhan. »Es ist mein Hamster, er gehört mir.«
     »Was soll das werden?« fragte ich angewidert. Ich konnte nicht anders - Anton hielt gerade unser Küchenmesser in der verschmierten Hand, und die Klinge steckte in der Masse zwischen seinen Füßen.
     »Will das Fell abziehen«, murmelte Anton, ohne mich anzusehen, und es kostete mich die letzte Kraft, nicht sofort auf meine Schuhe zu kotzen.
     »Aber doch nicht mit bloßen Händen«, sagte ich.
     »Wie sonst?« fragte Anton und griff mit seinen dünnen Fingern in die Masse und schob das Fell auseinander, und etwas quoll hervor, und der andere Junge beugte sich und betrachtete es mit gerunzelter Stirn.
     »Was ist denn das?« fragte Anton neugierig. »Weißt du das, Sascha? Jetzt guck doch mal.«
     »Jetzt lieber nicht«, sagte ich schwach. »Vielleicht ein andermal.«
     »Ist das da das Herz?« fragte Ilhan interessiert, und ich riss mich zusammen und kniete mich hin und nahm das Messer aus Antons Hand, schluckte, biss mir auf die Unterlippe und drehte den Hamster vorsichtig um, wobei ziemlich viel aus ihm herausfiel.
     Wahnsinn, was alles in so ein kleines Tierchen reinpasst, dachte ich da noch.
     »Das Herz ist ganz klein bei so einem Hamster«, sagte ich und stocherte herum. »Wahrscheinlich ist es das hier. Keine Ahnung. Das Große ist der Darm.«
     »Und das da?«
     »Was weiß ich. Die Nieren vielleicht.«
     »Cool.«
     »Pfui. Anton, ab nach Hause, Hände waschen. Der Hamster ist doch voller Keime. Tote Tiere sind immer giftig, merk dir das. Dreimal mit Seife. Wie kann man nur so blöd und so brutal sein.«
     »Er war doch schon tot«, flüsterte Anton.
     »Wir wollen ihn doch ausnehmen«, sagte Ilhan.
     »Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst, auch wenn es dein Vater bei deiner Mutter nicht tut«, sagte ich, und zu meiner Überraschung gehorchte er.
     »Wir wollten ihn ausstopfen«, erklärte er widerwillig und sah mir dabei in die Augen. »Anton meint, er kann das. Ich hab Watte von zu Hause mitgebracht. Und er eine Nadel zum Zunähen.«
     »Du meinst, du kannst das?« fragte ich ratlos den deprimierten Anton, der sich mit der blutverschmierten Hand die blonden Strähnen aus dem Gesicht schob. »Nimm doch um Himmels willen deine Finger aus den Haaren!«
     »Wieso soll ich das nicht können?« fragte Anton mürrisch.
     »Findest du das denn nicht eklig?«
     »Nee, wieso?«
     »Anton!«
     »Was?«
     »Ich sagte, ab nach Hause.«
     »Und was ist mit dem Hamster?« fragte Ilhan.
     »Nichts ist mit dem. Ihr könnt ihn nicht ausstopfen. So etwas muss man lernen. Es ist kompliziert. Bei euch wird er einfach verfaulen. Supereklig. Werft ihn weg und ab nach Hause.«
     Sie sahen sich lange an, Anton und Ilhan, und dann seufzte Anton, und Ilhan sah enttäuscht zu dem Zug hoch, der gerade vorbeirauschte.
     »Dann wenigstens begraben«, sagte Ilhan.
     Und ich hockte mich hin, ein paar Meter weiter weg, und sah zu, wie sie ein Loch in die Erde buddelten, wie Anton den Hamster und seine Innereien mit bloßen Händen einsammelte und in der Grube versenkte, Ilhan hatte dazu komischerweise gar keine Lust. Wie sie das Loch wieder zumachten und sorgfältig mit Löwenzahn und Fliederblüten dekorierten. Wie Anton zum Abschluss aus zwei Stöcken ein Kreuz bastelte und Ilhan ihm dabei half.
     »Dreimal mit Seife«, wiederholte ich, bevor sie den Hang zur Straße hochkletterten.


Teil 3