Vorgeblättert

Hemley Boum: Gesang für die Verlorenen - Leseprobe Teil 3

09.08.2018.
Teil 3

     War das nun eine Ablehnung? Schwester Marie-Bernard überhörte die Spitze bezüglich der Religion. Sie hatte vom Ko'ô reden hören und kannte die Freiheit dieser Frauen. Aber ansonsten? Wurde sie schlicht und einfach fortgeschickt? Sie entschied sich, nicht darauf zu beharren.
     "Wenn es so ist, kannst du mir vielleicht deine Freundschaft gewähren, und wärst du bereit, mir dein Wissen zu vermitteln?", erkundigte sie sich.
     "Ich werde dich so viel lehren, wie du mich lehrst", antwortete Esta ihr. "Was die Freundschaft angeht, so kann man sie nicht verordnen. Wenn wir Freundinnen werden müssen, werden wir es sein."
     Die Nonne ging mit dem Eindruck fort, dass sie durchgeschleudert worden war. Die Unterredung hatte sie verstört. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass die Dinge diese Wendung nehmen würden. Die Bassa konnten sich nur schwer mit der Präsenz von Europäern in ihrem Land abfinden, Neuankömmlinge wurden gewarnt. Obwohl sie aber so unter dem kolonialen Joch gelitten hatten, leisteten sie selten offenen Widerstand. Sie gaben sich den Anschein der Anerkennung, sogar der Unterwerfung, wie die Weißen sie ihnen abverlangten. Doch jeder wusste, woran er sich zu halten hatte. Die traditionellen Organisationen wurden von der Kolonialverwaltung und der Kirche massiv bekämpft, verunglimpft und geschmäht. Jede Predigt, jedes Mahnwort war für den Priester eine Gelegenheit, die Dorf bevölkerung vor den Hexern und Dieben, den Feinden des Fortschritts und des einzigen wahren Gottes zu warnen, als die die überlieferten Garanten sozialer Harmonie galten, und sie dazu ermutigen, deren Repräsentanten zu denunzieren. Trotzdem behielten sie in aller Heimlichkeit eine beachtliche Macht über die Menschen. Esta, Tochter des Löwen, lächelte die Schwester an. Ihre Kranken nannten sie "die Löwin", jetzt wusste sie, warum. Die Frau zeigte nicht die geringste Andeutung von Unterwerfung. Sie hatte mit ihr auf Augenhöhe gesprochen, weder ihre Nonnentracht noch ihre weiße Haut hatten sie beeindruckt, wie es schien. Sie hingegen war aus der Fassung gebracht worden. Keiner der Afrikaner, die sie kennengelernt hatte, äußerte offen sein Misstrauen gegenüber den christlichen Religionen. Diese Menschen, hatte sie festgestellt, waren tiefreligiös, das Heilige und die Spiritualität prägten das gesamte Alltagshandeln. Die Bassa stellten keine Ausnahme von der Regel dar. Nur der Überlegenheitsanspruch des neuen Glaubens erschien ihnen unbegreiflich. Warum also sprach man von Hexerei, von Teufeleien, wenn es um ihre überlieferten Bräuche ging, und zwang ihnen einen von einer Jungfrau geborenen Gott auf ? War nicht jeder Beistand aus dem Jenseits willkommen, wenn er das Leben auf dieser Erde leichter machte? Trotzdem, angesichts der wenigen Möglichkeiten, die ihnen geblieben waren, nahmen sie die christlichen Religionen an, wie sie es mit allem handhabten, das ihnen von den Fremden aufgezwungen worden war. Und jeder praktizierte auf seine Weise im Geheimen weiterhin die Riten seines traditionellen Glaubens. Das erschütterte sie nicht, aber sie sprach nicht darüber. Auch sie hatte eine Rolle zu erfüllen. Schwester Marie-Bernard stammte aus einer Familie gläubiger Katholiken und hatte, getragen von ihrem Glauben und fasziniert von der Schönheit der christlichen Botschaft, mit achtzehn Jahren den Schleier genommen. Wenn das Verhalten ihrer Mitschwestern sie auch manchmal vor den Kopf stieß, auch wenn sie das abgekartete Spiel zwischen der religiösen Botschaft, dem brutalen Benehmen ihrer Landsleute und den vorrangigen ökonomischen Zwängen beklagte, blieb sie doch davon überzeugt, sie habe das einzige Mittel für eine alleinstehende Frau gefunden, ihren Mitmenschen zu