Vorgeblättert

Inka Bach: Glücksmarie. Teil 1

31.08.2004.
Schlaglichter

Auf der blauen Spielwiese

Den Löffel in der Zuckerdose, den leckt man nicht ab, mit dem holt man den Zucker nur und tunkt ihn nicht in die Tasse mit dem Kakao und rührt nicht um mit ihm und leckt ihn nicht ab, da kriegt man eine gescheuert von Onkel Herbert. Und das wiederholt sich, weil ich es nicht begreife. Schau mal, Onkel Herbert, wie gut ich das kann! Und plumps, landet der Löffel in der Tasse bei der Aufregung und Angst, will es doch diesmal richtig machen und nur nicht wieder eine gescheuert kriegen.
Onkel Herbert bleibt, auch wenn er nicht schlägt, ein Schläger. Ein Schläger im Winterschlaf. Es ist in der Luft.
Wir sind vor drei Monaten, seit ich zur Schule gehe, in ein Eckhaus gezogen, in der Nähe der Mauer, mit vielen Fenstern und viel Licht, in eine Wohnung im zweiten Stock. Ein Haus an der Ecke der Uppsalastraße. Uppsala, ein geheimnisvolles Wort, ein geheimnisvoller Ort. Ein Schrecken sitzt darin, mit dem macht man einen Satz nach vorn, upps, um gleich davon zu springen, ala, allen Übermut hänge ich an dieses Wort und hüpfe mit ihm fort und über die Meere. Auf der Erde soll es noch andere Meere als die Ostsee geben, heißt es, tiefere, dunklere, wildere, mit Wellen wie Hochhäuser so hoch, höher noch. Sprachlose Wesen darin, das ist gut. Wesen ohne böse Sätze, die stummen Fische und die singenden Nixen und Meeresfeen und Undine. Ein Summen und Rauschen, ein Rufen und Sehnen, aber keine Worte, nur Gesang.
Mein Zimmer liegt neben der Eingangstür, zur Straße hin, dort fährt die Straßenbahn um die Ecke. Hinter dem Kinderzimmer liegen zwei Wohnzimmer, in der Mitte vom ersten die blaue Spielwiese, daneben die Schallplattenanlage, der Fernseher kommt später. Das Wohnzimmer an der Ecke hat einen Wintergarten mit Gummibäumen, ein Bücherregal, dazwischen steht der Eßtisch. Sonntags frühstücken Tante Carola und Onkel Herbert nicht vor Zwölf; ich habe viel Zeit, den Tisch zu decken. Das Schlafzimmer befindet sich über dem HO-Laden in der Uppsalastraße, zum Hof hin eine Kammer, in die nicht mehr als eine Liege paßt, daneben das Bad und gegenüber von meinem Zimmer die Küche. Dort wird die ganze Wohnung geheizt mit einem kleinen Ofen, der frißt eimerweise Kohlen und spuckt noch mehr Asche aus. Wir haben jetzt schon ein Telefon im Flur.
Die Uppsalastraße führt zur Mauer, hinter der Mauer liegt der Wedding, der Westen. Bis zum Mauerbau frage ich manchmal noch Tante Carola: "Fahren wir wieder in das Land, wo es Bananen gibt?" Irgendwann ist Schluß mit den Bananen.
Tante Carola färbt Augenbrauen und Wimpern, zupft mit der Pinzette störende Härchen über den Augen und um die Brustwarzen, feilt die Nägel ihrer schmalen Hände rund, schiebt die Haut über dem Nagelbett zurück, bis die Halbmonde schön zum Vorschein kommen; sie steckt die dunkel gefärbten Haare hoch übers Haarteil, sammelt Haarnadeln, Lippenstifte und Schuhe mit Bleistiftabsätzen, legt sich unter die Höhensonne, trinkt zum Abführen Karlsbader Salz und fährt auf dem Rücken liegend mit den Beinen Rad.
