Vorgeblättert

Julian Schütt: Max Frisch. Biografie eines Aufstiegs. Teil 2

21.02.2011.
Wer sind die Brandstifter? Man hat in ihnen die Faschisten gesehen, deren Steigbügelhalter Bourgeoise wie Biedermann sind (diese Lesart begünstigte Frisch eine Zeitlang, als er ein Nachspiel zu seiner Bühnenversion schrieb und Biedermann mit den Nazis fraternisieren lässt); man konnte in den Brandstiftern auch die Kommunisten entdecken, wie sie das Bürgertum unterwandern.(126) Viel beunruhigender ist aber eine dritte, gleichsam öderländische Interpretation der Gewalttätigkeit, nach der die Brandstifter ohne offenkundig ideologisches Gesteuertsein zu Werke gehen. Schon im Hörspiel, das noch ohne Chor auskommt, wird das Biedermännische nach allen Regeln der Kunst abgefackelt, und zwar so, dass man genüsslich und bis fast am Schluss lachend folgen kann, spätestens dann aber kracht es so gewaltig im eigenen biedermännischen Gebälk, dass man nachzudenken beginnt. Zur Schweizer Erstsendung im Juni 1953 schrieb Frisch für die Radio-Zeitung über sein erstes Hörspiel: "Das Höchstgefährliche ist, wie die Geschichte lehrt, der Blödsinn, insbesondere der Blödsinn der Biedermänner; ohne sie, glaube ich, hätten die Brandstifter es schwer. Nein! Wird der freundliche Hörer sagen: So würde ich mich nie verhalten! Darauf kann der Verfasser nur sagen: Um so besser - nicht für dieses kleine Spiel, aber für die Welt [. . .]."(127)


Stiller oder Frischs Wege der Freiheit

ICH HABE MEINEN STIER - ER ODER ICH. Den Notizheften lässt sich entnehmen, dass Frisch schon 1950 in den Vorortgebieten des Romans Stiller angekommen war. Dann und wann setzte er (auch nachträglich) mit rotem Stift den Titel "Stiller" über eine Aufzeichnung. Einer der so überschriebenen Abschnitte handelt von der eigenen Unentschiedenheit, dem Gespaltensein. Frisch spricht vom "Flatternden" seiner Leidenschaft, die nur Wallung bleibe, stellt sich die Frage, ob es das kranke Gewissen sei, das ihm jedes Verhalten, sobald er es einnimmt, trübt und lähmt und verfasert, "sodass wenig Freude entsteht bei viel Reue". Oder, fragt er weiter, ist das Gewissen nur eine Ausrede, ein "nachtrügliches Tarnen einer vitalen Schwäche"?(128)

Noch in einem anderen Heft von 1950 taucht der Name Stiller auf. Frisch plant darin eine Tagebuch-Skizze mit dem Titel "Der Spießer" über eine Figur namens Stiller und ihre Sucht nach Sicherheit in jeder Beziehung.(129) In einem vom März 1951 datierten Heft, also kurz vor der Abreise in die Vereinigten Staaten, macht er dann erstmals Notizen über einen Roman mit einer Hauptfigur namens Stiller. Die ersten Stichworte lauten: "Roman: / Stiller: - Angst vor der Impotenz -", dann folgen weitere Stichworte, aus denen natürlich nicht zu viel herausgelesen werden kann. Klar ist, dass der Roman von einem Künstler handeln sollte, der das Gefühl hat, dass ihm die Kunst mehr und mehr zu einem Lebensersatz wird und er aus Lebensschwäche daran festhält (wieder Kierkegaards ästhetische Existenz). In einem glücklich-leichten Augenblick, nach einem Essen in einem Restaurant voller Spiegel wirft er das Leben weg. Der "Witz", so Frisch, bestehe darin, dass dieser Stiller mit seiner Angst vor der Impotenz einen Don Juan dichtet.(130) Frisch hat zu diesem Zeitpunkt auch seinen Don Juan noch nicht verfasst. Er schreibt Suhrkamp:

