Vorgeblättert

John Maynard Keynes: Freund und Feind. Teil 3

20.08.2004.
II

Am Ende meines ersten Kapitels hat Dr. Melchior den Eisenbahnwagen in Trier betreten. Vielleicht sollte ich kurz erklären, worum es bei dieser Begegnung ging.
Die Waffenstillstandsvereinbarung vom November 1918 sah ausdrücklich die Fortdauer des Embargos vor, enthielt aber darüber hinaus die Verfügung, daß "die Alliierten die Lebensmittelversorgung Deutschlands in dem Maße, das für notwendig erachtet wird, in Betracht ziehen werden". Im ergänzenden Waffenstillstandsabkommen vom Dezember, das von französischen und belgischen Finanzexperten ohne Wissen Englands oder Amerikas ausgehandelt worden war, wurde es Deutschland verboten, irgendwelche Goldreserven, ausländische Wertpapiere oder andere flüssige Aktiva im Ausland zu verkaufen - mit der Begründung, dies alles sei ein Faustpfand für die Reparationsansprüche der Alliierten. Dieser Bedingung stimmten die Deutschen vierzehn Tage nach der Revolution zu, auf dem Tiefpunkt ihres Geschicks und am Ende ihrer Kräfte. Man mag sich wundern, daß eine solche Klausel dem ursprünglichen Waffenstillstandsabkommen hinzugefügt werden konnte. Aber die ersten drei dieser Abkommen waren jeweils nur einen Monat lang in Kraft, und die Franzosen vertraten den Standpunkt, daß wir bei jeder Erneuerung des ursprünglichen Vertrags berechtigt waren, irgendwelche neuen Bedingungen hinzuzufügen, die man zunächst vergessen haben mochte, die uns jetzt aber nützlich sein konnten - und sie bestanden auf der Annahme solcher Punkte mit der Drohung, daß andernfalls der Waffenstillstand wieder ganz außer Kraft zu setzen wäre und sie erneut in Deutschland einmarschieren würden.
Infolgedessen wurde das Embargo fortgesetzt, und der Rest der finanziellen Ressourcen Deutschlands, mit dem es Lebensmittel von den benachbarten neutralen Staaten hätte erwerben können, blieb eingefroren. Deutschland konnte keine Nahrung einkaufen, der Zeitpunkt rückte näher, da seine eigenen Ernten aufgebraucht sein würden, und nun sollte der Hunger, der dieses Land besiegt hatte, fortdauern in jene Zeit, da die Lebenskraft der Nation schon dahin war, die Regierung gestürzt und der Hoffnung die Stütze genommen.
Die Amerikaner insistierten unter dem Einfluß Hoovers - dessen Position teils humanitäre Gründe hatte, teils einfach zeigte, daß er hinreichend Phantasie besaß, sich über die Folgen Sorgen zu machen -, daß diese Politik ein Fehler sei, und im Dezember wurde die Sache in London diskutiert. Ich weiß kaum, weshalb wir, die Engländer, beschlossen, für das Fortdauern dieser Situation einzutreten. Teilweise führe ich es auf die Entschlußlosigkeit von Lord Reading zurück, der auf unserer Seite für diese Sache verantwortlich war - denn er intrigierte zu jener Zeit Tag und Nacht, um in die Pariser Delegation aufgenommen zu werden, und er hatte tödliche Angst davor, sich allzudeutlich mit irgendeinem kontroversen Standpunkt zu identifizieren. Ich weiß noch, wie er minutenlang an seinem linken Daumennagel herumzupfte -, in seinem Zimmer in den Räumen des Kriegskabinetts in Whitehall Gardens, in einer Agonie von Unschlüssigkeit, wie wohl die Sache ausgehen mochte. Sein Zylinder war ein vollendetes Exemplar, sein Gesicht, seine ganze Person waren so feingemeißelt und hochpoliert und strahlten aus so vielen Winkeln kleine Lichtpünktchen zurück, daß man ihn gerne als Krawattennadel getragen hätte ? eine Krawattennadel an einer Krawattennadel, bis man kaum wußte, wer der Earl war und wer das Schmuckstück ; armer Earl!
Aber im Grunde führe ich es auf eine Ursache zurück, die zur Logik eines bürokratischen Apparats gehört. Das Embargo war zu diesem Zeitpunkt ein makellos perfektes Instrument geworden. Es hatte vier Jahre lang gebraucht, um es aufzubauen, und es stellte Whitehalls größte Leistung dar ; in ihm zeigten sich die typisch englischen Qualitäten aufs subtilste. Seine Schöpfer liebten es schließlich um seiner selbst willen ; es gab auch einige neueste Verbesserungen, die ganz verschwendet gewesen wären, wenn man das Embargo nun aufhöbe ; es war hochkompliziert, und eine weitverzweigte Organisation hatte ein starkes Interesse an seiner Fortdauer. Die Experten berichteten infolgedessen, daß es das einzige Mittel darstellte, Deutschland unsere Friedensbedingungen aufzuzwingen, und daß es, einmal aufgehoben, kaum wieder verhängt werden könnte.
