Vorgeblättert

Claus Christian Malzahn: Die Signatur des Krieges. Teil 1

03.03.2005.
Das Trauerspiel von Afghanistan


Im April des Jahres 1839 rückte die in Hindustan stationierte britische "Army of the Indus" mit etwa 16000 Soldaten vom heutigen Pakistan auf südafghanisches Gebiet vor. Die Armee, die zu drei Vierteln aus indischen Soldaten bestand, wurde vom Staatssekretär des britisch-indischen Generalgouverneurs, dem Sprachwissenschaftler William MacNaghten, aus der befestigten Stadt Quetta geführt. Das Ziel des Marsches bestand darin, die auf 6000 Fuß Höhe liegende Hauptstadt Kabul möglichst schnell zu erreichen und zu besetzen, bevor die Russen es tun würden. Dann wollte London eine Marionette installieren, in diesem Fall den einige Zeit zuvor vom Thron geputschten Schah Schudjah, der nun aus dem indischen Exil in seine Heimat zurückkehren sollte. Von der britischen Insel aus gesehen war Afghanistan ein weißer Fleck auf der Landkarte, den zwei Großmächte mit ihren Farben bekleckern wollten. Es ging einzig um die Frage, wer Afghanistan, den nationalen Malkasten im Gepäck, am schnellsten erreichte.
MacNaghten, ein Mann mit flinken Augen und spitzer Nase, der auch fernab der Heimat zu Pferde nicht auf Frack und Zylinder verzichten wollte, wurde von etwa 38000 Mann begleitet. Es marschierten Köche, Stallknechte, Barbiere, Schuhputzer, Wasserträger, Teekocher, Servierer, Schneider, Waffenschmiede, Kameltreiber, Ziegenhirten, Flintenputzer, Schächter und Schlachter, Pfadfinder und Pillendreher, Boten und Bettler dem Sonnenaufgang entgegen.

Einem gewöhnlichen englischen Soldaten standen auf Feldzügen bis zu vier Lakaien zu, Offiziere verfügten über bis zu einem Dutzend Diener. Indische Uniformträger, sogenannte Sepoys, hatten immerhin auf zwei Untertanen Anspruch. Die keineswegs nur aufs Militärische beschränkten Utensilien der Kämpfer hatte man auf den Rücken von ungefähr 30000 Kamelen verstaut, von denen etwa 5000 auf der Reise zusammenbrachen und am Wegesrand verendeten. Die Kamele waren zwar die Hitze und Trockenheit der indischen Ebenen gewohnt, im bergigen Gelände Afghanistans aber versagten sie vollkommen. Sie bockten, wenn sie Pässe überqueren sollten, scheuten steile, steinige Wege, selbst wenn sie Grasflächen und damit Nahrung versprachen. Zu allem Übel konnten sie die giftigen Pflanzen Afghanistans nicht von den harmlosen Gräsern unterscheiden. Ständig verdarben sich die Tiere die Mägen, manche starben daran. Esel und Maultiere wären für diese Expedition sicher die besseren Lasttiere gewesen. Manche Offiziere hatten neben ihren Parfümerien mit Windsor-Seife und Eau de Cologne, ihren riesigen Kleiderkoffern und Cricket-Schläger-Sammlungen, ganze Bibliotheken eingepackt. Das Regiment der 16. Lanzenreiter führten gar mehrere Rudel Hunde zur Fuchsjagd mit. Munition, Waffen und Marschverpflegung schienen Nebensache, und schon in der ersten Etappe dieses unglücklichsten aller britischen Feldzüge war der Proviant manchmal so knapp, daß sich die Truppe von in Schafsblut frittiertem Fell ernähren mußte, weil weit und breit nur Sand, Stein und Himmel, aber keine Stadt oder eine Siedlung zu sehen war.