     Sie haben mich nach meinen nächsten Plänen gefragt - ich glaube heute zu wissen, dass meine nächste Arbeit, also die Arbeit meines amerikanischen Sommers und Herbstes, ein Prosa-Buch sein wird, ein Roman, der nichts mit Amerika zu tun hat. Das Tagebuch-Schreiben soll beiläufig bleiben. Der Roman: eigentlich zusammengespielt aus fünf Stories, die in andrer Zusammenstellung die gleichen Personen haben, ich glaube, dafür einen unkünstlichen und fruchtbaren Form-Gedanken zu haben. Arbeitstitel: 'Was macht ihr mit der Liebe' - Wenn es mich wirklich hineinnimmt, würde das Manuskript gegen Weihnachten fertig sein.(131)

Nach dem ersten Monat in New York war er noch optimistisch: "Ich habe viel entworfen, glaube bei aller Vorsicht sagen zu können, dass der Roman zustande kommt, er ist in der Gesamtanlage da, wichtige Teile sind auch schon geschrieben." (132) Er bat Suhrkamp, ihm den Daumen zu drücken. Rauschhaft muss er daran gearbeitet haben, so dass er schließlich jene sechshundert Seiten zusammenhatte, von denen er im Interview mit Bienek spricht. In San Francisco nahm er sich den Roman wieder vor, packte dann allerdings nur noch zweihundert Seiten ein. An Helga Roloff:

     Der Roman (er wird immer kleiner, wenn er nicht ganz verreckt) hat vier Gestalten, die, jemehr ich sie entfremde,meine segensreichen Gefährten werden: zwei Männer, zwei Frauen; ein Mann der Tat, Manntier, Arzt, und ein Träumer, Halbkünstler, Mann der Angst und Ahnung, gewissenskrank; eine Frau, die unmittelbar zu leben unternimmt, Schranken überschreitet, und eine andere, spinnenhafte, lungenkranke, die stirbt - ihre Verf lechtungen, die Bedingtheit ihrer Verbindungen, eines verheirateten und eines unverheirateten Paares, das Kreuz und Quer der Beziehungen und Bindungen in einer (erfundenen) Story darzustellen, dafür verwende ich dieses Jahr, um in einem Beispiel zu sagen, was ich so dringend gerne sagen möchte, um mir klarer zu werden. Ob es gelingt, weiß ich natürlich noch lange nicht, obschon die Story im ganzen steht; ich weiß nur, dass ich keine andere Aufgabe zu suchen habe, ich habe meinen Stier - er oder ich! - zuweilen verwundet er mich wacker, aber auch er hat schon ein paar Bandarillos im Nacken, und vorläufig ist mir das Publikum sehr gleichgültig.(133)

Spätestens im Juni 1952, also in Zürich, war der Roman wieder präsent. Frisch berichtete Suhrkamp von einem erzählerischen Projekt, zu dem er Skizzen mache. Man kann davon ausgehen, dass es sich um Notizen zum Stiller handelte. Doch es verging ein weiteres halbes Jahr, ehe er im Stiller-Massiv endgültig Tritt fasste. Und den Ton fand er noch später, eigentlich erst im Juni 1953, als er trotz eines Berges von Problemen wenigstens die Zielrichtung kannte.(134)

