Vorgeblättert

Inka Bach: Glücksmarie. Teil 2

31.08.2004.
Stupor (stupere - starr sein); Zustand geistig-körperlicher Erstarrung bei Aufhebung aller Willensleistungen, meist ist auch der Denkvorgang eingeschränkt. Der Stupor ist eine Erscheinungsform verschiedener seelischer Grundstörungen und kommt z.B. bei Schreck oder Angst vor. Häufig bei Schizophrenen, besonders bei der Katatonie. Bei diesen Patienten ist die äußerliche sichtbare Erstarrung oft nur scheinbar, da sie entweder in einer vielfältigen, von Halluzinationen getragenen Traumwelt leben oder doch jedes Ereignis in ihrer Umgebung - reaktionslos - wahrnehmen! Da die Kranken völlig hilflos sind und zum Beispiel nicht essen, unter sich lassen usw., besteht eine absolute Indikation zur Einweisung, auch gegen den Willen uneinsichtiger Angehöriger!

Carola nimmt mich einmal mit und geht mit mir in die Kirche in der Straße neben der Klinik, in der sie arbeitet. Vom Gottesdienst hat sie nichts, schimpft nur auf die Kollekte. Ich merke es mir. Einige Tage später findet der Pfarrer Carola morgens auf den Stufen seiner Kirche, hört ihr zu, spricht dann auch mit mir. Der Pfarrer sagt, er möchte Carola retten. Ich zucke nur mit den Schultern, das war doch nur einer ihrer vielen Hilferufe, die zu gar nichts führen. Er sagt mir nichts Neues, aber dann doch. Er nennt, als er aufgibt, Carola stoisch. Sie füge sich in alles. In ihr Schicksal. Eine neue Sicht. Nicht schlecht. Fatalistisch, dumpf, stoisch ist die Preußin ihrem starken König ergeben. Herbert zwingt mich, dem Pfarrer ein Foto von uns drei schönen, lachenden Menschen in den Briefkasten zu stecken. Und die Episode mit dem Pfarrer ist beendet.
Carolas Kirchen sind die Läden. Aus den Fetzen raus! Die Schönhauser Allee auf der einen Seite hoch und auf der anderen wieder ?runter. Nicht mehr in Lumpen laufen müssen! Schals und Tücher, Röcke, Schuhe, Kosmetik, Mäntel. Wann tauchte das Kettchen an ihrem Fußgelenk auf? Gürtel, Handschuhe, Taschentücher. Half nichts. Blieb das ewige Aschenputtel, blieb benachteiligt, erniedrigt und beleidigt. Bei den Einkäufen bin ich ihr liebes Mädchen.
Bevor ich in die Schule komme, kauft mir Carola jeden Monat eine Kasperlepuppe, später, als ich schon lesen kann, jeden Monat ein Buch. Carola liest die Bücher, die sie mir schenkt, wir sprechen darüber, ein geheimnisvolles Band zwischen uns, das bleibt. Mein erstes Buch ist Die kleine Meerjungfrau, das Märchen von Hans Christian Andersen. Ich weine bittere Tränen, weil die kleine Meerjungfrau, ihrer schönen Flosse beraubt, mit artfremden Menschenfüßen unter Schmerzen wie auf Glasscherben laufen muß. Erst recht weine ich, weil sie, von ihrem Liebsten verkannt, verstoßen und als Betrügerin eingesperrt, im Kerker das fröhliche Hochzeitsfest des Mannes mitanhören muß, für den sie alles aufgegeben hat. Freude und Leid, das weiß ich, liegen dicht nebeneinander. Mit Beschimpfungen, auch Schlägen werde ich manchmal in mein Kinderzimmer verbannt, während Carola und Herbert nebenan mit ihren Gästen laut feiern.
Nachdem ich Tom Sawyer und Huckleberry Finn entdecke, beschließe ich wieder, abzuhauen und bereite akribisch in den Nächten meine Flucht vor, treibe mich auf dem Mississippi herum, bin abwechselnd Huck, der von seinem Vater verprügelt wird, und Tom, der sich inbrünstig vorstellt, wie Tante Polly nach seinem Selbstmord reumütig weinen würde.
Dann schenkt mir Carola zu Weihnachten Die schönsten Sagen des klassischen Altertums und die Griechen halten Einkehr. Mit ihnen gerate ich aufs offene Meer, bin abwechselnd Ares und Prometheus, Poseidon und Herakles. Segle als Odysseus mit dem Schiff auf?s offene Meer, um die schöne Helena zu befreien, und nun steht mir die Welt offen. Ich lande auf einsamen Inseln, steche in See, um Amerika zu entdecken oder um wissenschaftliche Forschungen zu betreiben wie Alexander von Humboldt. Ich bin jung oder alt, Mann oder Kind, ich bin Indianer, Neger, Soldat. Die Exkursionen beginnen immer am Meer und immer in anderen Häfen und an den unterschiedlichsten Stränden der Welt. Gestrandet bin ich manchmal auch.

