Vorgeblättert

Leseprobe zu Alaa al-Aswani: Der Jakubijan-Bau. Teil 1

18.01.2007.
Gerade hundert Meter trennen die Behlerpassage, an der Saki Bey al-Dassuki wohnt, vom Jakubijan-Bau, in dem sein Büro liegt. Dennoch braucht er für diese Strecke allmorgendlich mindestens eine Stunde, muss er unterwegs doch seinen Freunden an der Strasse einen guten Morgen wünschen, den Inhabern der Kleider- und Schuhläden ebenso wie den Angestellten beiderlei Geschlechts, die darin arbeiten, den Kellnern und Kinobetreibern und den Kunden im Brasilianischen Cafe. Sogar die Türhüter, die Schuhputzer, die Bettler und die Verkehrspolizisten werden mit einem Gruss bedacht. Saki Bey kennt sie alle beim Namen und tauscht mit ihnen ein paar freundliche Worte und ein paar Neuigkeiten aus.
     Saki Bey ist einer der ältesten Bewohner der Sulaiman-Pascha-Strasse. Nach einem Studienaufenthalt in Frankreich Anfang der vierziger Jahre liess er sich hier nieder und hat die Strasse seither nie mehr verlassen. Die anderen Bewohner mögen ihn. Für sie hat er fast etwas Folklori-stisches. Sommers wie winters erscheint er im kompletten Anzug, hinter dessen Weite er seinen hageren, mageren Körper verbirgt, und ein sorgfältig geplättetes Tüchlein, von gleicher Farbe wie seine Krawatte, schaut immer aus der Brusttasche hervor. Die Erscheinung wird ergänzt durch die berühmte Zigarre, in besseren Tagen eine kubanische, inzwischen jedoch diese lokale Marke, straff gerollt und fürchterlich riechend, durch sein faltiges Altmännergesicht, die dicke Brille, das strahlende künstliche Gebiss und die letzten verbliebenen schwarzgefärbten Haare, die in Strähnen
von ganz links nach ganz rechts sauber über den Kopf gelegt sind, um den weiten, kahlen Schädel zu bedecken. Kurz gesagt: Saki Bey hat etwas Mythisches an sich, etwas völlig Unwirkliches. Man schätzt seine Gegenwart, hat aber immer den Eindruck, er könne jeden Augenblick verschwinden oder er sei ein Schauspieler, der nur eine Rolle spielt und danach sein Kostüm wieder ablegt, um seine normalen Kleider anzuziehen. Wenn wir dem noch sein heiteres Naturell hinzufügen, samt seiner Neigung für schlüpfrige Witze, und seine erstaunliche Fähigkeit, mit jedem zu plaudern, als handelte es sich um einen alten Freund, verstehen wir, warum ihn jedermann auf der Strasse so freundlich begrüsst. Und wirklich, in dem Augenblick, da Saki Bey gegen zehn Uhr oben an der Strasse auftaucht, erschallen aus allen Richtungen morgendliche Begrüssungen.
Häufig wenden sich auch ein paar seiner Fans, junge Angestellte in den Läden, an ihn und stellen ihm zum Spass ein paar Fragen zu sexuellen Problemen, bei denen sie nicht weiterwüssten. Dann schöpft Saki Bey aus dem ungeheuer reichen Born seines diesbezüglichen Wissens und erklärt den jungen Männern in genüsslicher Ausführlichkeit und mit einer allseits vernehmbaren Stimme die minutiösesten Geheimnisse des Sexuallebens. Manchmal bittet er gar um ein Stück Papier und einen Stift, was ihm in Null Komma nichts gebracht wird, um den Burschen in aller Klarheit einige aussergewöhnliche Stellungen zu skizzieren, die er selbst in jüngeren Tagen praktiziert habe.

