Vorgeblättert

Jon McGregor: Nach dem Regen. Teil 1

14.02.2005.
(Seiten 13 bis 25)


Er bewegte sich als erster, der junge Mann aus der Achtzehn.
Er war auf den Beinen und auf der anderen Straßenseite, bevor jemand auch nur geblinzelt hatte, bevor jemand einen Laut von sich gegeben hatte.
Es war, als wüßte er, was zu tun war, als hätte er auf diese Gelegenheit nur gewartet.
Er rannte von der Türschwelle los wie ein Sprinter am Start, und als ich mich umgedreht hatte, um zu sehen, wer es war, war er schon dort.
Er war dort, und dann war es vorbei, und es ging so schnell, daß ich das Gefühl hatte, der Blitz einer Kamera sei direkt vor meinen Augen losgegangen.
Alles wurde weiß, geisterweiß, wie eine alte Wochenschau, verblaßt und fleckig.
Ich konnte nicht fassen, was geschah, ich konnte nicht glauben, was geschah.
Ich saß da, am warmen Nachmittag des letzten Sommertages, und konnte nicht begreifen, was ich da sah.
Ich sah, wie er über die Straße rannte, der junge Mann aus der Achtzehn, und versuchte zu verstehen.

Ich erinnere mich nicht, es gesehen zu haben, nicht den Augenblick selbst, ich erinnere mich nur an merkwürdige Einzelheiten, periphere Bilder, kleine Dinge, die außerhalb der blinden Mitte geschahen.
Ich erinnere mich, daß die Frau neben mir ihre Bierdose fallen ließ und nach hinten schwankte, als wäre sie von einer Druckwelle erfaßt worden.
Ich sehe noch genau, wie die Dose die Erde berührte, unter ihrem Gewicht ins Gras sank, wie sie auf die Seite kippte, aber aufrecht stehenblieb, wie ein halb umgestürzter Telegrafenmast im Sturm.
Ich kann ein Zeitlupenbild des Biers sehen, das oben aus der Dose herausschäumte, ein Schwall spritzte hoch wie Rauch, hing einen Augenblick lang im Licht, bevor er sich über das Gras verteilte und mir in den Schoß sprühte.
Ich habe keine Ahnung, warum das so ist.
Ich habe keine Ahnung, wie ich diese Einzelheiten habe sehen können. Das Zischen des Biers, dessen Blasen glitzernd in der Luft zerplatzen.
Grashalme, die sich wieder aufrichten, während die Flüssigkeit in den Boden einsickert, der feuchte Fleck auf meinem Rock, der kleiner und heller wird und an der Sonne trocknet.
Die Helligkeit des Lichts.

Eine Frau war da, die sich oben aus dem Fenster lehnte und eine Decke ausschüttelte.
Auf der anderen Straßenseite waren ein paar junge Kerle beim Grillen, sie stachen ein Messer ins Fleisch, um zu sehen, ob es schon durch war.
Ein Mann mit einem langen Bart war da, vor der Fünfundzwanzig auf einer Leiter, der seine Fensterrahmen strich, er war schon den ganzen Tag über dabei und war fast fertig.
Jeder Rahmen glänzte feucht in der Sonne, ein schönes, blasses Blau wie die erste Andeutung von Farbe im Morgengrauen, und es hatte Spaß gemacht, die langsame Gründlichkeit seiner Arbeit zu beobachten.
Im Garten nebenan war ein Typ, der seine Turnschuhe mit einer Nagelbürste und einer Schale Seifenwasser putzte.
Ich kann all diese Augenblicke sehen, als ob sie in Stein gemeißelt wären, kleine Augenblicke, die von der Situation festgehalten und wichtig gemacht wurden, wie Figuren in einer Pompeji-Ausstellung.
Die Frau mit der Decke hielt mitten im Schwung inne, die Aufmerksamkeit weggerissen, die Decke verlor den Antrieb und schlug schlaff gegen die Wand.
Ihre Arme immer noch ausgestreckt, die Lippen immer noch geschürzt in Abwehr der Staubwolken.
Die Decke hing hinunter zum Boden wie eine Signalfahne.

