Vorgeblättert

Jon McGregor: Nach dem Regen. Teil 3

14.02.2005.
Die kleine Frau mit den angemalten Zehennägeln nebenan sagt aber habt ihr den Typ oben auf der Galerie gesehen, der war nicht schlecht, nein, der war einfach toll, und sie genießt das Wort wie eine Erdbeere, ihr wißt schon sagt sie, der am Geländer, der Typ auf Speed, der sich immer nach draußen gelehnt hat, und sie wissen alle genau, wen sie meint, er steht meistens an derselben Stelle und hämmert den Rhythmus mit wie ein Autoschlosser, die Fäuste fuchteln durch die Luft, Schweiß spritzt von seinem polierten Schädel.
Sie sagt einmal war ich da, und er war so breit, daß er sich mit den Beinen ans Geländer gehängt hat, mit den Füßen unter die Stange, und sie denkt daran, wie sich sein Gesicht zu einem wütenden O verzogen hatte, immer wieder schrie er come on let s have some, und sie denkt daran, wie seine Fäuste immer noch durchs Nichts ruderten, wie ein im Weltall verlorener Astronaut.
Ein Mädchen schläft in der Elf im Zimmer, das nach hinten hinausgeht, die Haare werden von einem Stirnband festgehalten, damit sie ihr nicht in die Augen fallen, der Mund steht weit offen, im Zimmer ist es warm und schon fast hell. Vogelschatten huschen über das Gesicht, doch es wacht nicht auf.

Ein Pärchen Anfang Dreißig hat in der Dachgeschoßwohnung in der Einundzwanzig eine dünne rote Decke lose über sich liegen, er schnarcht, und sie hat sich von ihm weggedreht, in der Ecke läuft der Fernseher mit heruntergedrehtem Ton, Schatten huschen durch das Zimmer, doch das Paar wacht nicht auf.

Hinten im Schlafzimmer der Siebzehn sagt der Typ mit dem weißen Hemd und der Krawatte das war eindeutig ne Frau, die hatte keinen Adamsapfel, ich schwör s euch, das war eine Frau, und alle lachen ihn aus, und jemand gibt eine überlange Zigarette an ihn weiter.
Der Typ mit der weiten Hose ist still, er betrachtet die junge Frau neben ihm, eine attraktive, vollschlanke Frau mit dunklen Haarlocken, die auf ein rotes Samtkleid fallen, er betrachtet die Schnürsenkel und Bänder und Schnallen und Reißverschlüsse ihrer komplexen Fußbekleidung, und er blickt hoch zu ihr und sagt und wie lang brauchst du, um diese Dinger auszuziehen? Sie sieht ihn an, die Frau, mit Lippen so rot wie das Feuer in einer Chilischote, sieht seine auf dem Bett ausgebreitete Gestalt an und sagt keine Ahnung ich habe sie mir noch nie selbst ausgezogen und sie lächelt, als er das Atmen vergißt, sie beobachtet, wie sein Blick sich tröpfchenweise von ihrem Gesicht löst und die kurvenreiche Geometrie ihres Körpers hinabfließt.
Und alle anderen reden ohne Punkt und Komma weiter, reden alle gleichzeitig, reden über die Musik, die sie gehört, und die Leute, die sie gesehen haben, und wo sie als nächstes hingehen wollen. Der Typ mit dem weißen Hemd und der Krawatte sagt das war eindeutig ne Frau, und dann stopft er eine Pfeife voll mit frischem grünen Gras, und im Zimmer wird es andächtig still, die Unterhaltung verebbt, alle merken auf einmal, daß ihre Köpfe sich zu schnell drehen, ihre Körper zu sehr unter Strom stehen, und sie atmen der Reihe nach den süßen Rauch ein, halten das Rauchkissen so lange wie möglich in der Lunge, schließen die Augen, dämpfen die Stimmen.
Und sie denken einen Augenblick lang an die Tagwelt, an sanfte Hügel oder den Strand oder ans Fußballspielen oder an das, was sie in solchen Augenblicken zu denken gelernt haben, und sie atmen langsam und fallen kurz in eine Art Wachtraum. Und wenn jetzt jemand durchs Fenster hineinsehen würde, hinten in den Garten gehen und die Nase gegen die Scheibe drücken würde, die Hände wie ein Fernglas um die Augen gelegt, dann würde derjenige etwas sehen, was wie ein Raum voller zum stillen Gebet versammelter Menschen aussähe und würde sich fragen, für wen sie wohl diese Nachtwache hielten.