Als wir in Paris ankamen, schien mir deshalb eine Änderung dieser Lage das wichtigste und dringlichste Problem, und meine Stellung als englischer Delegierter für die Finanzbelange im Wirtschaftsrat gab mir die Gelegenheit, mich damit zu befassen. Die Friedensverhandlungen mochten sich offensichtlich noch Monate hinziehen, und in der Zwischenzeit mußte es das Hauptziel der Politik sein, irgendeinen Weg zu finden, um Deutschland zu ernähren. Es lag auf der Hand, daß es niemandem nützen würde, wenn die Struktur des deutschen Staates zusammenbrach und wenn die zügellose Unordnung unter den widerstreitenden Fahnen des Kommunismus und der Reaktion den Rest Europas auf der anderen Rheinseite ausplünderte. Das Projekt war nicht hoffnungslos, denn Lord Robert war offen derselben Meinung, der Premierminister insgeheim ; nur die Franzosen waren dagegen.
Das Spiel begann im Wirtschaftsrat am 12. Januar 1919 und setzte sich am nächsten Tag im Kriegsrat fort. Monsieur Klotz war der Anführer der Opposition. Er hatte nichts dagegen, daß England oder Amerika Deutschland mit Nahrungsmitteln versorgten, aber er war entschlossen, daß Deutschland diese Lieferungen nicht mit jenen Mitteln bezahlen sollte, die für die Reparation zur Verfügung standen und deshalb buchstäblich Frankreich gehörten. Präsident Wilson, dessen Wille zu dieser Zeit ungebrochen war, äußerte sich mit sonorer erhabener Rhetorik. "Solange der Hunger weiter nagt", sagte er, "werden die Fundamente der Regierung weiter bröckeln ?" Er vertraue darauf, daß das französische Finanzministerium - ich zitiere ihn wörtlich - "seinen Einwand zurückziehen würde, da wir konfrontiert sind mit den großen Problemen des Bolschewismus und der Auflösungskräfte, die jetzt die Gesellschaft bedrohen". Monsieur Klotz erwiderte ein wenig eingeschüchtert, daß er den Wünschen des Präsidenten gerne entgegenkäme. Es ginge jedoch nicht nur um die Frage der Lebensmittelversorgung. Es ginge auch um die Frage der Gerechtigkeit. Er wollte im Hinblick auf die Gerechtigkeit - wissen, weshalb die Deutschen vorzugsweise für Lebensmittel bezahlen sollten, anstatt jene Schulden zu begleichen, die sie jetzt zum Ausgleich für den von ihnen angerichteten Schaden hatten. Der Sieg fiel an jenem Tag mehr oder weniger Klotz zu, denn er mußte zwar en principe zustimmen, daß Deutschland für die Lebensmittel bezahlen sollte, es gelang ihm aber, die Beantwortung der Frage, wie diese Bezahlung erfolgen sollte, erst einmal aufzuschieben.
Ich habe gesagt, daß der Präsident mit erhabener Rhetorik sprach, aber die Beweggründe der Menschen sind gemischt. Dicht neben ihm saß Mr. Hoover - und der hatte in seiner Funktion als Aufseher über die Lebensmittelproduktion den amerikanischen Farmern einen Mindestpreis für ihre Schweine versprochen ; dieses Versprechen hatte die Säue des Subkontinents über die Maßen stimuliert ; die Preise fielen ; und der Kongreß hatte nicht die nötigen Mittel bewilligt, um Mr. Hoovers Versprechen einzulösen. Es folgt nun ein Auszug aus einem Bericht an den Schatzkanzler, den ich an jenem Abend in Paris abschickte.
"Was Schweinespeck angeht, haben die Amerikaner vorgeschlagen, wir sollten die großen Mengen geringwertigen Specks, die wir im Augenblick haben, nach Deutschland abschieben und sie durch frischere Bestände aus Amerika ersetzen, die leichter verkäuflich wären. Dies wäre für uns sicher ein gutes Geschäft, vom Standpunkt der Lebensmittelversorgung aus gesehen ? Es ist eine eigenartige Situation. Das Embargo für Fette an neutrale Staaten wird aufgehoben, und Deutschland soll in sehr großzügigem Umfang Fette erhalten. Der Bolschewismus soll besiegt werden, eine neue Ära soll beginnen. Im Obersten Kriegsrat hat sich Präsident Wilson sehr beredt für sofortiges Handeln in diesem Sinne ausgesprochen. Tatsächlich aber steckt hinter alledem die Tatsache, daß Mr. Hoover auf riesigen Lagerbeständen geringwertiger Schweineprodukte zu hohen Preisen sitzt, die er um jeden Preis an irgendjemanden loswerden muß, auch an die Feinde, wenn es nicht bei den Verbündeten geht. Wenn Mr. Hoover nachts schläft, schweben Visionen von unübersehbaren Schweineherden über seine Bettdecke, und er gibt ganz offen zu, daß dieser Alptraum allen Risiken zum Trotz vertrieben werden muß."