Je mehr ihn Stiller beschäftigte, desto heftiger kamen die Schwierigkeiten im Zusammenleben mit Trudy zum Vorschein, als ahnte sie, wie einiges davon in den neuen Roman einfließen würde. Er spielte darin weniger die Trennungen durch als vielmehr die vergeblichen Versuche, Getrenntes wieder zusammenzubringen. Im einen Atemzug sagte er, er sei heftig in der Arbeit, imanderen dachte er an die Familienferien zurück, die "ziemlich bedrückend" waren. Aber immerhin machte die Familie noch gemeinsame Ferien im Inland. Frisch verbrachte allerdings viel Zeit allein. Wenn er nervös wurde, weil die Situation zu angespannt war und er lieber an seinem Buch gesessen hätte, brach er auf zu einer Wanderung, konnte sogar die Berge wieder einmal genießen. Trudy litt still vor sich hin und er dann meist ebenfalls stumm vor schlechtem Gewissen. Anders als früher verzieh sie ihm nicht mehr, wenn er sie kränkte. Noch immer gestattete sie sich kaum einen Wutausbruch, während Frisch sich diesbezüglich weniger zurückhielt. Seinen Stiller lässt er über seine angeblich von ihm ermordete Gattin sagen, sie sei für jedes laute Wort zu nobel gewesen. Und das Noble habe ihn angezogen.Wenn er, Stiller, doch einmal laut wurde und einen Teller an die Wand schmetterte, kam er sich angesichts seiner Frau wie ein Mörder vor, wie ihr Mörder. Irgendwann war aber sein schlechtes Gewissen verbraucht. Man hält das nicht aus, so Stiller gegenüber dem Staatsanwalt, "man kann nicht jahrelang ein schlechtes Gewissen haben, Herr Staatsanwalt, ohne zu verstehen, warum man ein schlechtes Gewissen hat!"(135)

Frisch vertraute Suhrkamp an, dass er eine Freundin habe, "eine verheiratete Frau mit Kindern und einem Mann, den ich sehr mag und der vieles auf sich nimmt, und sonst brauche ich wenig Gesellschaft, und die Zeit vergeht mir so entsetzlich rasch, gerade wenn sie ausgefällt ist, ich habe jetzt immerzu das Gefühl, ich komme zu nichts, dabei arbeite ich sehr viel".(136) Die Frau hieß Madeleine Seigner-Besson, war die Schwester des Regisseurs Benno Besson und die Mutter von Frischs letzter Lebensgefährtin Karin Pilliod-Hatzky. Deren "jugendliche Erscheinung" habe, so Frisch, den Homo faber verursacht. Damals war es für ihn zum ersten Mal eine Möglichkeit, dass man sich in seine eigene Tochter verliebt. "Es war aber", wie er sogleich anfügt, "nicht der Fall, nur denkbar."(137) Vorerst liebte er die Mutter und ausschließlich die Mutter. Madeleine befreite ihn von seinem "schweren Verhängnis, dass ich im Grunde gegen mich bin".(138) Nur weil er durch den Roman an den Schreibtisch in seiner Mansarde gefesselt war, hielt er es noch aus zu Hause, wenigstens vormittags. Danach verzog er sich ins Büro, um die Pläne für zwei Architekturwettbewerbe fertigzustellen, zum einen ging es um ein neues Gebäude für das Physikinstitut der Universität Zürich, zum anderen um ein Gymnasium in Zürich-Enge. Beim zweiten Wettbewerb reichte es zu einem Ankauf. Was das werdende Buch anging, war Frisch glücklich, "mich in Prosa wieder zu suchen, im Erzählen vielleicht einen Weg zu finden".(139)

Von den Spannungen mit Trudy lenkte er sich außerdem mit Büchern ab. Er las erstmals Proust, wenn auch nur in deutscher Übersetzung, doch war es sein größtes Leseerlebnis seit langem. Weitere Lektüren waren Jungs Antwort auf Hiob, etwas über Zen-Buddhismus, hin und wieder Kierkegaard, und erschüttert war er von O?Neills Ein Mond für die Beladenen, während der von Suhrkamp geschätzte Beckett und sein Warten auf Godot bei Frisch noch "fast kein Echo" fand.(140)


AUTOR DER VERWANDLUNGEN. Wenn finanzielles Ungemach drohte, kannte Frisch nun das perfekte Sanierungskonzept: Dann nahm er wie mancher Schriftsteller in den fünfziger Jahren einen der gut bezahlten Hörspielaufträge an. Wieder war es der Bayerische Rundfunk, der bei ihm anfragte, und weil Frisch ganz mit dem Roman beschäftigt war, ohne Gehör für anderes, stahl er die Idee, wie er im Gespräch mit Bienek sagt, aus dem werdenden Buch. So entstand im Februar und März 1953 Rip van Winkle. Der Stoff liefert einen Einstieg in den Stiller-Komplex. Die Vornotiz zum Hörspiel lautet:

