Vorgeblättert

Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880 - 1945, Vorabdruck, Teil 1

15.02.2017.
(Introseite)

Vertreiben und Deportieren 1938-1945

Evian: Wohin mit den Juden?

Auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt tagte vom 6. bis zum 15. Juli 1938 die internationale Flüchtlingskonferenz im französischen Évian-les-Bains. Vorbereitet hatten sie US-amerikanische und britische Diplomaten. Einberufen wurde sie zur Verhandlung der von Deutschland staatsterroristisch erzwungenen Frage, wie rund 500 000 deutschen und österreichischen Juden die Emigration ermöglicht werden könne. Die Vorzeichen ermutigten nicht. In ebendiesen Monaten erließen viele der 32 teilnehmenden Staaten Maßregeln, um den Zustrom rassisch Verfolgter zu mindern oder zu blockieren: die Niederlande, die Schweiz, Südafrika und fast alle Staaten Lateinamerikas. Sie reagierten auf die Massenflucht österreichischer Juden nach dem Anschluss an Deutschland und darauf, dass deutsche Behörden die Unerwünschten mittlerweile ohne jedes Geld über die Grenzen oder auf Auswandererschiffe trieben.

Im Vergleich zu der 1938 einsetzenden Vertreibungspolitik war die Zwangsauswanderung der in Deutschland lebenden Juden bis Ende 1937 noch verhältnismäßig berechenbar verlaufen. Von den 500 000 Juden waren bis dahin zirka 135 000 dem steigenden Druck gewichen, gefl ohen oder äußerlich regulär ausgewandert: Davon waren 30 000 in andere europäische Länder gefl üchtet, nach Nordamerika 15 000, nach Südamerika 21 000, nach Südafrika 4000, nach Palästina 43 000, in die übrige Welt 2000, darüber hinaus waren ungefähr 20 000 Juden ausländischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland in ihre osteuropäischen Herkunftsstaaten zurückgekehrt, die meisten davon nach Polen. 1 Im Folgenden kommt es nicht darauf an, die Halbheiten zu bewerten, die in Évian zutage traten. Letztlich scheiterte Roosevelts vernünftige und humane Absicht an der Hinterhältigkeit Hitlerdeutschlands. Hier soll anhand der Vorbehalte und Sonderwünsche, die der Konferenz vorangingen, sie begleiteten und ihr folgten, ein Bild davon gegeben werden, wie die Lage und Zukunft der etwa vier Millionen ost- und mitteleuropäischen Juden außerhalb des inzwischen Großdeutschen Reichs (und außerhalb der Sowjetunion) gesehen wurden.

Spitzenbeamte im britischen Außenministerium, die mit der Vorbereitung betraut waren, befürchteten, die Konferenz werde die Begierde in anderen Staaten bestärken, auch die dortigen Juden loszuwerden. Gleichgültig, ob in Évian viel oder wenig erreicht werde, so hieß es im Mai 1938 in einer Vorlage für Außenminister Lord Halifax, "die Frage der Juden in Zentraleuropa wird über kurz oder lang aufgeworfen werden und kann nur durch ein umfassendes und vielleicht radikales Vorgehen gelöst werden". Die Konferenz könne Polen, Rumänien und Ungarn anreizen, die jeweiligen jüdischen Minderheiten noch stärker zu bedrängen, und "eine Bevölkerungsbewegung von möglicherweise einigen Millionen Menschen" auslösen. 2

Als die USA Rumänien förmlich zur Teilnahme einluden, reagierte Außenminister Nicolae Petrescu-Comnen hocherfreut. Er hoffe sehr, teilte er dem US-Gesandten mit, die Initiative "werde auf Rumänien ausgedehnt". Zu den letzten Akten der Regierung Goga-Cuza gehörte ein Interview mit dem Völkischen Beobachter, das am 9. Februar 1938 erschien. Darin erklärte Cuza, wie er sich die strategische Allianz mit Hitlerdeutschland dachte: "Wir müssen die westlichen Demokratien vor die Wahl stellen, entweder neue Gebiete für die jüdische Einwanderung zu erschließen oder aber eine Gewaltlösung in Kauf zu nehmen. Wir halten das Volk nur mit Mühe vor Pogromen zurück. Man möge aber in Paris und London wissen, dass wir das nicht immer tun können. Die Entscheidung muss rasch fallen." In gemäßigter Tonlage, jedoch demselben Ziel verpflichtet, verfasste die nächste rumänische Regierung zehn Monate später ein Memorandum, das sie am 5. Dezember 1938 in London überreichte. Darin verlangte sie die Errichtung eines jüdischen Staates in Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen, gefördert von "einer entschlossenen Aktion" der Westmächte, "um die Judenfrage schnell und von Grund auf zu lösen". 3