Ein paar Details aus Saki Bey al-Dassukis Leben sind es wert, erzählt zu werden.
     Saki Bey ist der jüngste Sohn Abdalal Pascha al-Dassûkis, des prominenten Wafd-Politikers, der mehr als einmal das Amt des Premierministers innehatte und bis zur Revolution von 1952 zu den reichsten Personen in Ägypten gehörte. Die Familie besass mehr als fünftausend Feddan bestes Ackerland. Saki Bey studierte Ingenieurwissenschaften in Frankreich, und man erwartete selbstverständlich, er werde einmal, dank des Einflusses und des Reichtums seines Vaters, eine herausragende Rolle in der ägyptischen Politik spielen. Doch dann brach plötzlich die Revolution aus, und alles kam anders. Abdalal Pascha wurde verhaftet und vor das Revolutionsgericht gebracht. Man konnte zwar den Vorwurf der Korruption, der gegen ihn erhoben wurde, nicht erhärten, doch blieb er eine ganze Zeit inhaftiert. Der grösste Teil seines Besitzes wurde konfisziert und im Rahmen der Landwirtschaftsreform an die Bauern verteilt. Unter dem Eindruck dieser Vorgänge starb der Pascha bald darauf. Doch das Unheil, das über den Vater hereingebrochen war, ging auch am Sohn nicht spurlos vorüber. Das Ingenieurbüro, das er im Jakubijan-Bau eingerichtet hatte, lief nicht und verwandelte sich im Lauf der Zeit in einen Ort, an dem Saki Bey seine tägliche freie Zeit verbringt, Zeitungen liest, Kaffee trinkt, seine Freunde und Geliebten trifft oder stundenlang auf dem Balkon sitzt, um dem Treiben auf der Sulaiman-Pascha-Strasse zuzusehen. Doch kann für den beruflichen Schiffbruch, den Saki al-Dassûki erlitt, nicht allein die Revolution verantwortlich gemacht werden. Vielmehr geht er im wesentlichen auf seinen fehlenden Ehrgeiz und seine hedonistischen Tendenzen zurück. Sein ganzes Leben, das bisher fünfundsechzig Jahre währte, kreist nämlich mit all seinen Hochs und Tiefs, mit Freud und Leid um einen einzigen Punkt: Frauen. Saki Bey gehört zu jenen Männern, die dem weiblichen Charme hoffnungslos verfallen sind. Für ihn ist die Frau nicht eine Leidenschaft, die aufflammt und, sobald gesättigt, erstirbt, sondern ein Universum aus Faszination, die sich in immer neuen Bildern zeigt, verlockend vielfältig: die blühende, volle Brust mit den vorstehenden Spitzen wie köstliche Trauben; der frische, weiche Hintern, bebend, als erwartete er seinen Überraschungsangriff von hinten; die gefärbten Lippen, die Küsse schlürfen und genussvoll stöhnen; das Haar in all seinen Offenbarungen - lang und ruhig fallend oder kurz und wild mit krausen Zöpfen oder halblang und solide häuslich oder auch kurz als Bubikopf, Hinweis auf unübliche knabenhafte Sexarten; dann die Augen, ach diese Blicke, wie hinreissend sie sind, gleichgültig ob falsch oder geheimnisvoll, dreist oder scheu, oder gar tadelnd, zornig oder missbilligend.
     So grenzenlos, ja hemmungslos liebt Saki Bey die Frauen, und er hat schon mit jeder Art von ihnen Bekanntschaft gemacht. Angefangen hat das mit Kamila, einer Cousine mütterlicherseits des letzten Königs, bei der er die Sitten und Rituale königlicher Schlafgemächer erlernte: von den Kerzen, die die ganze Nacht über brannten, den Gläsern mit französischem Wein, der das Begehren anfacht und die Furcht vertreibt, bis zum warmen Bad vor der Begegnung und der Behandlung des Körpers mit Cremes und Parfümen. Von der leidenschaftlichen Kamila lernte er, wie man anfängt, wie man ablässt und wie man in feinstem Französisch