helfen, über alle Grenzen hinweg, und die herrliche Botschaft Christi zu verbreiten. Nachdem sie ihre Prüfung als Krankenschwester abgelegt hatte, verpflichtete sie sich für den Dienst in Afrika. In der Zeit zwischen den beiden Kriegen zuerst im französischen Sudan, dann in Fort-Lamy, und als Erzbischof Bonnet, der Bischof von Duala, den Schwestern Unserer Lieben Frau vom Heiligen Herzen die Erlaubnis erteilte, in Kamerun tätig zu werden, bewarb sie sich. Die Schwestern wollten in Sangmélima ein Internat für junge Mädchen eröffnen, im Süden des Landes. Sie bestiegen in Duala den Zug und machten in Eseka Station, in der Absicht, ihre Reise am nächsten Tag fortzusetzen. Der neuen katholischen Mission fehlte eine Krankenstation. Unter dem Eindruck des gewaltigen Urwalds, der die Dörfer einschloss, entschied sich Schwester Marie-Bernard, dort zu bleiben und der Unwirtlichkeit dieser als schwierig bekannten Region ihren Glauben entgegenzusetzen.
     Esta hielt Wort. Die beiden Frauen arbeiteten unter größter Geheimhaltung zusammen. An jenem Abend fürchtete Schwester Marie-Bernard das Schlimmste, als sie ihre Freundin in deren Küche vorfand. Der Rücken war über den Kochtopf gebeugt, das Gesicht ernst, als trage sie das gesamte Elend ihrer düsteren Welt auf den Schultern. Esta fasste sie nicht mit Samthandschuhen an, sie schleuderte ihr die Neuigkeit wie einen Faustschlag mitten ins Gesicht.
     "Ich habe wieder eins … das Kind hat eine helle Haut." "Oh, Heilige Jungfrau", rief Schwester Marie-Bernard und bekreuzigte sich. "Helle Haut, wie?", fragte sie nach, wenngleich sie die Antwort kannte.
     "Wie ich", antwortete Esta einfach. "Die Mutter ist erst dreizehn Jahre alt, der Körper eines Kindes, fast noch nicht in der Pubertät, sie war Hausmädchen bei Le Gall, wie die anderen."
     "Ist das Kind …?"
     "Tot, ja. Keine dieser Schwangerschaften geht bis zum Ende, ihre kindlichen Körper können das Baby nicht austragen, und dann vermute ich, dass die Mädchen abtreibende Pflanzen nehmen, sicherlich unter Mithilfe ihrer Mütter, kann ich sie dafür tadeln? Wir müssen am Waldesrand ein weiteres kleines Grab graben. Drei Gräber in weniger als einem Jahr. Ich bin es so leid, Babys zu beerdigen."
     Schwester Marie-Bernard umklammerte mit der ganzen Kraft ihrer Verzweiflung den Rosenkranz. Ihre tragische Komplizenschaft hatte begonnen, als ein Mädchen aus dem Dorf in der Krankenstation vorzeitig eine Totgeburt erlitt. Die Kleine war ungefähr fünfzehn Jahre alt, hatte immer noch diesen kindlichen Körper, als ob ihr Inneres sich weigerte zu wachsen und mit aller Kraft ein Frausein zurückwies, das ihr Schmerzen zufügen würde. Eine Schwangerschaft von sechs Monaten, die die Mutter zu verbergen suchte, indem sie Tücher eng um den vorstehenden Bauch ihrer Tochter knotete, damit die Schande unsichtbar blieb, endete mit einer Fehlgeburt. Sie hatte Esta mitten in der Nacht kommen lassen. Als die Mutter die Priesterin sah, warf sie sich ihr in die Arme und weinte. "Er hat mein Kind verdorben", schluchzte sie, "er hat meine kleine Tochter zerstört …" Esta wusste genug, sie drückte die Frau an sich, vermengte ihre Tränen mit den ihren. "Er wird dafür bezahlen, meine Schwester, dieser Mann wird bezahlen, ich verspreche es dir." Esta und Schwester Marie-Bernard versorgten die junge Mutter. Die Schwester war zu Tränen gerührt, als sie sah, mit welcher Zärtlichkeit die Priesterin das Mädchen in die Arme nahm, sie sanft wiegte, wie sich ihrer Kehle ein trauriger Singsang entrang, dessen Worte sie nicht verstand, der ihr aber Schauer über den Rücken jagte. Die Mutter weigerte sich, den Fötus mitzunehmen. "Nein, nein, gib ihn mir nicht, er gehört nicht zu uns, er stammt vom Teufel persönlich, ich will ihn nicht sehen, ich will ihn nicht anfassen. Wie geht es meiner Tochter? Kann sie noch Kinder bekommen? Können wir sie guten Gewissens verheiraten … Lass mich sie nach Hause bringen, der Tag bricht an, niemand darf wissen, was geschehen ist. Versprich mir, dass du unser Geheimnis bewahrst, niemand darf etwas erfahren …" Abgerissene Worte, Sätze der Hoffnungslosigkeit, sie legte ihr Tuch um die Schultern ihrer Tochter, wie um sie zu wärmen, wie um sie zu beschützen, und sie entfernten sich in aller Hast. Esta sang immer noch, sie hielt erst inne, als sie die hilflose Miene von Schwester