Jemand sagte oh mein Gott.
Ein Junge auf einem roten Dreirad fuhr gegen einen Baum.
Seine Füße rutschten von den Pedalen und gerieten unter die Räder, rissen ihn vom Sitz und hinunter Richtung Boden.
Ich sehe ihn vor mir, wie er seitlich herunterfällt, wie er sich gleich am Beton das Bein aufschürfen wird, sich gleich den Kopf am Baum stoßen wird, wie sein Dreirad auf zwei Räder kippt und er die Augen nicht von der Straße nehmen kann.
Im Fallen drehte sich sein Kopf immer noch weiter, und als er auf dem Boden ankam, konnte er nur daliegen und zusehen, wie alle anderen auch.
Er kann nicht älter als drei gewesen sein, ich wollte hinrennen und ihm die Augen zuhalten, aber ich konnte mich nicht bewegen, also sah er weiter zu.
Ein Mann, der gerade beim Autowaschen war, hob beide Hände über den Kopf und ballte sie zu Fäusten.
Den Schwamm hielt er noch in der Hand, das Wasser lief heraus und ihm den Rücken herunter, aber er rührte sich nicht.
Jemand sagte Scheiße Scheiße Scheiße.

Doch vor allem war da dieser Augenblick völliger Stille.
Völliger Reglosigkeit.
Eigentlich kann es nicht wirklich so gewesen sein, es muß immer noch Musik gelaufen und Verkehr auf der Hauptstraße gewesen sein, aber so erinnere ich mich daran, als eine einzige, schwer lastende Pause, die ganze Straße erstarrt in einem Tableau offen stehender Münder.
Und der Typ aus der Achtzehn, der sich wie ein Segen durch den erstarrten Augenblick bewegte.
Es schien, oder scheint zumindest heute so, als ob alles andere reglos gewesen wäre.
Die zwischen Hand und Boden hängende Bierdose.
Die Decke, welche die Wand noch nicht ganz berührt.
Der Junge mit dem Dreirad, eine Haaresbreite entfernt vom Baum.
Ein in meiner Kehle zurückgehaltenes Keuchen, wie die Luft im zugedrückten Ansatz eines Ballons.
Und es wirkte alles irgendwie falsch, unecht, unverbunden mit der Art von Tag, die es gewesen war.
Ein ereignisloser Tag, langweilig und warm und ruhig, Leute, die sich auf der Vordertreppe unterhielten, spielende Kinder, Musik, ein Grillfest.
Ich war bei Tagesanbruch von zuknallenden Taxitüren aufgeweckt worden, Leute aus der Siebzehn, die ich kannte, die von einer langen Nacht auf der Piste zurückkamen und langsam die Straße entlangdrifteten.
Ich hatte nicht wieder einschlafen können, ich war im Bett liegengeblieben und hatte zugesehen, wie die Sonne im Zimmer heller wurde, hörte den Kindern zu, die draußen herumrannten, das vertraute Rattern des kleinen Dreirads.
Später war ich dann aufgestanden und hatte etwas gegessen und versucht, mit dem Packen anzufangen, ich hatte auf der Vordertreppe gesessen und Tee getrunken und in Zeitschriften geblättert.
Ich war zum Laden gegangen und hatte kurz mit dem Typ aus der Achtzehn geredet, er war verlegen und schüchtern gewesen, und es paßte nicht, daß er derjenige sein würde, der so rasend schnell über die Straße sprinten würde.
Gegen Ende des Nachmittags regnete es plötzlich heftig, aber das war es auch schon, sonst war an dem Tag nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes.
Und irgendwie scheint es nicht richtig, daß es keine Vorwarnung gab, kein Gefühl in der Luft, keine Vorahnung, keinen Hinweis.
Ich frage mich, ob da nicht vielleicht doch etwas war, ob da nicht etwas war, das ich übersehen habe, weil ich nicht darauf achtete.

Teil 2