Das Ziel der Karawane war Kabul. Der Weg führte durch Wüsten aller Art, über 4000 Meter hohe Berge und kaum passierbare, noch im Frühsommer vom Schnee verwehte Pässe. Doch der Gedanke an die Eroberung der afghanischen Metropole leuchtete den britischen Offizieren wie ein Fixstern über dem beschwerlichen Weg. Sie rechneten fest damit, den Russen in Afghanistan zu begegnen und träumten von glorreichen Schlachten.
Die Untertanen der erst fünf Jahre auf dem Thron sitzenden jungen Königin Victoria waren Krankheiten und Entbehrungen vom staubtrockenen, malariaverseuchten Dienst in Indien durchaus gewöhnt. Kabul stand dagegen in angenehmem Ruf. Wegen seiner Höhe haben Moskitos dort bis heute kaum eine Chance, die von den Ebenen heraufsteigende brütende Hitze wird vom Schnee in den Bergen auf angenehme Temperaturen heruntergekühlt. Trotzdem ist es im Winter zumindest tagsüber wegen der Höhensonne leidlich warm, nachts aber wird die Stadt wegen ihres beißenden Frosts gefürchtet. Der deutsche Journalist und Philosoph Friedrich Engels, ein Zeitgenosse der Königin Victoria und Kenner britischer Verhältnisse, beschrieb diesen von der Krone ins Visier genommenen Ort am Hindukusch mit folgenden trockenen Worten: "Kabul ist eine schöne Stadt, auf 34° 10? nördlicher Breite und 60° 43? östlicher Länge am Fluß gleichen Namens gelegen. Die Häuser sind aus Holz, reinlich und geräumig, und da die Stadt von schönen Gärten umringt ist, bietet sie einen sehr gefälligen Anblick. Sie ist von Dörfern umgeben und liegt inmitten einer weiten, von niedrigen Bergen umschlossenen Ebene."

Auf dem Subkontinent war die Armee der bei Ausbruch des ersten afghanisch-britischen Krieges gerade einmal 18jährigen Königin noch ungeschlagen. Bisher hatte England noch jede Partie im "Great Game", wie Rudyard Kipling das Schachern zwischen London und Moskau um die Vorherrschaft in Asien später nannte, gewonnen. Kabuls Lunte brannte, bereits am 25. April erreichten die britischen Soldaten Kandahar, eine Wüstenstadt im Herzland der Paschtunen, die keine Farben kennt und über die sich seit jeher ein stumpfes, totes Lehmbraun gelegt hat. Die roten Uniformen der britischen Soldaten müssen den Einheimischen wie ein Feuerwerk vorgekommen sein.

Seinen Namen hat Kandahar von Alexander dem Großen geliehen, der im Jahre 327 vor Christus dieses vornehmlich aus Sand, Schnee, Bergen und Höhlen bestehende Land auf dem Weg nach Indien durchquert hatte. Afghanistan in Besitz zu nehmen, schien dem Makedonier keine gute Idee. Was der legendäre Eroberer gar nicht erst versucht hatte, wagten im Sommer 1839 also die Briten. Nachdem die gegnerischen afghanischen Truppen unter Führung Scheich Dhost Mohammeds die Stadt Kandahar geräumt und den Eroberern kampflos überlassen hatten, ließ der militärische Befehlshaber William Keane eine Brigade zurück in der Stadt und zog weiter nach Ghazni, einer bis dato als uneinnehmbar geltenden Festung, 100 Kilometer südwestlich von Kabul. Die Briten nahmen auch Ghazni im Handstreich, nachdem ein Afghane Verrat geübt hatte. Die Angreifer sprengten ein unbefestigtes Stadttor und rückten am 22. Juli 1840 in euphorischer Stimmung ein. Beim Sturm auf die Stadt tat sich in der ersten Angriffswelle vor allem ein Offizier namens Robert Sale hervor, der mit seinen Reitern die Festung als erster stürmte und von einem afghanischen Verteidiger in einem Zweikampf verletzt wurde. Noch verwundet spaltete Sale dem Paschtunen mit seinem Säbel vom Schopf bis zu den Augenbrauen den Schädel.