Marie-Bernard sah. Sie erwiderte ihren Blick.
     "Vertrau mir das Kind an und sorge dich nicht, ich kümmere mich darum."
     "Was willst du tun?", fragte die andere beunruhigt.
     Widerwillig erinnerte sie sich an die finstere Reputation der Priesterinnen des Ko'ô, die der Priester ihrer Kirche in seinen Predigten unablässig brandmarkte. Kindliche Ängste stiegen in ihrer Erinnerung auf, Bilder von Hexen, die am Sabbat einen Fötus schändeten. Esta antwortete nicht, sie wickelte den kleinen Körper in ein Tuch und ging singend fort. "Ich komme mir dir", sagte Schwester Marie-Bernard und heftete sich an ihre Fersen. Es schien, als würde Esta sie nicht sehen, nicht hören. Ihre Schritte wurden nicht langsamer. Die Schwester folgte ihr in den Wald bis zum Fuß eines riesigen Baobabs. Behutsam legte Esta ihre teure Last an der Baumwurzel auf ein Kissen aus Moos und holte aus einem nahen Gebüsch eine Hacke. Sie begann zu graben, ihre Klage nahm einen ernsteren Ton an. Obwohl die Anstrengung sie erschöpfte, hörte sie nicht auf zu singen. Als sie abschätzte, dass das Loch tief genug war, nahm sie das Tuch fort und legte den kleinen Körper, nackt wie er war, in die Erde.
     "Du bist schon heimgekehrt, kleines Lichtwesen, welch ein Glück! Du musst nicht unter der Dummheit und Grausamkeit der Menschen leiden. Geh, sag ihnen dort drüben, dass wir Hilfe benötigen. Wir leben in schwerer Zeit, wir können unsere geschundenen Töchter nicht mehr schützen, wir begraben unsere Kinder, bevor sie noch ihren ersten Schrei ausstoßen konnten. Sag ihnen, dass unsere Tränen die Erde tränken und die Flüsse anschwellen lassen. Erinnere die Vorfahren an den Pakt, der uns verbindet. Wir brauchen einen Retter, der uns wieder Hoffnung gibt, uns von unserer Last befreit. Setz dich bei unseren Vätern für uns ein. Vergiss nicht deine Mutter, komm zurück, wenn du es für sie wünschst, oder schicke ihr ein anderes Kind, das sie lieben kann. Geh, geh jetzt, kleines Lichtwesen …"
     Schwester Marie-Bernard schluchzte laut auf, von ihrer Trauer überwältigt, konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie hatte so viel Elend auf der afrikanischen Erde gesehen, sie glaubte, ihre Nähe zu diesem rauen, vielschichtigen Kontinent habe sie abgehärtet, doch die kaum zu ertragende Traurigkeit in der Stimme der Priesterin, das Bild bitteren Unrechts ließen ihre Überzeugungen ins Wanken geraten. Fünf kleine Gräber, ähnlich jenem, das Esta soeben ausgehoben hatte, umgaben den alten Baum. Die Nonne fiel auf die Knie, nahm ihren Rosenkranz in die Hand und stimmte das Ave-Maria an. Der kehlige Gesang und die hingehauchten Worte Estas erinnerten an eine verlorene Welt, die nichts und niemand zurückbringen würde. Das untröstliche Weinen eines gestürzten Engels, für immer aus Eden verbannt. Der weltliche Gesang und das kirchliche Gebet vereinten, umschlangen und vermischten sich, um die Schatten zu verscheuchen.
     Der Tag war längst angebrochen, als jede sich heimwärts wandte. Schwester Marie-Bernard wusste, dass sie nicht mehr zurückkonnte. Sie beweinte noch lange die junge Mutter, die toten Kinder und die Totengräberin, die Wächterin über Gräber und Schmerzen ihrer Gemeinschaft.

Mit freundlicher Genehmigung des Peter Hammer Verlags.

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