     Das ist die Skizze von einem Menschen, der nie gelebt hat: weil er von sich selber forderte, so zu sein, wie die andern es von ihm forderten. Und eines Tages, als er aus diesem Spuk erwachte, siehe da, die Leute kannten seinen Namen, es war ein geschätzter Name, und die Leute konnten es nicht dulden, dass einer ohne Namen lebte. Sie steckten ihn in das Gefängnis, sie verurteilten ihn zu sein, was er gewesen ist, und duldeten nicht seine Verwandlung -.(141)

Das Codewort heißt Verwandlung. Warum es so schwer fällt beziehungsweise wer es einem so schwer macht, sein Leben zu ändern, das ist der Ausgangspunkt. Da ist ein in die Vergangenheit ziehender Magnet, denn nichts ängstigt so sehr wie die Verwandlung, die subversiv ist, sie bedeutet Leben, dank ihr ließe sich der Vergangenheit, der feststehenden Identität entgehen, würden einen das eigene Justemilieu und die eigene Mutlosigkeit nicht daran hindern. Flucht bedeutet für Frisch nicht Feigheit oder Resignation, Flucht ist Verwandlung, erfordert Courage. Man muss sich Stiller zunächst als mutigen Menschen vorstellen. Wenn der Flüchtige und Verwandelte mit der Gesellschaft in Konflikt kommt, kann daraus allerdings leicht ein ernstes Identitätsproblem entstehen. Das Identitätsproblem als die Kehrseite der Verwandlung. Frisch hätte es wohl lieber gehabt, wenn er der Autor der Verwandlungen geworden wäre (wie er es in dieser Biographie sein soll), statt nur als der Autor des Identitätsproblems zu gelten.

Im Hörspiel wird der "Fremdling" dazu verurteilt, wieder den Namen Anatol Wadel zu tragen, dies obwohl der Staatsanwalt viel Verständnis aufbringt für diesen Rip van Winkle, der sich selbst überfordert, sich nicht annimmt, der weiß, wie er sein sollte, bis er nicht mehr weiß, wer er ist, bis er überhaupt keine Wirklichkeit mehr ist.(142) Das Menschenrecht, sein Leben zu ändern, wird im Stiller wie in Rip van Winkle geprüft. Selbstkritisch meint der Staatsanwalt im Hörspiel: "Wir machen uns ein Bildnis von einem Menschen und lassen ihn nicht aus diesem Bildnis heraus. Wir wissen, so und so ist er gewesen, und es mag in diesem Menschen geschehen, was will, wir dulden es nicht, dass er sich verwandle. [. . .] Wir sind nicht bereit für das Namenlose, für das Lebendige." (143) Und noch während er dies dem Verteidiger darlegt, hat der verurteilte "Fremdling" versucht, seine vermeintliche Gattin zu erwürgen.

Im Stiller erzählt White das Märchen von Rip van Winkle, um dem Verteidiger endlich "aus seinem Missverständnis meiner Lage herauszuhelfen". Rip ist diesmal ein Halodri, ein Faulpelz, mit einem Kopf voller Gedanken, die mit seiner Wirklichkeit nichts zu tun haben und die sich allenfalls in der Wirtschaft, wo ermeistens sitzt, bewähren. Da gerät er wie im Traum selber in eine Geschichte hinein, und als er in die Wirklichkeit zurückkommt und heimkehren will, ist ihm alles fremd, und für die Bewohner seines Ortes wurde er selbst zur schnurrigen Geschichte. Stiller oder Die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, ein anderer zu werden, sich zu verwandeln beziehungsweise sich abhandenzukommen.

zu Teil 3
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