Die Fahrt nach Angur Ada dauerte drei Tage. Irgendwo zwischen Gardez und Orgun hörte ich auf, die Schlaglöcher zu zählen. Die Asphaltstraße hatten wir längst verlassen, die Route führte uns über eine schlammige, braune Piste. Der Toyota-Geländewagen, den Ebadullah gemietet hatte, schaukelte wie ein Schiff auf hoher See. Ebadullah, ein junger, Englisch sprechender Kabuli, kannte den Weg, er hatte ihn einige Monate zuvor schon einmal mit einem Kollegen vom Time-Magazine gemacht und war für einen Tagessatz von 150 Dollar bereit, den gefährlichen Trip zu wiederholen.
Ich saß mittig auf der Rückbank und klammerte mich mit beiden Armen an den Haltegriffen fest, aber es gelang mir nicht, die tiefen Schlaglöcher auszubalancieren. Wir fuhren kaum schneller als 15, vielleicht 20 Meilen pro Stunde. In jeder Minute bekam ich von dieser dreckigen Piste drei, vier, fünf harte Schläge ins Rückgrat versetzt.
Rechts lagen Gipfel ungefähr 2000 Meter über der Hochebene. Das Weiß der Bergspitzen war die einzige Farbe, die sich von der Öde abhob. Die Steppe war schlammig, die Straße war schlammig, der Horizont war schlammig, die Wolken waren schlammig, und meine Gedanken waren inzwischen auch schlammig. Ich wollte nach Angur Ada, um eine Geschichte über die Attacken der Taliban auf Amerikaner und regierungstreue Truppen zu schreiben. Angur Ada war das Nest der Taliban, hieß es in Kabul. Die Stadt liegt genau auf der Grenze zu Pakistan, und wenn die Taliban auf afghanischem Terrain ein paar Leute umgebracht oder irgendein Gebäude in die Luft gesprengt hatten, zogen sie sich wieder hinter die Grenze zurück.

Ich kannte Afghanistan schon ganz gut. Ich hatte die zerstörten Buddhas von Bamian besichtigt, war in die entlegene, umkämpfte Stadt Khost gereist. Im Norden war ich, ein Tuch vor Mund und Nase, über die Killing Fields von Shibargan gelaufen; einer Wüste voller menschlicher Knochen und Schädel: Überreste eines Massakers, das Angehörige der Nordallianz an Taliban verübten, nachdem diese sich ergeben hatten. Ich hatte die Händler von Herat kennengelernt und chagallblaue Miniaturen aus Lasurstein bei ihnen gekauft, Löwen, Panther und Kamele, die vor 100 Jahren einmal afghanische Kinder besessen hatten - zu einer Zeit also, als es noch keine Landminen gab und deshalb auch keine Gefahr bestand, daß einem kleinen Jungen beim Fußball oder Versteck spielen einen Fuß oder ein Bein abgerissen wird.
Ich glaubte, mich inzwischen ganz gut zurechtzufinden in diesem Land, das 23 grauenhafte Kriegsjahre hinter sich hatte, und von dem ich am Anfang nur wußte, daß man es seiner Geographie wegen gar nicht erobern kann. Angur Ada war noch etwa 20 Fahrtstunden weit weg, aber ich fühlte mich bereits wie diese eintönige, einschläfernde, baumlose, freudlose, leere Landschaft. Ich öffnete ein Fenster, weil mir nach Frischluft war. Die Kälte tat gut, sie belebte mich, doch Ebadullah sagte, ich solle das Fenster lieber wieder schließen, da man uns sonst vielleicht eine Handgranate in den Wagen werfen würde. Ich zog genervt die Augenbrauen hoch und sagte: "Hier ist doch weit und breit niemand!" Ebadullah antwortete: "Du siehst bloß niemand. Vor zwei Wochen haben sie das Auto einer australischen Journalistin attackiert." Sie habe ein Bein verloren und sei noch immer schwer verletzt. "Wo war das?", fragte ich. "Hier", sagte Ebadullah. Ich kurbelte das Fenster wieder hoch.