Ich bringe Tante Carolas Nylonstrümpfe mit den Laufmaschen zur Reparatur und hole sie wieder ab. Ich putze ihre Schuhe und würge wie sie das bittere Karlsbader Salz hinunter, zehn Gläser am Tag. Schlank sein. Wir scheißen uns die Seele aus dem Leib. Zum Karlsbader Salz kommt nun noch Cognac, denn Tante Carola entdeckt eines Tages, wenn sie Cognac am Abend trinkt, hat sie am nächsten Morgen abgenommen. Den Cognac probiere ich heimlich. Tante Carola sagt, ich sei fett, faul und gefräßig.
Das Paket mit der Bettwäsche, das ich einmal im Monat von der Reinigung hole, wiegt schwerer als der Sack, über die Schulter geworfen, mit der schmutzigen Wäsche, den ich ein paar Tage vorher hingebracht habe. Die Arme zittern vom Tragen. Zehn Pfund Kartoffeln und auch noch zehn Club-Cola-Flaschen. Jeden Morgen liegt ein Zettel auf dem Küchentisch mit einer Liste von Aufträgen, die ich nach der Schule zu erledigen habe, bis Tante Carola aus der Klinik kommt. Staubwischen, Asche ?runterbringen, Kohlen holen, sechs Eimer, abwaschen, Teppichfransen kämmen, alle Klinken und das Messing polieren, Glastisch und Spiegel putzen, den Müll ?runterbringen, Pflanzen gießen, Blumen, die Onkel Herbert Tante Carola geschenkt hat und nun verwelkt sind, werfe ich in den Müll. Tante Carola bekommt einen Tobsuchtsanfall: "Du hast meine Blumen, meine schönen Blumen weggeworfen!" Und verhaut mich.
Onkel Herbert wartet schon an der Wohnungstür, als Tante Carola spät in der Nacht von einem Faschingsfest in der Klinik nach Haus kommt. Er empfängt sie mit Tritten. Sie liegt am Boden. Er schließt die Tür, dann tritt er weiter. Zerrt sie an den Haaren hoch. Knallt sie mit dem Kopf an die Wand, faßt ihr in die Haare, nimmt ihren Kopf und knallt ihn an die Wand. Sie hat kreisrunde, schwarze Ringe um die Augen, die heißen Brillenhämatom, da kennt sie sich aus. Und kommen, sagt sie, vom Schädelbasisbruch. Sie ruft in der Nacht nach ihrem Vater, am Tag nach mir. Tante Carola liegt auf der blauen Spielwiese im Wohnzimmer, auf der sie nachts auch vögeln; ich kann es hören, in meinem Zimmer nebenan. Jetzt vögeln sie nicht. Er kommt nicht nach Hause. Ich pflege Tante Carola. "Sag, ich sei die Treppe ?runtergefallen, Marie!" - "Natürlich, Mutti!" Sie hat mich immer wieder gebeten, sie Mutti zu nennen. Ich tue es nur selten. Tante Carola ist nicht meine Mutter. Ich kenne meine Mutter nicht. Sie ist schon gleich nach meiner Geburt verunglückt.
Der Gasgeruch ist immer da, er ist beim Kochen da und auf der Straße. Hat sich wieder wer umgebracht. Man muß nur den Gashahn aufdrehen und nicht den Feueranzünder an das ausströmende Gas halten. Das Gas zischt heraus, ich höre es strömen, ein Schleichen, Pfeifen, ein leiser Tod. Ich halte nicht durch, wieder nicht, reiße das Küchenfenster auf.