Das also war es, weshalb ich in Trier war. Es war uns gelungen, den französischen Plan zu durchlöchern, während des laufenden Waffenstillstandes nur Militärpersonen mit den Deutschen verhandeln zu lassen. Und nun waren wir hier, um vorläufige Vereinbarungen über Lebensmittellieferungen an Deutschland zu treffen und mit den deutschen Zivilabgesandten die denkbaren Zahlungsmöglichkeiten zu sondieren.
Ehe wir in den Eisenbahnwagen im Bahnhof von Trier zurückkehren, muß ich noch ein, zwei Komplikationen etwas ausführlicher erläutern, weil sie für die spätere Entwicklung meiner Erzählung entscheidend sind.
Während einige von uns nach Trier gereist waren, um dort über Nahrungsmittel und Finanzfragen zu reden, gab es noch ganz andere Fragen zu regeln. Die ursprüngliche Waffenstillstandsvereinbarung hatte eine Reihe von Punkten einfach ausgelassen, die man später sehr gerne dort behandelt gesehen hätte, und dazu gehörte das Schicksal der deutschen Handelsflotte. Die Alliierten waren fest entschlossen, sich diese Schiffe im Rahmen eines Friedensvertrags anzueignen, aber in der Zwischenzeit gab es keine Handhabe, sie zu übernehmen. Die zur Verfügung stehende Tonnage war äußerst knapp ; die deutschen Schiffe wären sehr nützlich gewesen. Man wollte deshalb ihre sofortige Übereignung zu einer Bedingung für die zweite Verlängerung des Waffenstillstands machen - Sie werden sich daran erinnern, daß Foch jetzt deshalb in Trier war, um diese Verlängerung auszuhandeln. Aber die Sache war nicht so einfach, wie es den Anschein hatte. Es stand fest, daß die Deutschen sich hartnäckig gegen die Herausgabe ihrer Schiffe sträuben würden. Ihnen aber mit der Aufhebung des Waffenstillstandes zu drohen, falls sie ablehnten - das wäre ziemlicher Bluff gewesen, denn es war höchst zweifelhaft, ob die öffentliche Meinung weltweit (insbesondere in Amerika) eine Invasion Deutschlands hinnehmen würde, einzig und allein, weil sich Deutschland weigerte, etwas zu tun, was es bei der Kapitulation nicht versprochen hatte und was bis jetzt in keinem Vertrag stand. Außerdem waren Demobilisierung und Entwaffnung der deutschen Armee zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr weit gediehen, so daß man eine derartige Invasion tatsächlich mit starken Kräften durchführen müßte, was die Entlassung unserer eigenen Truppen nach Hause verzögern und die Politiker entsprechend unpopulär machen würde.
Die Admiralität, die aufgefordert worden war, einen Bericht über die Frage abzuliefern, ob die britische Marine nicht ganz einfach in die deutschen Häfen einlaufen und die deutschen Schiffe in einer Piratenaktion übernehmen könne, hatte geantwortet, dies würde eine sehr problematische Operation abgeben.
Insofern gab es Raum für diplomatische Manöver, und der Grundgedanke unserer diplomatischen Pläne war es nun, die Herausgabe der Schiffe mit den Nahrungsmittellieferungen zu verknüpfen. Auch hier war ein gewisser Bluff notwendig, da es wohl in unserem eigenen Interesse lag, Deutschland mit Lebensmitteln zu beliefern, ob es nun die Schiffe herausrückte oder nicht. Aber man würde vor der Weltöffentlichkeit besser dastehen - wir konnten dann nämlich ganz wahrheitsgemäß darauf hinweisen (was wir auch taten), daß wir - falls die Deutschen ihre Handelsflotte nicht zur Verfügung stellten - nur unter großen Schwierigkeiten genügend Schiffe fänden, um Deutschland mit Lebensmitteln zu versorgen. Denn Deutschland selbst hatte durch seine U-Boote die Tonnage der Handelsschiffahrt so stark reduziert, daß ganz Europa vom Hunger bedroht war ; wenn Deutschland ernährt werden wollte, dann war es nur angemessen, daß es uns die Schiffe in seinen Häfen überließ, damit wir mit ihnen sowohl die Deutschen wie ihre Nachbarn versorgen konnten. Schiffe gegen Nahrung, das war insofern ein vernünftiger Handel. Der Bluff war auch weit weniger riskant, weil Deutschland die Nahrungsmittel wohl dringender brauchte als wir die Schiffe.

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg-Verlages, Berlin

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