Am 20. September 1938 kam es in Berlin zu einem bemerkenswert einvernehmlichen Gespräch zwischen Polens Botschaft er Józef Lipski und Adolf Hitler. In jovialer Laune regte letzterer an, "das jüdische Problem durch Auswanderung in die Kolonien zu lösen auf der Grundlage einer Übereinkunft mit Polen, Ungarn und möglicherweise auch Rumänien". Wie Lipski antwortete, übermittelte er seinem Außenminister Józef Beck: "In diesem Punkt, so erklärte ich, würden wir ihm (Hitler) ein großartiges Denkmal in Warschau errichten, falls er eine solche Lösung fände." 4 Polen pfl egte in jenen Wochen freundliche Kontakte zu Deutschland, weil Hitler es im Zuge der bevorstehenden Annexion des Sudetenlandes mit einem territorialen Happen bedenken wollte und bald bedachte - mit dem verkehrstechnisch wichtigen tschechischen Grenzstädtchen Český Těšín (Teschen) und dem umliegenden Olsagebiet. Auch Polen kreiste gleich einem Aasgeier über dem tschechischen Leichnam, kommentierte Winston Churchill. 5

Bald darauf herrschte wieder Frost zwischen Berlin und Warschau. Hitler bereitete den Krieg gegen Polen vor. Deswegen verhandelte Außenminister Beck am 5. und 6. April 1939 in London. Mittlerweile hatte die Reichsregierung 17 000 in Deutschland lebende Juden polnischer Staatsbürgerschaft über die Ostgrenze in ihre "Heimat" abgeschoben, das Novemberpogrom begangen, die Tschechoslowakei zerschlagen, die Rückgabe der Stadt Memel (Klaipėda) von Litauen erzwungen und an Ungarn einen beachtlichen Teil der slowakischen Beute abgetreten. Im Kommuniqué zu Becks Besuch kündigte die britische Regierung an, alsbald einen Beistandspakt mit Polen zu schließen. Obwohl momentan nicht vorrangig, nahm sie in die öffentliche Erklärung Becks Anregung auf, "dass alle internationalen Bemühungen zur Regelung des jüdischen Problems auch die Juden Polens einbeziehen sollten". Auf Bitten Bukarests hatte Beck in London "auf ein ähnliches Problem in Rumänien" hingewiesen, und die britische Seite versicherte, sie erkenne die fraglichen Schwierigkeiten voll an und werde "jederzeit mit der polnischen und rumänischen Regierung Vorschläge für eine Lösung (...) prüfen". 6 Kurz nach dem Novemberpogrom in Deutschland und Österreich hatten US-amerikanische Diplomaten solche Ansinnen noch zurückgewiesen, und zwar auf britischen Wunsch. Prompt intervenierte der polnische Botschaft er in Washington, Jerzy Potocki. Er empfand es als ungerecht, "dass die USA ihr Augenmerk allein auf die Flüchtlinge aus Deutschland richteten, die dort fürchterlich verfolgt würden", während
das Problem Polens mit mehr als drei Millionen Juden einfach ignoriert werde: "Diese möchte die polnische Regierung zwar loswerden, sie werden jedoch nicht misshandelt." Einen Tag später sprach Potocki abermals beim Leiter der Europa-Abteilung des State Departements vor, diesmal telefonisch, und drohte, falls Polen hinsichtlich der Auswanderung von Juden nicht mit Deutschland gleichgestellt werde, "könne es zu vielen antisemitischen Gewaltausbrüchen kommen". 7