Man kann auch verbrennen. Tante Carola schläft unter der Höhensonne ein und erwacht krebsrot. Aber stirbt man, wenn man noch länger unter der Höhensonne liegt?
Man kann sich auch in der Badewanne ertränken, so wie beinahe der Opa, der beim Baden eingeschlafen ist und schon ganz blau war. Aber auch das schaffe ich nicht. Gehe lieber spazieren, würde am liebsten abhauen, stromere, scharwenzle, komme zu spät in den Hort oder spare ihn mir ganz. Nach der Schule brauche ich zwei Stunden für den Weg, den ich morgens in fünf Minuten schaffe, stehe an jeder Baustelle, gucke über Bauzäune und niemanden stört es, niemand stört mich. Komme in den Bummelstunden um die ganze Welt und zu mir. Onkel Herbert und Tante Carola werden erst spät am Abend zu Hause sein. Muß mich eben sputen beim Teppichfransenkämmen mit dem extra dafür vorgesehenen Fransenkamm, seid bereit! das hole ich schon auf!
Lade schnell noch zwei Freundinnen zum Taxifahren ein, dem Fahrer sage ich, wir müßten zur Frankfurter Allee und wieder zurück, unterwegs zähle ich erschrocken das Geld, 2,84 Mark der DDR, hoffentlich reicht das. Der Fahrer setzt uns wieder an der Uppsalastraße ab und will genau 2,84 Mark. Was für ein Glück in der Welt!
Wieder liegt Tante Carola tagelang auf der blauen Liege. Warum sie nur Spielwiese heißt? Nie spielen wir dort. Eine Wiese, die blau ist, taugt nicht zum Spielen. Sie ist das Lager für Tante Carola nach jeder Abtreibung, bis zur Antibabypille. Ein Dutzend kommt über die Jahre zusammen. Schließlich ist Onkel Herbert Gynäkologe und sorgt dafür, dagegen. Da wird nicht viel Federlesens gemacht. Tante Carola will kein Kind. Ich bin froh, wenn ich dich groß kriege. Aber geklagt und Vorwürfe gemacht und gesagt, was für ein Schwein! das hat sie schon. Er hat mich vergewaltigt, da wußte ich schon, es ist wieder passiert. Manchmal sagt sie Fehlgeburt.
Sie erzählt mir alles, denn ich bin ihre beste Freundin. Von der ersten Abtreibung an, auf dem Küchentisch in Köpenick, in der Studentenbude, die hat er noch selbst gemacht, erzählt mir ?s im Detail, mir wird ganz bang. Tante Carola retten! Und dann muß ich wieder die Beine breit machen.
Ich weiß nicht, ob alles stimmt, was sie mir erzählt hat. Es macht keinen Unterschied. Ich laufe innen Amok. Das wird so bleiben. Ich hätte gern eine Schwester, noch lieber einen Bruder. Aber Tante Carola läßt alle meine Geschwister abtreiben, sie verschwinden, eine ganze Fußballmannschaft mit Ersatzbank. Was ich mit der alles hätte anfangen können! Im Eimer. Onkel Herbert hat erzählt, daß die Frühchen in den Eimer kommen. Manchmal nennt er sie Frühchen, manchmal Föten, im Mülleimer, meine Halbbrüder, ich darf nicht vergessen, den Müll ?runterzubringen. Meine toten Halbbrüder werden zu Raben, die fliegen davon und leben auf Bäumen, irgendwann werden sie kommen und mich mitnehmen.