die schamlosesten Stellungen verlangt. Saki Bey hat mit Frauen aus allen Schichten geschlafen: orientalischen Tänzerinnen, Ausländerinnen, Damen der Gesellschaft, Ehefrauen eminenter Persönlichkeiten, Studentinnen und Oberschülerinnen, auch gefallenen Mädchen, Bäuerinnen und Hausmädchen. Jede von ihnen besass ihren eigenen Geschmack, und häufig verglich er lachend Kamilas vom Protokoll beherrschtes Bettgehabe mit demjenigen jener Bettlerin, die er, völlig betrunken, eines Nachts auflas und in seinem Buick mit in seine Wohnung in der Behlerpassage nahm und die, wie er herausfand, als er sie ins Bad führte, um höchstpersönlich ihren Körper einer Reinigung zu unterziehen, so arm war, dass sie ihre Unterwäsche aus alten Zementsäcken schneiderte. Mit einer Mischung aus Nost-algie und Kummer erinnert er sich daran, wie peinlich es der Frau war, als sie ihre Wäsche auszog, auf der in grossen Lettern "Portland-Zement - Tura" stand. Sie war, auch das hat er nicht vergessen, eine der schönsten und leidenschaftlichsten Frauen, die er gekannt hatte.
     All diese zahlreichen und vielfältigen Erfahrungen haben aus Saki Bey al-Dassûki einen wahrhaften Experten in Sachen Frau gemacht. Im Bereich der "Frauenwissenschaft", wie er es nennt, entwickelte er seltsame und exzentrische Theorien, die, egal ob man sie akzeptiert oder ablehnt, Beachtung verdienen. Beispielsweise geht er davon aus, dass eine Frau von hinreissender Schönheit eine eher kalte Liebhaberin ist. Dagegen stünden Frauen von mittlerer Schönheit oder sogar von einer gewissen Hässlichkeit immer auf der leidenschaftlicheren Seite, weil sie die Liebe wirklich brauchten und keine Anstrengung scheuten, ihre Liebhaber zufriedenzustellen. Saki Bey glaubt, dass schon die Aussprache des S bei einer Frau Rückschlüsse auf ihre Sinnlichkeit zulässt. Einer aufregend tremolierenden Aussprache des Wortes Sûsu oder Basbûsa bei einer Frau entnimmt er sexuelle Begabung; Entsprechendes gelte auch für das Gegenteil. Ausserdem glaubt Saki Bey, dass jede Frau auf der Erdoberfläche von einem ätherischen Feld umgeben sei, das sich in ständiger Schwingung befinde, die zwar unsichtbar und unhörbar, aber auf geheimnisvolle Weise spürbar sei. Wer diese Schwingung zu lesen gelernt habe, sei in der Lage, das Ausmass des sexuellen Hungers jeder Frau zu erkennen. Wie zurückhaltend und schamvoll eine Frau auch ist, Saki Bey ist imstande, diesen sexuellen Hunger zu spüren: am Beben ihrer Stimme oder an ihrem exaltierten Lachen, ja sogar an der Wärme ihrer Hand bei der Begrüssung. Jene Frauen, die von einer unstillbaren, satanischen Leidenschaft besessen sind, filles de joie, wie Saki Bey sie auf französisch nennt, diese rätselhaften Frauen, die nur auf dem Liebeslager wirklich spüren, dass sie existieren, und für die es im Leben kein anderes Vergnügen mit dem Sex aufnehmen kann, diese beklagenswerten Wesen, die von ihrem exzessiven Durst nach Lust ihrem unumgänglichen schrecklichen Schicksal zugeführt werden - sie sind, wie Saki Bey al-Dassûki versichert, eigentlich alle gleich, auch wenn sich ihre Gesichter voneinander unterscheiden. Wer diese Tatsache bezweifelt, den fordert er auf, sich in Zeitungen die Bilder von Frauen anzusehen, die zum Tode verurteilt wurden, weil sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber ihren Ehemann umgebracht haben. Dort könne man auch bei nur oberflächlicher Betrachtung entdecken, dass sie alle gleich aussehen: volle Lippen, sinnlich, locker, nicht zusammengepresst, dazu grobe, lüsterne Gesichtszüge und ein strahlender, leerer Blick, wie der eines hungrigen Tieres.

Leseprobe Teil 2

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