Zurück zu den Londoner Diplomaten, die im Frühjahr 1938 nach dem verhandelbaren Minimum suchten. Sie kannten die in Polen, Rumänien und Ungarn virulenten Absichten und mussten sie aus der Konferenz heraushalten. Keine leichte Aufgabe. Zudem verhallte ihr an die Staaten und Kolonien der britischen Krone gerichteter Appell, sich konstruktiv am Évian-Prozess zu beteiligen. Aus den Kolonien kamen abweisende oder überhaupt keine Antworten. Anfangs wollte nur die australische Regierung einen Vertreter nach Évian entsenden und erklärte sich vorab bereit, 500 jüdische Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Neuseeland, Kanada und Südafrika lehnten ab. Der kanadische Premierminister teilte mit, es habe keinen Zweck, "ein internationales Problem zu lösen, indem man damit ein internes schaffe", und fand, die USA als negatives Beispiel vor Augen, er müsse den kanadischen Teil des Kontinents "von Unruhen und von einer zu großen Beimischung fremd rassigen Blutes" freihalten. Die Regierung Südafrikas ließ in London wissen, "es gebe bereits genug Juden im Lande", zumal man während des bevorstehenden Wahlkampfs nichts unternehmen wolle, was deren weitere Zuwanderung erleichtere.

Während der Konferenz berührte lediglich der australische Delegierte, Handelsminister Thomas W. White, den wohl in vielen Köpfen mitschwingenden Hintergedanken. "Da wir in Australien kein Rassenproblem haben", sagte er, "wird jedermann verstehen, dass wir uns nicht danach drängen, eines zu importieren." Als hernach im britischen Kabinett über die Pflichten gesprochen wurde, die aus der Schlussresolution von Évian für das Vereinigte Königreich folgen könnten, gab Innen minister Samuel Hoare zu Protokoll, er werde gewiss sein Bestes tun, doch "wachse im Land ein beachtliches Unbehagen gegen die Aufnahme von Juden". 8

Eine geordnete Auswanderung der Juden setzte eine gewisse Kooperationsbereitschaft der deutschen Verantwortlichen voraus. Realistisch erkannten die britischen Diplomaten, dass diesen nur bedingt an der massenhaft en Emigration gelegen war, weil sie zwei gegenläufi ge Ziele verfolgten: die Juden einesteils mittellos über die Grenzen abzuschieben und sie anderenteils als Faustpfand zu behalten, um die westlichen Demokratien zu erpressen. Am 26. April 1938 zwang Hermann Göring die Nichtarier seines Reichs, ihre Vermögen bei den Finanzämtern anzumelden. Über das Motiv herrschte im Londoner Außenministerium vollkommene Klarheit. Die Maßnahme verhelfe der deutschen Regierung dazu, "sich des jüdischen Vermögens zu bemächtigen", selbst dann, wenn die Enteigneten im Land blieben. Völlig mitleidlos geworden, sei diese Regierung nun bereit, "die Juden in Deutschland leiden, hungern und aussterben zu lassen"; humanitäre Einwände würden in Berlin nicht fruchten. 9

Neben den unmittelbaren Schwierigkeiten begrenzte die weltpolitische Lage die Aussichten. Seit 1936 brachen im britischen Mandatsgebiet Palästina immer wieder arabische Aufstände gegen den Zuzug geflüchteter Juden aus. Um weiteren Unruhen vorzubeugen, reagierte London nachgiebig und drosselte die Einwanderung. (Seit 1920 hatten sich 300 000 Juden in Palästina niedergelassen, seit 1933 rund 40 000 aus Deutschland.) Von Deutschland, Italien und der Sowjetunion militärisch befeuert, tobte in Spanien der Bürgerkrieg. Daraus konnten Gefahren für die freie Fahrt britischer Handels- und Kriegsschiffe durch die Meerenge von Gibraltar erwachsen. Italien besaß die Kolonien Eritrea und Somaliland und vergrößerte diese seit 1935 im Krieg gegen Äthiopien. 1937 begann Mussolini, Libyen zu erobern; japanische Truppen landeten in China.

Um den für Großbritannien wirtschaft lich und strategisch so wichtigen Suezkanal zu sichern, musste mit den arabischen Staaten und der muslimischen Welt ein halbwegs tragfähiges Auskommen gefunden und deren "Loyalität erkauft werden", wie Fritz Kieffer darlegt, "mit Geld und mit dem Verzicht auf die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina". Britische Militärs und viele verantwortliche Kolonialbeamte erachteten die geostrategischen Gesichtspunkte als vorrangig. Aus ihrer Sicht durften sie keinesfalls "externen Erwägungen" geopfert werden, die sich "aus der Verfolgung der Juden in Deutschland, Österreich oder sonstwo" ergeben könnten. Im britischen Weltreich lebten damals einige hunderttausend Juden, jedoch 80 Millionen Muslime.


Teil 2: Die Konferenz, ein Anfang ohne Ende.