Mit elf Jahren entschied Marie, daß sie schreiben wird, mit dem Wissen, daß sie viele Sätze nicht schreiben darf. Das prägte ihren Stil. Das Malen beim Schreiben vermeiden. Kein Wort zu viel, keine Beliebigkeiten. Und das Warten darauf, daß Carola und Herbert irgendwann sterben würden. Vorher würde sie nicht beginnen können. Wen würdest du retten, wenn du, am Ufer stehend, ihn ersaufen sähest? Und wer würde dich retten? Würde dich deine Tante retten? Aber du sie. Dein Onkel würde dich vielleicht retten. Und du ihn?
"Es ist schade", sagt Tante Carola, "um jeden Satz, den du nicht schreibst." 

Onkel Herbert und Tante Carola haben inzwischen die Hoffnung aufgegeben, daß ich sie doch noch eines Tages Mutti und Vati nennen könnte. So bitten sie mich, wenigstens dieses alberne Tante und Onkel zu lassen. Ich mag sie aber nicht vertraulich mit ihren Vornamen ansprechen, also lasse ich ab sofort jede Anrede weg.
Ich bin nicht nur Carolas beste Freundin, ich bin ihre einzige Freundin. Für gemeinsame Freunde sorgt allein Herbert, Ehepaare, mit denen feiert und trinkt man. Eigene Freundinnen hat er Carola verboten. Er verbrennt die Briefe und Fotos aus ihrem früheren Leben. Dafür hat Herbert nun viele Freundinnen, wechselnde. Und gute Freunde, so gute Freunde sind sie, daß sie sich untereinander die Freundinnen weiterreichen. Carola muß nach der Abtreibung wieder ins Krankenhaus wegen einer Eierstockentzündung. In der nächsten Zeit spaziert fast jeden Tag eine andere hübsche Frau bei uns in der Wohnung herum. Herbert stellt sie mir der Reihe nach vor. Sie sehen alle ein bißchen Carola ähnlich. Die können ihr aber nicht das Wasser reichen, sagt eine Stimme in mir, Carolas Stimme. Die Frauen sind jünger als sie, Studentinnen, Doktorandinnen, und begeistert. Bevor Carola zurückkommt, verrate ich Herbert, welche mir am besten gefallen hat. "Die, mit der wir den Ausflug gemacht haben." - "Ach ja?" Er überlegt und nickt. Jetzt bin ich zur Abwechslung auch seine Beraterin. Für Carola beste Freundin, Kameradin, Komplizin im Leid und im Haß, für Herbert Kumpel. Ich tue mein Bestes. Für seine grünen Augen, für ihre braunen. Damit sie mich mal anschauen. Man soll seine Eltern achten und ehren, auch seine Stiefeltern. Und wenn sie Hilfe brauchen und Beistand und Rat, dann können sie sich auf mich verlassen. Es ist umsonst. Carola läßt sich nicht scheiden, Herbert heiratet keine seiner Affären.
Der Amok in mir läuft weiter. Wir lernen bald Schießen in der Schule bei der paramilitärischen Ausbildung. Ich bin gut im Schießen, kräftig genug, um das Gewehr ruhig zu halten, ich mag das scharfe, genaue Zielen, den wilden Amok auf einen Punkt bringen. Würde gern schreien. Um Hilfe, um Luft zu kriegen, um einen Menschen herbeizurufen, die Polizei, die Kirche, das Jüngste Gericht, einen Erwachsenen, der mich mal in den Arm nimmt. Habe alle Schreie verschluckt. Ich schreie nicht, ich schreibe, manchmal singe ich. Pfeifen kann ich nicht.
Ich habe einen im Nacken, der schlägt, ich muß ihn im Auge behalten. Prügel für eine Drei. Keine Reaktion bei einer Vier. Ich fälsche Carolas Unterschrift; unter der Arbeit steht eine Zwei minus. Die Sache fliegt auf, weil ich radiert habe. Herbert, großzügig bei Kleinigkeiten, sagt: "Warum hast du nicht alles abgestritten? Wir hätten dann schon gesagt, daß ich unterschrieben habe. Allerdings hätte ich dir hinterher einen Arschtritt gegeben." Es bricht aus mir heraus. Ich werde auffällig. "Marie schlägt ihre Mitschüler." Dabei erziehe ich sie nur, sie machen so viel falsch, die Rotzgören. Carola und Herbert nehmen den Eintrag im Klassenbuch gelassen zur Kenntnis, anerkennend: "Setz dich nur durch!" Herbert sagt: "Kindern muß man früh zeigen, daß das Leben hart ist, dann kommen sie durch." Darum meint Carola wohl auch, mir ginge es zu gut, wenn ich in der Ecke hocke und mit niemandem rede, noch nicht einmal mit Carola, meiner besten Freundin, die sich doch nicht scheiden lassen will, obwohl sie es mir versprochen hat und jetzt sagt: "Dir geht es zu gut." Sie sagt das nur, weil sie Angst hat, daß ich nicht durchkomme durchs Leben, ich weiß aber, wie ich durchkomme: Ich werde niemals heiraten. Ich habe mir längst das Schreien abgewöhnt, staple Steine in mir. Das Herz ist ein Eisklumpen, der Kopf tut weh von Tränen, die ich nicht weine, hinter der Stirn stecken sie fest, auch sie gefroren, die Stirn und die Tränen. Türmen sich auf, Eisberge, drükken von oben, drücken auf Schultern und Hals. Ich spüre die Last bis in die Finger, kann keine Faust machen, die Knöchel tun weh, ein Scherbenhaufen. Zwischendurch mal ein Aufbäumen, ein kurzer Ausbruch, bevor ich wieder starr in der Ecke sitze. Carola hat dafür zwei Sätze, ihre Lieblingssätze für meine Ausbrüche. Reiß dich zusammen! Und: Du bist wie dein Onkel.

Teil 2
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