Draußen fährt langsam ein Taxi durch die Straße, der Fahrer hat den Kopf zum Fenster hinausgestreckt und überprüft Hausnummern. Bis Haus Nummer achtundzwanzig kommt er, weiter geht es nicht. Er zögert einen Moment, bevor er wegfährt, das Motorengeräusch, das er zurückläßt, senkt sich langsam wie eine Staubwolke zu Boden.

Und jetzt schweigen sie, die junge Frau mit der Armeehose versucht, ein Bild im Fernsehen zu finden, der Typ mit dem Ring in der Augenbraue hält mit konzentriertem Gesichtsausdruck ein Feuerzeug an den Plastikdeckel einer Chipsrolle, wartet und sieht zu, wie das Plastik schmilzt.
Die Frau mit den Stiefeln sagt ich geh jetzt heim, ich will jetzt gehen.
Willst du mitkommen sagt sie zu dem Typ mit der weiten Hose, mich nach Hause begleiten sagt sie, und ihre Stimme ist schwach und müde.
Der Typ mit Hemd und Krawatte legt sich auf den Boden, drapiert einen Arm über die große dünne Frau, die immer noch Kaugummi kaut und an die Decke starrt, und zieht eine Bettdecke halb über sie.
Die kleine Frau hat sich mitten auf dem Bett zusammengerollt und wartet darauf, daß die Frau mit der Armeehose kommt und sie warm hält.
Der Typ mit dem Ring in der Augenbraue hält sich den Plastikdeckel vor den Mund und bläst, und eine heiße Plastikblase schießt durchs halbe Zimmer, nimmt wie ein Wunder Gestalt an, behält den Bruchteil einer Sekunde lang ihre längliche Luftschifform und schwebt dann sanft zu Boden.
Die Frau mit den Stiefeln streckt dem Typ mit der weiten Hose die Hand hin, zieht ihn hoch und küßt ihn auf die Stirn. Bring mich nach Hause sagt sie, und sie bewegen sich langsam in Richtung Tür.
Die Frau mit der Armeehose macht die Augen zu, läßt sich aufs Bett fallen, paßt sich allmählich dem Umriß des anderen Frauenkörpers an, umschließt ihn wie eine Nußschale.

In der Wohnung im Obergeschoß der Achtzehn richtet sich ein junger Mann im Bett auf, es ist noch früh, aber er fühlt sich hellwach, er läßt den Blick über das Chaos in seinem Zimmer gleiten und denkt an all die Dinge, die er heute erledigen will, erledigen muß. Sortieren, packen, aufräumen, organisieren. Er reibt sich die trockenen Augen mit den Fingerspitzen, er steht auf und geht hinüber ans Fenster. Mitten auf der Straße sieht er zwei Leute, er erkennt die junge Frau aus Nummer siebenundzwanzig, den Typen erkennt er nicht, er fragt sich, wer das sein mag. Er nimmt einen Fotoapparat in die Hand und macht Fotos von diesem Morgen, von den beiden Leuten auf der Straße, dem Sonnenlicht, dem zugezogenen Vorhang am Fenster gegenüber, er legt den Fotoapparat wieder weg und macht Einträge in ein kleines Buch, er schreibt das Datum und eine genaue Beschreibung der Dinge auf, die er gerade fotografiert hat.
Das junge Paar auf der Straße tanzt, sie halten einander anmutig in den Armen, im Kopf haben sie immer noch die Musik des Parkplatzes, verschwinden in ihrer Wohnung, lassen die Haustür offen stehen, die Straße ist leer und still.
Eine Katze zögert auf der Türschwelle.
Tauben prasseln auf Schornsteine.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta

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