Während des Angriffs auf die auf einem Hochplateau liegende Festung von Ghazni verloren die Briten nur 17 Mann. Über den Blutzoll der getöteten Verteidiger liegen keine Angaben vor, die Afghanen zählten ihre Toten nicht. Die Briten hingegen führten über die Verluste ihrer Armee eine strenge Chronologie; Name, Alter, Rang, Datum und Ort des Todes der Offiziere des ersten Afghanistan-Feldzuges finden sich nicht nur in Londoner Militärarchiven, sondern auch als Anhang in Sachbüchern, im Internet und in Gedenkhallen.
Robert Sale galt nicht gerade als der größte Feldherr aller Zeiten; die Londoner Militärgeschichtsschreibung hebt seine mangelnden strategischen Fähigkeiten in geradezu unbritischer Weise hervor. Aber Mut hatte er. Noch am Tag der Eroberung Ghaznis wurde er zum Generalmajor befördert und war nun neben Keane der zweithöchste Offizier auf dem Weg nach Kabul. Die Armee von Dhost Mohammed zerstreute sich nach dieser Niederlage in alle Winde, am 6. August fiel kampflos Kabul. Die "Army of the Indus" hatte einen glänzenden Sieg errungen, jedenfalls sah es ein knappes Jahr lang so aus.
Der den Briten gewogene Stammesfürst Schah Schudjah wurde nun planmäßig an die Macht gebracht. Sein Clan hatte den Thron 30 Jahre zuvor an Dhost Mohammed durch einen Putsch verloren, von Rechts wegen stand ihm die Krone also zu. Andererseits wurde die Frage, wer im Palast wohnt, in Kabul meistens durch Gewehrläufe oder Krummsäbel und weniger über die Erbfolge entschieden. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob Afghanistan, das seine Grenzen im 18. Jahrhundert zeitweilig bis in den Panjab ausdehnen konnte, nicht sogar eine Vormachtstellung in Südasien hätte spielen können, wenn die unterschiedlichen Clans sich nicht ständig untereinander bekämpft hätten. Doch in der Regel waren die Afghanen in der Geschichte damit beschäftigt, Eroberer zu massakrieren oder sich gegenseitig umzubringen.

Die Briten schickten im Sommer 1841 einen großen Teil ihrer Truppen, in der irrigen Annahme, man werde so viele Soldaten im sommerfrischen Kabul gar nicht brauchen, zurück in ihre Garnisonen nach Indien. In Kabul ließ es sich leben. Die Besatzer amüsierten sich bei Pferderennen, organisierten große Jagdausflüge, bei denen Hirsche und Raubkatzen erlegt wurden; abends traf man sich bei Amateurtheater-Vorführungen, in denen Offiziere und ihre Gattinnen Shakespeares Sommernachtstraum gaben. Als besondere Ehre galt es, zu einem Abendsalon bei Lady Florentia Sale eingeladen zu werden; der Gattin des Helden von Ghazni. Lady Sale, eine mütterlich wirkende Engländerin in ihren Vierzigern, die ihrem Mann bereits nach Mauritius und Burma gefolgt war, galt als "größter Fisch im nicht sehr großen Karpfenteich" der besseren Kabuler Gesellschaft, wie ein britischer Militärhistoriker viel später einmal bemerkte. Das Haus der Sales hatte einen schönen Garten mit Maulbeerbäumen und Kiefern, abends reichte man "Champagner, weißen Rheinwein, Madeira, Sherry, Portwein, Bordeaux, Sauterne, nicht zu vergessen ein Glas Curaçao und Maraschino. Zu essen gab es Lachs und Eintopf", notierte ein Gast des Hauses.

Teil 2