Die Louisiana lag schon seit vierzehn Tagen im Hafen von Porto, weiß, mit Segeln und Wimpeln und Fahnen geschmückt. Endlich sollte sie in See stechen, Südamerika war ihr Ziel. Sie hatte Waffen, Munition und Schnaps geladen und war voller Menschen. Pablo konnte die Abfahrt nach Übersee kaum erwarten und winkte übermütig vom Deck aus seiner Mutter zu, einer strahlend schönen Frau im gelben Sommerkleid, die ihn weinend unter ihrem Strohhut mit den Augen suchte. Der alte Mann neben ihr, Pablos Großvater, hielt sie fest in seinen Armen und versuchte sie zu trösten. Jetzt hatten die beiden den Jungen entdeckt und winkten zurück. Pablo sprang vergnügt umher. Sein Vater arbeitete schon seit über einem Jahr auf der Rinderfarm in Brasilien, und Pablo sollte, nun zwölf Jahre alt, bei ihm Reiten und Schießen lernen. Plötzlich stürmte ein Mann mit schwarzem Schnurrbart auf die schöne Frau zu, richtete seinen Revolver auf sie. Ein Schuß fiel. Der Mann lief davon, zwei Matrosen rannten ihm nach, aber sie konnten ihn nicht mehr einholen. Längst war er in den engen Gassen von Porto verschwunden. Pablo wußte zunächst nicht, wen der Mann mit dem Schnurrbart getroffen hatte. Dann sah er Blut auf dem Kleid der schönen Frau, überall Blut. Pablos Mutter preßte die Hände vor den Leib, sie verlor das Bewußtsein und sank zu Boden. Der alte Mann versuchte sie zu stützen, aber er war viel zu schwach. Mehrere Fischer halfen ihm, trugen die Frau zur nächsten Bank. Pablo stand zu Tode erschrocken oben auf dem Deck, als wäre er da festgewachsen. Er starrte zu seiner Mutter herunter, mußte mitansehen, wie sie verblutete, wie sie starb und konnte nicht zu ihr. Nun erwachte er aus seiner Starre, schrie um Hilfe und versuchte, über die Reling zu klettern. Ein Schiffsoffizier eilte zu ihm, hielt ihn im letzten Moment fest, er wäre sonst in die Tiefe und zu Tode gestürzt, und versuchte ihn zu beruhigen. Pablo zeigte auf seine Mutter. Er wußte nicht, ob sie nicht schon längst tot war, er schrie und schrie, er wollte herunter vom Schiff, er wollte sie retten. Da schlich der Mann mit dem Schnurrbart wieder um die Ecke. Er kam zurück, um sich an Pablo zu rächen, denn auch der Sohn seines Rivalen sollte sterben. Pablo ahnte davon nichts, er eilte zwischen den Menschen auf dem Schiff hindurch zum Fallreep. Schon wurden die Anker eingezogen. Geh nicht zurück, Pablo, fahre nach Übersee, es ist zu gefährlich, bleib auf dem Schiff!
Der Schiffsoffizier hinderte Pablo energisch daran, von Bord zu springen, mit aller Macht hielt er ihn fest. Pablo schlug um sich, biß, kratzte, trat. Immer größer wurde der Abstand zwischen Pablo und seiner Mutter, und mit einem Mal wußte er, daß es nun vorbei war. Er glaubte noch, ihren letzten Atem zu spüren, als von ihrem Körper, aus den Falten ihres leuchtend gelben, mit Blut befleckten Kleides, eine Möwe emporstieg, die Flügel weit ausgebreitet, und dem Schiff folgte. Sie schien jemanden zu suchen, kreiste über den Köpfen der Passagiere, bis sie gefunden hatte, wen sie suchte. 
 

Ich fürchte mich nicht mehr. Sie sind von allen guten Geistern verlassen, aber ich fürchte mich nicht mehr. Nur, wie soll ich das loswerden, daß ich bei jeder schnellen Bewegung zusammenzucke, daß ich zusammenfahre, wenn einer die Hand nur hebt? Was erschreckt dich? Atme tief durch! Ich darf nicht vergessen zu atmen. Mein Ja und mein Nein verteidigen, der Kinder wegen, der Liebe zu einem Mann wegen. Angst. Immer. Auch wenn ich Angst nicht zeige. Ich kämpfe. Kontraphobisch. Kann ja nicht immerzu sagen, bitte, schlag mich nicht, wenn gar keiner da ist, der mich schlagen will, aber es ist ja trotzdem da, aber nie schlag mich, das nicht, bitte nicht schlagen. Bis Angst die Liebe umbringt. Oder Liebe die Angst. Ich bin eine Zumutung, wenn ich nervös werde, weil er schweigt oder müde ist oder nachdenklich. Warum guckst du so böse? Warum sagst du nichts? Wie behandelst du mich denn? - Ich behandle dich doch gar nicht. Ich bin kein Arzt! Es ist nicht zum Aushalten mit mir. Ich halte es mit niemandem aus. Ich halte es mit mir nicht aus. Undine geht, ein Leben wie unter Wasser, wo Wasser ist, kann man noch einmal leben, ich werde ja erst noch geboren.

Mit freundlicher Genehmigung des Transit-Verlages.

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